Über Bundeswehrsoldaten in Afghanistan

Ratlos an der Heimatfront

Das Bild des Bundeswehrsoldaten, der Brunnen gräbt und Schulen baut, weicht allmählich der Realität.

Noch bis vor kurzem wurden im deutschen Feldlager von Mazar-e-Sharif bedruckte T-Shirts der besonderen Art verkauft, wie der Spiegel berichtete: Sie zeigten zwei brennende Tanklaster, versehen mit dem biblischen Gebot »Thou shalt not steal« – zu Deutsch: »Du sollst nicht stehlen«. Mit »Kollateralschäden«, wie sie beim Einsatz der Bundeswehr im Ausland bisweilen zu verzeichnen sind, scheint man dort, anders als in der Politik, wenig Probleme zu haben.

Der Ablauf der Ereignisse erinnert stark an ein absurdes Theaterstück: Am 4. September befahl Oberst Georg Klein, Kommandeur der deutschen Besatzungstruppen im nordafghanischen Kunduz, einen Luftangriff auf zwei von Taliban geraubte Tanklastzüge. Die LKW steckten zu diesem Zeitpunkt seit Stunden in einem ausgetrockneten Flussbett fest; Isaf-Einheiten, die die Lage hätten einschätzen können, waren nicht in der Nähe. Während aus Washington, London und Paris bereits kurze Zeit später zu hören war, dass bei der Attacke auch viele Zivilisten getötet wurden, die sich nach Aufforderung der Taliban an dem günstigem Sprit bedienen wollten, verbat sich Bundeskanzlerin Angela Merkel jegliche Kritik am Vorgehen der Bundeswehr – »im In- wie im Ausland«.
Franz Josef Jung, zu diesem Zeitpunkt noch Bundesverteidigungsminister, lieferte via Bild am Sonntag die Begründung: »Durch sehr detaillierte Aufklärung über mehrere Stunden durch unsere Kräfte hatten wir klare Hinweise darauf, dass die Taliban beide Tanklastzüge circa sechs Kilometer von unserem Lager entfernt in ihre Gewalt gebracht haben, um einen Anschlag auf unsere Soldaten in Kunduz zu verüben.« Die Bombardierung der LKW sei daher »dringend geboten« gewesen. Oberst Klein nutzte das gleiche Medium wie der Minister, um zu erklären, dass er die von ihm angeforderte »Luftunterstützung« gut »vor seinem Gewissen verantworten« könne. Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan stellte sich demonstrativ vor seinen Untergebenen, wobei er nicht auf die lapidare Bemerkung verzichten mochte, dass es »eben nie leicht« sei, »Zivile und Nichtzivile zu unterscheiden«.

Im Bundestagswahlkampf spielte der mörderische Bombenangriff so gut wie keine Rolle – sieht man von einigen schlichten Plakaten der Linkspartei mit der Parole »Raus aus Afghanistan« einmal ab. Am 6. November bezeichnete Jungs Nachfolger im Amt des Verteidigungsministers, Karl-Theodor zu Guttenberg, den »Luftschlag« als »militärisch angemessen«. Zwar habe es »Verfahrensfehler durch Ausbildungsmängel« und »verwirrende Einsatzregeln« gegeben, dies ändere jedoch nichts an seiner Einschätzung.
Drei Wochen später schien dann alles anders zu sein. Bild zitierte einen Bericht der deutschen Militärpolizei (Feldjäger), demzufolge die von den Alliierten der Nato bereits im September erhobenen Vorwürfe allesamt zutreffen: Das Bombardement von Kunduz habe zahlreiche zivile Opfer gefordert, darunter etliche Jugendliche; die Aufklärungsbilder, die von US-Flugzeugen vor dem Angriff geliefert worden seien, hätten keine Unterscheidung von Zivilisten und Kombattanten zugelassen; Feind- bzw. Sichtkontakt zu den geraubten Tanklastern habe nicht bestanden, hieß es plötzlich. Da Minister Jung der Feldjäger-Report vorgelegen habe, müsse er sich fragen lassen, ob er bewusst »die Wahrheit verschwiegen« habe, wie das Blatt schrieb.
Davon, dass dem so war, zeigte sich der neue Verteidigungsminister Guttenberg sofort überzeugt. Er entließ Generalinspekteur Schneiderhan und den Staatsekretär im Verteidigungsministerium, Peter Wichert; Jung trat wenig später von seinem gerade erst übernommenen Amt des Arbeitsministers zurück. Der Verteidigungsausschuss des Bundestages erklärte sich zum Untersuchungsausschuss; gemeinsam wollen Opposition und schwarz-gelbe Koalition nun die »Informationspolitik« des Ministeriums unter die Lupe nehmen. Man werde die Umstände des Luftangriffs von Kunduz »lückenlos aufklären«, ließ Kanzlerin Merkel wissen. Man darf gespannt sein auf das Ergebnis, wurden doch inzwischen Details gemeldet wie jenes, dass die US-amerikanischen Jagdbomber gleich fünfmal vorgeschlagen hatten, die Menschen in dem Flussbett bei Kunduz mit Tiefflügen zu warnen. Das habe der Fliegerleitoffizier von Oberst Klein nach Informationen des Spiegel abgelehnt.

Unterdessen meldeten sich nach und nach deutsche Militärs zu Wort. Den Anfang machte Michael Wolffsohn von der Münchener Bundeswehr-Universität. In einem Interview mit der Welt gab er einmal mehr den Experten für »asymmetrische Kriegführung«: »Es war von Anfang an klar, dass es zivile Opfer bei jenem Angriff auf die Taliban-Partisanen gegeben haben muss. Jeder, der auch nur ein bisschen den Partisanenkrieg kennt, weiß: Partisanen gebrauchen immer und überall das eigene Zivil als Versteck und Rückzugsbasis. Sie missbrauchen das eigene Zivil als Schutzschild. Das bedeutet: Neben jedem Partisan steht mindestens ein Zivilist. Der Partisan ist nicht als Soldat, der er faktisch ist, erkennbar. Der Partisan trägt keine Uniform.« Dass die Bundeswehr in Folge des Luftangriffs von Kunduz mit einem »schlechten Image« zu kämpfen habe, liege einzig daran, »dass weder die deutsche Politik noch die Bundeswehrführung der deutschen Öffentlichkeit das Wesen des Partisanenkriegs erklärt hat«, so Wolffsohn: »Zivile Opfer durch eigene Soldaten verunsichern jede Heimatfront.«
Ganz ähnlich argumentierte Johann-Georg Dora, der stellvertretende Generalinspekteur der Bundeswehr, im Gespräch mit der Zeit. Das »Bild des Brunnen bauenden Soldaten« werde »der Realität nicht gerecht«, ließ er wissen: »Ein Soldat ist ein Spezialist für Sicherheit, nicht für Landschaftsplanung. Und für die Sicherheit kämpft er mit militärischen Mitteln, das heißt, wenn es nötig ist, übt er militärische Macht aus.« Bereits im Krieg gegen Jugoslawien 1999 hätten deutsche Tornados insgesamt 250 Raketen auf serbische Radarstellungen abgefeuert, und auch in Afghanistan müssten die Soldaten jeden Tag davon ausgehen, zu töten und getötet zu werden, erklärte Dora. Deshalb sei »heute wie damals« die »Unterstützung an der Heimatfront« besonders »wichtig« – ansonsten fühlten die Soldaten sich »von der Öffentlichkeit im Stich gelassen«. Mit Generalinspekteur a. D. Harald Kujat sind sich Dora und Wolffsohn darin einig, dass es in Afghanistan mehr deutsches Militär braucht: Das »Verhältnis zwischen Kampftruppen und Unterstützungstruppen« müsse »zunächst mal zu Gunsten von Kampftruppen verändert werden«, sagte Kujat dem Deutschlandfunk.

Die deutsche Politik hingegen scheint einmal mehr hinter den Forderungen der Generalität zurückzubleiben. Zwar verlängerte der Bundestag mit großer Mehrheit am vergangenen Donnerstag das Afghanistan-Mandat der Bundeswehr, zu Äußerungen über das Wesen des Partisanenkampfes oder eine Aufstockung der Truppen mochten sich die Parlamentarier jedoch nicht hinreißen lassen. Verteidigungsminister Guttenberg brachte gar das Kunststück fertig, den Luftangriff von Kunduz nach vorangegangener »Neubewertung« als »militärisch nicht angemessen« zu bezeichnen und zugleich den verantwortlichen Oberst Klein zu verteidigen. In Anbetracht der »Trauer um eigene gefallene Kameraden«, der »zunehmenden Gefechte« und »kriegsähnlichen Zustände« in der Region Kunduz und der »Sorge um den Schutz der deutschen Soldaten« habe er »volles Verständnis« für Kleins Handeln, sagte der Minister.
Großes Verständnis bringen auch die in Afghanistan eingesetzten Bundeswehrangehörigen ihrem Oberst entgegen, wie etwa die bereits erwähnten T-Shirts zeigen. Während sich die Soldaten also offenbar ganz wohl in ihrer Täterrolle fühlen, wäre es den im Bundestag vertretenen Parteien mit Ausnahme der »Linken« wohl am liebsten, wenn Deutschlands afghanische Verbündete den schmutzigen Krieg gegen die Taliban mehr oder weniger alleine führten – zumindest ließen sich die ständig wiederholten Forderungen nach einer Verstärkung der deutschen »Aufbauhilfe« für die afghanischen Polizei- und Streitkräfte mühelos so interpretieren.