Über den Film »Avatar«

Alltag eines Avatars

Der Happy-Family-Weihnachtsfilm kommt dieses Jahr von »Terminator«- und »Titanic«-­Regisseur James Cameron. Er heißt »Avatar – Aufbruch nach Pandora« und will unter Einsatz eines Budgets in Höhe der Kosten eines durchschnittlichen Überfalls der US-Armee auf ein mittelgroßes Land das Kino neu erfinden.

Wie bei allen großen Filmen steht die Bildung und Rettung der irgendwie gearteten Familie im Zentrum. Und wie bei allen Verfilmungen von Computerspielen ist »Avatar« ein weiterer Versuch, das abtrünnige Familienmitglied, den Jugendlichen, vom Rechner wegzukriegen, um ihn mit Hilfe des Kino-Großereignisses wieder ins Familienleben zu integrieren.
»Avatar«, das soll »Matrix« mit anderen Mitteln sein: Soldat Jake (Sam Worthington) soll einen Spezialauftrag durch eine zweite Natur, einen Avatar, erfüllen. Mittels ausgefeilter Technik schlüpft er in den unglaublich intakten, fast vier Meter großen Körper eines Bewohners des Mondes Pandora. Groß, schnell und kräftig ist er nun – alles was der junge Kriegsversehrte nicht mehr sein kann.
Schläft Jakes Avatar, dann kehrt der müde Kämpfer in einen hässlichen Computersarg zurück, der in der Röhre eines Computertomografen steht. Dann ist Jake wieder, was er ist: ein ausgemusterter Soldat mit zerstörten Beinen.
Der Typus des Computer-Nerds tritt in »Avatar« mächtig angeheldet und sehr legitimiert auf, ein Update aller Problemjugendlichen: Der Jake des Jahres 2154 ist Anfang 20; der das Zeug zum Übermenschen hat, ist zunächst ein gebrochener Mensch, durch eine Kriegsverletzung ist der Soldat querschnittsgelähmt. Nun soll er im Auftrag der US-Marines als Spion die Urbevölkerung des Mondes übertölpeln. Denn die an ihre Umgebung extrem gut angepassten Mondbewohner wollen dem Erdenprojekt nicht weichen. Und ausgerechnet dort, wo ein 300 Meter hoher Baum steht, in dessen hohlen Ästen einer ihrer Stämme lebt, da liegen auch die wichtigsten Vorkommen und Rohstoffe, auf die es die Menschen abgesehen haben. Weil die ihre eigenen Ressourcen komplett verfressen haben.
Inhaltlich stehen also die Mittelschichtsthemen Ökologie und ausgleichende Gerechtigkeit auf der Speisekarte. Und man erlebt auch eine äußerst raffgierige Sorte Mensch: Der Stützpunktleiter (Giovanni Ribisi) denkt nur an die Shareholder und den Börsenkurs. Der diensthabende Oberst (Stephen Lang) macht auf brutale Wurst und vertraut seinem Maschinenpark aus fordistischen Waffen. Die Soldaten sind sadistische Vollidioten. Die Wissenschaftlerin (Sigourney Weaver) hat ein gutes Herz. Die Hubschrauberpilotin (Michelle Rodriguez) opfert ihr Leben für die total guten Mondbewohner.
Natürlich die Love Story: Jake verliebt sich in Neytiri (Zoë Saldana), die schöne blaue und zipfelohrige Tochter des Indianer-Häuptlings, dessen Verein auf den Namen Na’vi hört – vermutlich eine Anspielung auf die US-Navy, den natürlichen Fressfeind der Marines.
Die zweite Geburt eines Lebewesens bestehe darin, seinen Platz im Volk zu finden, heißt es im Film einmal. Starke Worte – die Jake das Lager wechseln lassen. Er ist der natural born Führer, dem nach ein paar Prüfungen die Ureinwohner zu Füßen liegen. Es ist die Geschichte des guten Jungen, der die bösen Kapitalistenknechte verjagt – der Rührungsfaktor ist wahrlich nicht zu unterschätzen.
Dieser Film ist ein klassischer Hollywood-Bildungsroman, von einem, der auszog, das Universum zu erobern und vom Saulus zum Paulus wird. Der verstörte Junge versöhnt sich mit seiner Umwelt und wird vom Volk prompt an die Spitze gehoben – wer lebt diese Visionen im Ego Shooter nicht genau so?
»Ihr seid dumme Kinder!« flucht Häuptlingstochter und Liebes-Hauptgewinn Neytiri. Und das Wunder geschieht: Neytiri kommt Jake in der echten echten Realität – nicht der echten der Avatare – besuchen. Und rettet so das Kind vor dem Bösen und vor sich selbst.
Die Figuren des Avatar-Alltags besuchen den Spieler in seiner beschränkten Wirklichkeit, um ihn zu sich zu holen. »Aufbruch nach Pandora«, wie es der Titel verheißt, bedeutet: nach Hause kommen. Daher versteht »Avatar« überhaupt keinen Spaß in Sachen Rollenerwartungen, Heldenmythologie oder gar Bewusstseinserwei­terung.
Ausnahmen bestätigen die Regel: In einer Szene, die nichts zu tun hat mit der Fantasy-Welt, sitzen die Abtrünnigen in einer kahlen Gefängniszelle. Jake in seinem Rollstuhl, zwei desillusionierte Wissenschaftler – ratlose Menschen. Hier ist die Optik kahl, man befindet sich quasi im Auge des Films, außerhalb aller Animationen. An keiner Stelle des Films machen die Schauspieler einen besseren Eindruck als in der Szene in der Zelle. Warum? Sie tun einfach mal nichts.
Ähnlich menschliche Szenen – vielleicht, dass sich mal einer am Kopf kratzt – gibt es in diesem Märchen für Erwachsene leider wenige.
»Avatar«, das soll der Film für die ganze Familie sein; die ohnehin fragile Mittelschicht, die die Zielgruppe bilden dürfte, soll nicht verstört werden. Das schließt auch den Nachwuchs mit ein. Dass der Film schon aus Kostengründen auch für Minderjährige konsumierbar sein muss, bedingt eine gewisse Humorlosigkeit.
Dies wirkt sich auch auf andere Sektoren aus: Ausgerechnet ein technisch beschlagener Visionär wie Cameron lässt den interstellaren Maschinenpark der Menschen entsetzlich langweilig daherkommen. Das Roboterpersonal der neunziger Jahre läuft hier auf, es gibt wenige Überraschungen. Und: Nein, man mag es dem Film nicht abnehmen, dass die menschliche Invasionsarmee so konventionell daherkommt und Sprengstoff mit der Hand abwerfen muss. Der Feldzug soll natürlich eine harsche Kritik an der gegenwärtigen Kriegsführung sein.
Vielleicht ist es so: Mit »Avatar« soll das Kino eine ganze Welt erfinden. Und da liegen wohl die Stärken: Der Film liefert unglaubliche Ansichten einer phantastischen Welt. Dafür wurden gar neue Kameras erfunden, die in Computerkulissen filmen können.
Man hat Tiere und Blumen neu designt, zeigt bioenergetische Kommunikations- und Lebensadern, ein Aufgehen der Lebewesen in der sie umgebenden Welt. Der Wald leuchtet, das Gras steht unter Strom, die Tiere haben Schnittstellen. Die Felsen schweben in der Luft, und jeder ist mit jedem Freund. Pandora, das ist eine angenehme Welt, in der die Lichtquallen und Drachen durch die Luft segeln, wo es Glühwürmchen regnet und die Toten in Bäumen voller Leuchtstoffröhren wohnen. Ja, es gibt Bilder, die gab es noch nicht. Eine echte Science-Fiction-Welt: Wozu braucht es eine Handlung mit Menschen? Der erste Kinofilm der Geschichte hatte beides nicht – er zeigte eine heranrasende Eisenbahn. Das Kino der Brüder Lumière war am Ende des 19. Jahrhunderts eine Jahrmarktsattraktion.
Jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ist es das wieder, nur im neuen Format – vielleicht als Movie-App fürs iPhone. Mehr als eine wahrscheinlich sehr erfolgreiche technische Fußnote der Filmgeschichte ist »Avatar« damit wohl leider nicht.

»Avatar – Aufbruch nach Pandora«. Regie: James Cameron, Darsteller: Sam Worthington, Sigourney Weaver, Zoë Sal­dana, Stephen Lang u.a. Start: 17. Dezember 2009