Karl Heinz Roth, die Krise und der Marxismus

Die Krise steckt in der Krise

Der Sozialwissenschaftler Karl Heinz Roth macht sich daran, die aktuelle Krise marxistisch aufzuarbeiten.

Seit Marx’ Studien zur ersten globalen Krise des Kapitalismus, die er in der New York Daily Tribune 1857 veröffentlichte, hat die Krisentheorie im Marxismus insbesondere in seinen dissidenten Strömungen immer Konjunktur gehabt. Im Prinzip geht es dabei stets um die Frage nach dem Zusammenhang von Krise und Revolution, ersatzweise auch die nach dem Zusammenbruch des ganzen Systems. Marx hatte bereits im Jahre 1850 aus Anlass der Auswertung der Revolutionsereignisse von 1848 den Takt für ganze Generationen marxistischer Theoretiker vorgegeben. »Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis«, so Marx, der dies noch mit dem ihm eigenen Geschichtsoptimismus teleologisch zu ergänzen wusste, denn sie, die Krise, sei »auch ebenso sicher wie diese«, die Revolution.
Bisher haben jedoch alle globalen Krisen, insbesondere auch die große Weltwirtschaftskrise von 1929, die Hoffnungen auf einen Zusammenbruch oder auf einschneidende Veränderungen enttäuscht, einen Abschied von der Revolutionsromantik aber nicht bewirkt, wenn auch die Emphase in den derzeitigen Diskussionen stark nachgelassen hat. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis einer der wichtigen marxistischen Theoretiker eine Monografie zur aktuellen »Finanzkrise« vorlegen würde. Nach zwei Studien des mittlerweile eher dem linkskeynesianischen Spektrum zuzurechnenden Joachim Bischoff und einer Vielzahl von Aufsätzen diverser Autoren hat nun Karl Heinz Roth diese Aufgabe übernommen.
Dass Roth, in den Siebzigern Frontmann des deutschen Operaismus und seitdem gewichtigster sozialrevolutionärer Sozialhistoriker, seinen Krisenanalyseansatz in dem von Marx vorgegebenen Koordinatensystem angesiedelt hat, verdeutlicht der Autor auch mit seiner Veröffentlichungspolitik. »Die globale Krise«, so der Titel des vorliegenden Bandes, ist nur der erste analytische Teil, auf den mit dem Band »Das Multiversum: Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven« ein zweiter, strategischer Teil folgen soll. Vorüberlegungen und erste zusammenfassende Thesen dazu hatte Roth bereits in dem Aufsatz »Globale Krise – Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven« im Jahr 2008 vorgelegt, der auf der Homepage der Zeitschrift Wildcat (www.wildcat-www.de) nachzulesen ist.
Um es vorwegzunehmen: Das Buch ist trotz oder vielleicht sogar wegen der vielen interessanten Aspekte, die von Roth berücksichtigt werden, kein großer Wurf geworden. Das mag auch daran liegen, dass sich Roth nur wenig Zeit gelassen hat, publizistisch auf die Krise zu reagieren. Von vielen Linken sehnsüchtig erwartet, besteht das Buch eher aus verschiedenen Fragmenten, als dass es eine durchgängige Dramaturgie besäße. Die ersten fast 150 Seiten des Buches bilden eine Chronik der Ereignisse – vom Ausbruch der Hypothekenkrise bis hin zum derzeitigen Krisenmanagement. Roth liefert keine Einordnung, outet sich aber als fleißiger Leser der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) (aus dem Schweizer Blatt stammen fast alle Informationen). In einigen Jahrzehnten wird man Roth wahrscheinlich dankbar für diese Chronologie sein, im Moment aber wirkt es ermüdend, wenn auf rein deskriptiver Ebene überwiegend Bekanntes ständig wiederholt wird.
Demgegenüber ist der zweite Teil, der sich mit dem Akkumulationszyklus zwischen 1966/67 und dem Beginn der aktuellen Krise auseinandersetzt, nicht nur historisch, sondern auch theoretisch eingeklammert. Roth bezieht sich auf den in den linken Debatten in Vergessenheit geratenen russischen Ökonomen Nikolai Kondratieff. Dessen Theorie der »langen Wellen« – also von 40 bis 60 Jahre währenden relativ stabilen und in sich geschlossenen Phasen, die durch eine schwere Erschütterung an ihr Ende geraten und neuen Produktionsregimes Platz machen – nutzt Roth, um die Vorgeschichte der globalen Krise aufzuarbeiten. Als Kennzeichen dieses Zyklus analysiert er so unterschiedliche Phänomene wie die mit dem »Generationenwechsel von 1968 entstandenen neuen Bedürfnisse und Mentalitäten, ihre Einverleibung in ein Modell der ›strategischen Unterbeschäftigung‹, die Einführung technologischer Innovationen, die Expansion des Weltmarkts und den Ausbau der internationalen Arbeitsteilung, die Globalisierung der Finanzmärkte, die Exploitation der Nationalökonomien des Südens, die Weltwirtschaftsachse Washington-Peking und die zunehmende Zerstörung der Ökosysteme«. Auch wenn der innere Zusammenhang so verschiedener Phänomene nicht immer klar wird, so entsteht ein differenzierteres Bild als etwa das, das Robert Brenner oder Naomi Klein von der »neoliberalen Konterrevolution« gezeichnet haben.
Anders als bei Bischoff oder auch Brenner, die sich vor allem auf die durch Sozialabbau und sinkende Löhne eingebrochene Nachfrageseite fokussieren, erblickt Roth hinter der Finanzkrise eine für die Beendigung der »langen Welle« typische Überakkumulationskrise. Allerdings, so Roth, sei diese auch »mit einer massiven globalen Unterkonsumtion« einhergegangen, hervorgerufen durch die Senkung der Masseneinkommen, die unter den Produktivitätssteigerungen befindliche Anhebung der Lohnniveaus in den Schwellenländern und die zunehmende Massenarmut in den Ländern des Südens.
Der Band schließt mit einem überaus spannenden Vergleich zwischen der aktuellen Krise und den bisherigen globalen Krisen der Kapitalakkumulation. Vor allem der im Vergleich zur Weltwirtschaftskrise von 1929 »flachere Verlauf« der Krise sowohl im Hinblick auf die wirtschaftlichen wie auch auf die sozialen Auswirkungen wird von Roth dafür verantwortlich gemacht, dass die Verhältnisse derzeit als so stabil erscheinen. Erstaunlich ist für ihn der relativ milde Verlauf insofern, als in der Chronologie der bisherigen Krisen die Verwerfungen immer schwerer geworden seien. Ob aber das supranationale Krisenmanagement und die Bereitschaft der Industrieländer zu riesigen Konjunkturpaketen als entscheidende Faktoren der relativen Stabilität aufrechtzuerhalten sind, bezweifelt Roth genauso wie die meisten Kommentatoren.
Hier entsteht der Übergang zum zweiten Band. Ob die Krisenkosten auf das Multiversum der Unterklassen – ein Begriff, den Roth in dem mit Marcel van der Linden herausgegebenen Buch »Über Marx hinaus« entwickelt hat – abgewälzt werden, hänge entscheidend davon ab, ob dieses Multiversum aus klassisch doppelt freien Lohnarbeitern, Hausfrauen, Subsistenzbauern und den in sklavereiähnlichen Verhältnissen Gefangenen zu einem gemeinsamen Projekt des Widerstandes finden könne. Nicht nur der Begriff, der in seiner Konsequenz doch sehr an die Bündnisse von Arbeitern und Bauern oder aber die Konzepte der »antimonopolistischen Demokratie« erinnert, zeigt, wie verzweifelt die radikale Linke und mit ihr einer ihrer wichtigsten und verdienstvollsten Intellektuellen inzwischen ist. Auch die strategischen Optionen der Emanzipation, die Roth in seinem Ausblick bietet, lassen Schlimmes erahnen. Die »Weltföderation der Autonomie«, quasi die additive Avantgarde des Multiversums, solle sich ausgerechnet darum kümmern, ein neues festes Wechselkurssystem zu initialisieren und als Kampfbünde die Gewerkschaften, insbesondere in der Krise na­tionale Stabilisierer der kapitalistischen Staaten, demokratisch zu erneuern. Wo so wenig an Emanzipation vorscheint, sollte sich immerhin die letzte Hoffnung auf die Krise als Revolutionskatalysator erledigt haben. Vielleicht setzt die »Weltföderation« daran dann an.

Karl Heinz Roth: Die globale Krise. VSA-Verlag, Hamburg 2009, 333 S., 22,80 Euro.