Ein Vortrag erinnert an den Afrika-Forscher Paul Graetz

Ein fauler Apfel für Mercedes

Vor 100 Jahren fuhr er mit dem Auto quer durchs koloniale Afrika – ein Vortrag erinnert an den Oberlausitzer Afrika-Forscher Paul Graetz, der zuvor als Oberleutnant die deutschen Schutztruppen in Deutsch-Ostafrika befehligte.

Der Platz vorne neben dem Rednerpult ist liebevoll hergerichtet wie ein kleiner Altar. Die garantiert original afrikanischen Utensilien, mit denen er ausstaffiert ist, reichen von getrocknetem Hyänenkot über eine sorgsam verschlossene Dose, in der sich Pfeilgift befinden soll, bis zum echten Brautgewand, an dem auch gerne geschnuppert werden darf. An der Wand hängen zwei riesige Bilder. Auf dem einen ist in überdimensionaler Größe das neue Prunkstück der namibischen Post abgebildet, eine Briefmarke, auf der eine Art Vorläufer des modernen Geländewagens zu sehen ist, besetzt mit vier Männern. Die beiden Männer mit Tropenhelmen vorne sind weiß, der Koch und der »Boy« hinten sind schwarz. Auf dem anderen Bild ist der afrikanische Kontinent skizziert, geschmückt mit dem Antlitz von Paul Graetz, der einmal Oberstleutnant der deutschen Kolonialtruppen in Deutsch-Ostafrika war; zwei Fahrtrouten, die quer durch die südliche Hälfte des Kontinents führen, sind eingezeichnet.

Hier gedenkt offenbar ein Verehrer seines Idols – oder ein gewitzter Geschäftsmann hofft auf neue Einkommensquellen. Carsten Möhle, der im Ale­xander-von-Humboldt-Haus im Berliner Stadtteil Steglitz einen Vortrag hält und für die Installation verantwortlich ist, ist Reiseveranstalter für Individualreisen im südlichen Afrika, quasi auf den Spuren von Paul Graetz.
Die Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, in deren Räumlichkeiten für den Abend des 4. Dezember zu einem Vortrag geladen wurde, der den vielversprechenden Titel »Paul Graetz (1875–1968): ein Abenteurer als Afrikaforscher« trägt, stellt einer ihrer Vertreter als immerhin zweitälteste geografische Gesellschaft der Welt vor. Der Vertreter der Deutsch-Namibischen Gesellschaft, Sektion Berlin-Brandenburg, zeigt sich davon sehr beeindruckt und datiert das Alter der eigenen Gesellschaft auf vergleichsweise bescheidene 30 Jahre. Unter den Zuschauern finden sich überwiegend ältere Männer, die Hautfarbe aller Anwesenden ist weiß – nur der Teint ist hier und da leicht gebräunt, vielleicht vom letzten Safari-Urlaub.
Paul Graetz, der als Oberstleutnant in Deutsch-Ostafrika »meist in weißer Uniform auf dem Ze­bra« herumritt, wie Spiegel Online berichtete, verließ um das Jahr 1905 seine Truppen, um abenteuerliche Reisen quer durch Afrika zu unternehmen, eine mit dem Auto und eine mit dem Motorboot. Vor ziemlich genau 100 Jahren tuckerte der 1875 bei Zittau in der Oberlausitz geborene Graetz in jenem auf der Briefmarke abgebildeten, eigens aus dem Deutschen Reich herbeigeschifften Geländewagen als erster Mensch von Daressalam im heutigen Tansania bis nach Swakopmund im heutigen Namibia, damals Deutsch-Südwestafrika. Er wollte nach eigenen Angaben »das Automobil als Lasten- und Personentransportmittel in Afrika, speziell in Deutsch-Ostafrika, auf seine Verwendbarkeit im schwarzen Erdteil erproben und später dort einführen«. 630 Tage dauerte der Spaß. Eingeborene halfen bei Schwierigkeiten »für ein paar Glasperlen« (NDR).

Carsten Möhles Reiseunternehmen »Bwana Tucke-Tucke« hat seinen Hauptsitz in Windhoek, Namibia. Er gibt mit seiner eher legeren, sandfarbenen Outdoorbekleidung inmitten der überwiegend seriös angezogenen älteren Herren ein authentisches Bild ab. Den Namen seines Unternehmens entlehnte er der Bezeichnung, die die Afrikaner und Afrikanerinnen ­Graetz und seinem lauten Gefährt gaben, dem aus Gewichtsgründen ein schalldämpfender Auspuff fehlte. Schließlich galt es ja, erst noch zu konstruierende Hängebrücken zu überqueren, unter denen sich die Krokodile nur so tummelten.
Für Abenteuer ist also gesorgt an diesem Abend, da darf das sicher nicht ganz ungebildete Publikum auch mal schmunzeln, wenn der Redner zweimal nicht um das böse N-Wort herumkommt, es aber mit betont weichem und lang gezogenem »sch« statt des »g« gekonnt ironisch abzuschwächen versteht. Man ist unter sich, da geht so was.
Aber ganz leicht scheint man es Möhle, der wie der Vertreter der Deutsch-Namibischen Gesellschaft die meiste Zeit des Jahres in Namibia lebt, im angeblich so sehr um die Aufarbeitung seiner Vergangenheit bemühten Deutschland nicht zu machen. Da kommt auch schon die Nachfrage, wie denn die dunkelhäutige Bevölkerungsmehrheit des südwestafrikanischen Landes auf die von ihm initiierte Briefmarke reagiere. Seine Antwort lautet, dass die Marke ein absoluter Verkaufsschlager sei und die begeisterte Rede des schwarzen Post­angestellten unmöglich in Deutschland wiedergegeben werden könne. Die Bücher von Graetz, in denen er seine Reisen verewigte, seien im Vergleich zu denen seiner Zeitgenossen »harmlos« – was auch immer das genau heißen mag und was hier offenbar sowieso kaum jemanden interessiert, im Gegensatz zu den technischen Daten des aufregenden Gefährts. Und außerdem gebe es auf der Marke ja den schwarzen Koch zu sehen, auf den Graetz so große Stücke gehalten habe.
Wie die Meinungsbildung in einem Land wie Namibia vonstatten geht, wo die Deutschen zur Zeit von Graetz’ Reisen einen Völkermord verübten und wo auch heute noch die weißen Deutschstämmigen neben einer kleinen, nachkolonialen schwarzen Oberschicht den höchsten Lebensstandard pflegen, sagt Möhle nicht.

Dass ihm aber die Daimler AG, deren Vorgänger­unternehmen damals Graetz wesentliche Autoteile bis ins ferne Afrika liefern ließ, 100 Jahre später keine Unterstützung für sein Vorhaben gewähren will, Graetz in der ehemaligen Kolonialmetropole Deutschland bekannter zu machen, das wurme ihn schon. Das Unverständnis darüber muss wirklich groß gewesen sein, so groß, dass der schwarze Koch auf der Briefmarke jetzt provokativ einen faulen Apfel in die Höhe halten darf, statt eines Mercedes-Sterns, wie ursprünglich geplant.
Da der Konzern der Deutschen größter Rüstungsexporteur ist, hätte der Stern in der Hand eines schwarzen Kochs auf einer namibischen Briefmarke vielleicht unvorteilhafte Assoziationen wachgerufen – etwa im Hinblick auf das üppig belieferte Südafrika, das bis kurz vor dem Mauerfall Namibia besetzt hielt und auch zur Bekämpfung der angolanischen Freiheitsbewegung seine weißen Truppen in Lastkraftwagen ebenjenes Herstellers quer durch das Land karrte. So zumindest lässt sich die ablehnende Haltung von Daimler wohl am ehsten erklären.
Es ist schon ein Kreuz mit der Geschichte in dieser mit Stolpersteinen gepflasterten Stadt, gänzlich ungetrübte Stimmung kommt selten auf. Statt sich über einen Pionier wie Paul Graetz zu freuen, zog erst Mitte November eine Demonstration durch die Berliner Mohrenstraße (die immer noch so heißt) zur Neuen Wache, angeführt von einer auf Stelzen tanzenden Frau, deren Hände mit schwerem Eisen symbolisch aneinandergekettet waren. Auffällig viele dunkelhäutige Menschen liefen in ihrem Gefolge. Der Anlass – von Alltagsrassismus, einer Festung Europa und neokolonialen Wirtschaftspraktiken wurde gesprochen – war ein politischer: das 125. Jubiläum der Berliner Afrika-Konferenz, zu der Bismarck geladen hatte, um den Interessenkonflikten der europäischen Kolonialmächte auf dem afrikanischen Kontinent ein Ende zu setzen, klare Grenzen zu ziehen und dem Deutschen Reich einen möglichst großen Anteil zu sichern (Jungle World 46/09). Davon hatte man zwar nicht mehr lange etwas – um genau zu sein, nur noch bis 1919, aber Briefmarken aus Namibia sammelnde Autonostalgiker gibt es auch 90 Jahre später noch.