Über den Prozess gegen die Kameradschaft »Sturm 34«

Der Nachwuchs in Mittweida

Nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs muss der Prozess um die rechtsextreme Kameradschaft »Sturm 34« neu aufgerollt werden.

Der öffentliche Raum in und um Mittweida wird von Nazipropaganda dominiert. Bushaltestellen und Verkehrsschildpfosten sind mit Stickern mit der Aufschrift »Gegen den Zerfall unseres Volkes«, mit Schlagringmotiven und Slogans wie »A.C.A.B. Cops better run« bepflastert, alte Naziaufkleber verblassen in der Sonne, neue kleben darüber. In der Stadt findet sich an vielen Stellen das Kürzel »ANSMS« für »Autonome Nationalsozialisten Mittelsachsen« als Graffito.
Mit unzähligen Übergriffen und Überfällen hatte die sächsische Nazikameradschaft »Sturm 34« seit ihrer Gründung im März 2006 das Ziel verfolgt, die Region Mittweida zur »national befreiten Zone« zu machen. Der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe fällte nun am 3. Dezember ein brisantes Urteil. Das Verfahren gegen Mitglieder von »Sturm 34« wegen der Gründung einer kriminellen Vereinigung muss am Landgericht Dresden neu aufgerollt werden, der Freispruch durch das Dresdner Gericht wurde aufgehoben. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichthofs erklärte das entsprechende Urteil vom August 2008 für rechtsfehlerhaft, denn das Landgericht Dresden habe bei der Beurteilung der Frage, ob die »Kameradschaft Sturm 34« eine kriminelle Vereinigung sei, »Kriterien herangezogen, die für das Bestehen einer Vereinigung keine wesentliche Bedeutung haben«. Dagegen seien »festgestellte, für das Bestehen einer Vereinigung sprechende Umstände nicht in ihre Würdigung einbezogen« worden, so der BGH in einer Pressemitteilung zum Urteil.
Am 26. April 2007 hatte das sächsische Innenministerium die Kameradschaft verboten. 24 Personen bekamen damals die Verbotsverfügung zugestellt. Ein engerer Kreis von etwa 40 bis 50 Personen habe zum »Sturm 34« gezählt, dazu seien rund 100 Sympathisanten aus allen sozialen Schichten gekommen, vermutete das sächsische Innenministerium.

»Dass da kein Toter zurückblieb, war nicht das Verdienst der Angeklagten«, erklärte der Dresdner Richter Martin Schultze-Griebler bei seiner Urteilsbegründung. Aber es habe keinen für alle Mitglieder »verbindlichen Gruppenwillen« gegeben. Für die angeklagten fünf Mitglieder der Kameradschaft bedeutete dies den Freispruch vom Vorwurf der Bildung einer »kriminellen Vereinigung«. Drei der Angeklagten wurden wegen Körperverletzungsdelikten verurteilt, zwei gingen straffrei aus. Einer der beiden letztgenannten, Matthias R., war Informant des Chemnitzer Staatsschutzes. Seine Rolle blieb jedoch unklar. Während der Verhandlung hatte es widersprüchliche Aussagen von R. und von Staatsschutzmitarbeitern zu den Kontakten gegeben. Der Informant gab an, dass er schon vor der Gründungsversammlung von »Sturm 34« Kontakt zu den Chemnitzer Polizisten gehabt hätte, nach Darstellung der Staatsschützer entstand der Kontakt erst kurz danach. »Ein Notausgang für eventuell beteiligte V-Leute wird sich auch nach dem BGH-Urteil noch finden lassen«, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrem Kommentar zum Karlsruher Urteil.
Auch die Rolle anderer Mitglieder der Kameradschaft, die Verbindungen zwischen NPD und »Sturm 34« und die Frage, wie die Gruppe ihre Aktivitäten finanzierte, könnten nun doch noch gerichtlich untersucht werden. Mit dem Urteil hat der Bundesgerichtshof die Kriterien, wann eine Gruppe als kriminelle Vereinigung eingestuft wird, »für Fälle präzisiert, in denen die Mitglieder der Gruppierung ein übergeordnetes, etwa weltanschauliches oder ideologisches Ziel verfolgen«.
Zwei der vom Dresdner Landgericht damals nur wegen Körperverletzung verurteilten Mitglieder von »Sturm 34«, Nico T. und Tom W., zeigen sich weiterhin bei Naziaufmärschen. Als am 1. Mai vorigen Jahres 450 Neonazis unter dem Motto »Zukunft statt Kapitalismus – Freiheit statt BRD« durch die sächsische Kreisstadt Freiberg marschierten, befand sich Nico T. im Block der »Nationalen Sozialisten Chemnitz«, begleitet von mindestens einem weiteren ehemaligen Mitglied von »Sturm 34« und Personen aus dem Umfeld der »NS-Boys« und »Kameniza Sons«, rechten Fans des Chemnitzer Fußballclubs. Tom W. lief davor mit einer schwarzen »Radeberg«-Fahne neben einer kleinen Gruppe mit einem Transparent des »Netzwerk.Radeberg«, einer Gruppe, die Texte des in den achtziger Jahren führenden Nazis Thomas Brehl publiziert.
Gegner der Nazis hätten sich in Mittweida fast völlig zurückgezogen, sagt ein Antifa im Gespräch mit der Jungle World. »Da ist nichts mehr zu machen. Drohanrufe, Gewalt, Sachbeschädigungen, Vereinsräume wurden verwüstet, es gab öffentliche Flugblätter gegen die Personen.« Deswegen komme es auch nicht mehr so häufig zu Naziübergriffen, die Aktivitäten der Nazis konzentrierten sich derzeit auf »Propagandaaktionen und Sachbeschädigungen«.

Einblicke in die Stimmung in der Region Mittweida bietet das Heft »Fremd & Selbstbegegnungen«, das bei einem von der EU über die Agentur »Jugend für Europa« geförderten »Schreibwerkstattprojekt« entstanden ist. Etwa hundert 15- bis 18jährige Schülerinnen und Schüler der Region nahmen daran teil. Die Herausgeber schreiben im Vorwort, es »nahmen keine ›richtigen‹ Neonazis teil, dafür aber Mitläufer«, die, so die Hoffnung, »zumindest einen Moment mit dem Mitlaufen« aufgehört hätten, »in dem Moment nämlich, in dem sie erfuhren, wie sie eigentlich über Fremde denken – und wie über sich selbst«. »Deutschland sollte ein bissel deutsch bleiben!« ist in diesem Heft zu lesen und: »Ich habe nichts gegen Ausländer, aber wenn wir ins Ausland gehen, passen wir uns denen an. Was passiert hier? Ausländer kommen zu uns und wir Deutsche passen uns den Ausländern an!« Alles, was passiere, so ein anderes Statement, »wird meistens auf die Nazis geschoben, die Punks sind ja immer sooo lieb! Keiner kommt darauf, dass die Punks den Nazis die Sachen in die Schuhe schieben könnten!« In der Publikation schreiben die Jugendlichen, »Sturm 34« sei »eventuell ein Hilfeschrei, denn manchmal tragen die Ausländer Markenklamotten und Deutsche haben kaum Sachen«. »In Mittweida wohnen zu 70 Prozent nur Ausländer, das find ich wiederum nicht gut«, lautet eine andere Aussage. Mehr als Äußerungen wie: »Es müssen mehr Regeln geschaffen werden, zum Beispiel keine Bevorzugung (vor allem mit Geld) der Ausländer; Rechtsextremes eindämmen; Meinungen anderer wahrnehmen«, sind bei der erhofften Selbstreflexion kaum herausgekommen.
Der Naziterror ist in Mittweida einer dumpfen rechten Hegemonie gewichen, die jederzeit wieder in Gewalt umschlagen kann. Optimismus ist derzeit unangebracht.