Über die »Identitätsdebatte« in Frankreich

Ein Franzose trägt die Kappe korrekt

Die französische Regierung ist zufrieden mit der Debatte über die »nationale Identität«. Doch viele Diskussionsbeiträge offenbaren rassistische Ressentiments.

»Sie haben darüber gesprochen« – diesen Titel gab dereinst der Künstler Caran d’Ache einem seiner Gemälde. Darauf sieht man kaputte Stühle, umgeworfene Tische und zerbrochenes Mobiliar, das Ende eines offenkundig unfriedlich zu Ende gegangenen Essens. »Darüber«, das bezog sich auf die hitzige Debatte, die in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts über die Rehabilitierung des zu Unrecht wegen angeblicher Spionage verurteilten jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus geführt wurde.
So hitzig ging es in der Debatte, die derzeit, jedenfalls nach Ansicht ihrer Regierung, die Franzosen am meisten beschäftigen sollte, bislang nicht zu. Dennoch hat diese Debatte in den vergangenen Wochen bereits einige heftige Reaktionen hervorgerufen. Es geht um die »Debatte über die nationale Identität«, die Ende Oktober vergangenen Jahres der französische Minister Eric Besson ankündigte und die am 2. November offiziell eröffnet wurde. (Jungle World, 46/09)

Am Montag zog Besson wie versprochen eine »erste Bilanz« der Ideologiekampagne, in deren Rahmen bislang 227 Debatten unter Aufsicht von staatlichen Repräsentanten in den verschiedenen Verwaltungsbezirken Frankreichs stattfanden. Eric Besson ist im französischen Kabinett für »Einwanderung, Integration und nationale Identität« zuständig.
Der Minister beurteilte die Debatte positiv: Nein, es habe »keine Ausrutscher« gegeben, und die Debatte um die Nationalidentität habe »sich nicht auf Einwanderer und den Islam zugespitzt«. Manche hätten diese Debatte »als einen Ort für rassistisches Abreagieren« dargestellt und auf diese Weise »zur Karikatur gemacht«. Doch dieser Versuch, das Vorhaben zu diskreditieren, habe »nicht funktioniert«, sagte Besson auf einer Pressekonferenz am Montag.
Dass er ein solches Dementi für notwendig hielt, ist ein indirektes Eingeständnis der Probleme. Denn es hat eine starke Tendenz gegeben, bestimmte Bevölkerungskreise zu attackieren. Bereits bei der ersten Debatte im Rahmen der Regierungskampagne zur »Nationalidentität«, die Ende November in der ostfranzösischen Provinzstadt Verdun stattfand, gab es einen verbalen »Ausrutscher«. André Valentin, der der Regierungspartei UMP angehörende Dorfbürgermeister von Gussainville in Lothringen, befand vor laufenden Kameras, diese Debatte sei »notwendig«, weil »wir uns sonst auffressen lassen«. Auf die Nachfrage eines Fernsehjournalisten, warum und von wem, fügte er mit vielsagendem Blick hinzu: »Sie sind bereits zehn Millionen. Zehn Millionen, die wir für Nichtstun und Faulenzen durchfüttern.«
Auf der von Bessons Ministerium eingerichteten Homepage, wo User anonyme Beiträge zum Thema posten können, wimmelt es nur so von rassistischen Auslassungen. So fordert ein Beitrag: »Wir dürfen uns für die Kreuzzüge nicht schämen, die Kolonialära nicht verleugnen.« Ein anderer User will das Territorialprinzip im Staatsangehörigkeitsrecht ersatzlos abschaffen: »Um Franzose zu sein, muss man französisches Blut besitzen.« In einem Eintrag heißt es: »Kein Franzose hat eine Ausländerinvasion erbeten.«

Entsprechend heftig fällt auch die Ablehnung aus. In Toulouse störten über 100 Studierende und Linke die dortige »Debatte zur nationalen Identität«. In Troyes ließ die Komikertruppe Action Discrète die örtliche Veranstaltung durch eine Aufführung »unsichtbaren Theaters« ins Absurde abgleiten und brachte sie beinahe zum Platzen. In Bayonne wiederum sorgten baskische Nationalisten für Aufregung. Nach Ansicht der Kritiker hat die Debatte vor allem niedere Instinkte freigesetzt. Zu diesen Kritikern gehören inzwischen auch die drei bürgerlichen Premierminister aus der Zeit der Präsidentschaft Jacques Chiracs, Alain Juppé, Jean-Pierre Raffarin und Dominique de Villepin.
Auch Repräsentanten der Regierung und der UMP fallen mit rechten Debattenbeiträgen auf. Nadine Morano, Staatssekretärin für Familienpolitik, sorgte etwa am 14. Dezember für einen Skandal, als sie an einer Debatte zur »National­identität« vor 300 Personen in Charmes, einem Städtchen in den Vogesen, teilnahm. Ein örtlicher Abgeordneter der UMP hatte den Ort explizit ausgewählt, weil dort im 19. Jahrhundert der Schriftsteller Maurice Barrès geboren wurde. Barrès war ein früher Vordenker eines radikalen, präfaschistische Züge tragenden französischen Nationalismus vor dem Ersten Weltkrieg. Er ist vor allem aus der Dreyfus-Debatte bekannt, in der er postulierte, dass Dreyfus des Verrats fähig sei, schließe er aus dessen »Rasse«.
Morano kommentierte, man müsse Barrès doch vor dem Hintergrund seiner Zeit »und in der Gesamtheit seines Werks« betrachten. Denn schließlich habe auch »König Ludwig XIV. das Edikt von Nantes widerrufen«, also die Tolerierung der Protestanten rückgängig gemacht, und dennoch gingen heute die Leute in seinen prächtigen Schlössern spazieren. Einen Skandal löste aber auch Moranos Beitrag in der örtlichen Debatte aus. In Charmes war ein Mann im Saal aufgestanden, der sich als »junger Arbeitsloser« aus einem benachbarten Dorf vorstellte. Inzwischen ist bekannt, dass er ein Aktivist des rechtsextremen Front National ist. Er beschwor Karl Martell, einen fränkischen Krieger, der im Jahr 732 bei Poitiers die Araber vertrieb und »die Ausbreitung des Islam in Europa stoppte«. Tatsächlich besiegte Martell wohl nur einen Erkundungstrupp, doch der Mythos scheint geeignet, um eine Parallele zur Gegenwart zu ziehen.

Morano erwiderte, sie habe nichts gegen Ausländer und besitze auch ausländische Freunde, weil sie Vorsitzende der parlamentarischen Freundschaftsgesellschaft für den Tschad sei. Doch von »dem jungen Muslim« in Frankreich, den sie »grundsätzlich respektiere«, fordere sie, er solle gefälligst »nicht seine Kappe verkehrt herum aufgesetzt tragen, keinen Vorstadt-Jugendslang sprechen und sich eine Arbeit suchen«. Morano definierte allgemeine Erscheinungen der Jugendkultur in den Unterschichten als ethnisch-religiöses Problem und machte die Jugendlichen selbst verantwortlich dafür, dass sie keine Arbeit finden. Ihre Äußerungen sorgten kurz vor Weihnachten tagelang für heftige Diskussionen.
Auch Premierminister François Fillon, dessen Anfang Dezember gehaltene Rede zum Thema von vielen Beobachtern zunächst als »mäßigendes Eingreifen in die Debatte« mit moderaten Tönen gewertet wurde, hatte die französische Nation mit einem Bezug auf die Landschaften und den Boden definiert. In Zeiten des »Identitätsverlusts« durch Globalisierung und Modernisierung gäben diese dem Franzosentum festen Halt. Wie die Onlinzeitung Mediapart.fr nachwies, hatte Fillon dabei Jacques Bainville, einen früheren Ideologen der präfaschistischen rechten Bewegung Action Française, fast wörtlich wiedergegeben, ohne dieses Zitat auszuweisen.
Offenkundig haben einige unter den regierenden Konservativen der Versuchung nachgegeben, dem erfolgreichen Schweizer Referendum nachzueifern und zu versuchen, frühere Wähler der extremen Rechten wieder an die Konservativen zu binden.