Jessie Daniels im Gespräch über Chancen und Gefahren der Internet-Demokratie

»Flame Wars sind so alt wie das Internet«

Jessie Daniels ist Dozentin am Hunter College in New York und forscht über Rassismus im Internet. 2009 erschien ihr Buch »Cyber Racism«. Die Jungle World sprach mit ihr über diskriminierende Kommentare in Internet-Debatten, über Anonymität und die Chancen und Gefahren internetbasierter direkter Demokratie.

Wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, mit einem rassistischen, homophoben, antisemitischen, sexistischen oder sonstwie diskriminierenden Kommentar an ein Youtube-Video anzuknüpfen, wird man darunter genau solche Kommentare finden. Was ist das Problem – die Menschen oder das Internet?

Eine Kombination aus beidem. Es gibt einfach viele Menschen, die solche Ansichten haben. Aber aufgrund eines gesellschaftlichen Wandels in den letzten 30 Jahren waren die Menschen angehalten, diese Ansichten in der öffentlichen Kommunikation zu verbergen. Das Internet erlaubt ihnen jetzt, all dies mitzuteilen. Die Anonymität und die Distanz, die das Internet erzeugt, macht es den Leuten einfach, Dinge zu äußern, die sie in Gesprächen mit anwesenden Menschen nie sagen würden.

Also bringt das Internet den Hass und die Ressentiments ans Licht, die die meisten Leute in ihrem Offline-Leben verstecken?

Genau. Das Konzept des Soziologen Erving Goffman ist da ganz hilfreich, er unterscheidet zwischen »Frontstage«- and »Backstage«-Verhalten« – »Frontstage« zeigen wir beste Manieren, und »Backstage« sagen wir, was wir wirklich denken. »Backstage« war früher für die meisten Menschen die Familie oder der Freundeskreis, heute ist es das Internet. Das »Backstage«-Verhalten wird damit öffentlich. Viele Leute merken das auch nicht und posten Dinge auf Facebook, die sie sonst nur unter guten Freunden sagen würden, weil sie einfach vergessen, wie viele Menschen sehen können, was sie da von sich geben.

Ist das Ausmaß von diskriminierendem Verhalten im Internet repräsentativ für die in der Gesellschaft vertretenen Ansichten?

Das zeigt auf jeden Fall etwas Reales, eben den versammelten Hass auf Schwule und Lesben, auf Juden, Migranten oder andere Minderheiten. Insofern gibt das Internet einen sehr exakten Einblick in das, was die Menschen so denken. Die Frage, ob das repräsentativ ist, ist aber komplexer. Ungefähr zehn Prozent der Leute, die eine Web­site besuchen, posten Kommentare oder ähnliches. Insofern sehen wir die Ansichten von zehn Prozent der Internetnutzer. Wir wissen nicht, ob etwa die anderen 90 Prozent einem rassistischen Kommentar zustimmen. Aber wir sehen, dass sie diese Kommentare nicht aktiv ablehnen, dass sie kaum dagegenhalten, dass sie Zuschauer sind.

Manche Leute behaupten, es sei ein spezieller Typus von Internetnutzer, der Kommentare postet – sagen wir hypothetisch: frustrierte weiße Männer mit schwacher sozialer Integration, die ihren Frust durch die Diskriminierung von Minderheiten kompensieren.

An der These ist nichts dran. Das sagt mehr da­rüber aus, wie wir uns Leute, die sexistische, homophobe oder rassistische Aussagen machen, vorstellen wollen – als irgendwie minderbemittelt oder isoliert. Wenn man sich aber etwa die Internetaktivitäten von white supremacists in den USA ansieht, sieht man, wie ihre Aussagen mit dem Mainstream verknüpft sind, mit den Ansichten ganz normaler Leute.

Trotz allem halten viele Menschen das Internet für das ideale Medium für eine Art digital vermittelte Basisdemokratie. Ist aber nicht das Risiko eines sich im Netz spontan formierenden rassistischen Mobs viel größer als die Chance, die das Netz demokratischer Entwicklung bietet?

Schwere Frage. Ich bin eine hoffnungslose Optimistin und denke, dass das Internet großartige Möglichkeiten für Demokratisierung bietet. Und zugleich kann das Internet auch genutzt werden, um einen rassistischen Mob zu mobilisieren. Aber ich will an Obamas Online-Wahlkampf erinnern, der das Interesse vieler ursprünglich politisch uninteressierter Leute geweckt hat und an dem sich auch viele aktiv beteiligt haben. Da haben sich eher die guten denn die bösen Kräfte des Netzes gezeigt.

Wenn man sich die Ressentiments ansieht, die sich in der politischen Kommunikation im Internet offenbaren, drängt sich der Eindruck auf, das System der repräsentativen Demokratie erfülle auch eine Art Gate-Keeper-Funktion. Schließlich gibt es in Parlamentsdebatten weniger offenen gruppenbezogenen Menschenhass als in Internetforen oder dergleichen. Wenn es statt der repräsentativen Demokratie eine internetbasierte direkte Demokratie gäbe und diese Gate-Keeper-Funktion entfiele, müsste man sich da nicht Sorgen machen, dass die Mehrheit über Minderheiten herfällt?

Das ist ein interessanter Punkt. Wenn diese Gate-keeper-Funktion wegfiele, könnte es sein, dass wir uns mit Phänomenen wie etwa Rassismus und dergleichen auseinandersetzen müssten, von denen wir dachten, sie seien Probleme der Vergangenheit. Aber diese Probleme werden nicht vom Internet hervorgebracht, es gab sie schon vorher, nur tauchen sie jetzt wieder auf. Es gibt viele Ressentiments seitens der weißen Bevölkerung, etwa, dass es in den letzten Jahren zu viel Fortschritt gegeben, dass sich die Gesellschaft in die falsche Richtung entwickelt habe. Es ist wichtig, dass man diese Probleme als Arbeit auffasst, die wir erledigen müssen.

Viele begeisterte Internetnutzer treten für ein freies Internet jenseits jeder staatlichen Kon­trolle ein, und auf den ersten Blick scheint das sehr unterstützenswert. Aber es gibt darunter auch einige, die sich gegen staatliche Kontrolle aussprechen, weil sie dann etwa ungestört den Holocaust leugnen können, was in Deutschland strafbar ist. Ist denn die Freiheit des Netzes wichtiger als der Kampf gegen Nazi-Propaganda?

Auch in den USA gibt es eine starke Strömung der cyber libertarians, und ich halte deren Ansichten für riskant. Eine ernstzunehmende Gefahr ist etwa die Mobilisierung von Hass im Netz. In den USA haben white supremacists im Internet immer wieder einzelne Individuen attackiert und sie dann auch offline angegriffen. Die Frage der Holocaust-Leugnung ist etwas anders gelagert, und vielleicht ist sie noch wichtiger. Holocaust-Leugner oder auch die, die in den USA die Sklaverei als eine gute alte, humane Institution preisen, versuchen bestimmte Werte der Gesellschaft zu unterminieren, und das tun sie im Internet mit recht ausgefeilten Mitteln. Meiner Meinung nach sollte man in den USA Holocaust-Leugnung oder die Verharmlosung der Sklaverei auch verbieten, aber davon sind wir weit entfernt.

Holocaust-Leugner oder andere Verschwörungstheoretiker fühlen sich durch Verbote und Zensur aber immer bestärkt, da sie diese als Indizien für die unterdrückte Wahrheit ihrer Behauptungen interpretieren.

Ja, das ist ein Argument. Aber ich denke, dass es ein großer Vorteil ist, wenn eine Gesellschaft entscheidet, was ihre Werte sind, und diese auch in Rechtsform bringt. Es ist richtig und legitim, wenn eine Gesellschaft demokratisch entscheidet, dass es Dinge gibt, die man nicht sagen darf, weil sie historische Tatsachen leugnen oder verdrehen und weil sie letztlich zu Menschenfeindlichkeit und Gewalt führen.

Auch jenseits der Internetkommunikation von Rechtsextremen wird der politische Diskurs im Internet oft mit großer Brutalität geführt. Viele Blogs sind voller persönlicher Anfeindungen, Drohungen und Denunziationen. Warum ist das als demokratisch gepriesene Medium Internet vom zivilisierten demokratischen Diskurs so weit entfernt?

Flame wars sind so alt wie das Internet. Online-Interaktion wird sehr schnell hitzig, Konflikte werden viel härter ausgetragen und eskalieren schneller als von Angesicht zu Angesicht, und ich habe selber früher an vielen flame wars teilgenommen (lacht). Zum Teil liegt das wohl daran, dass das Internet eine Art gefühlte Intimität zwischen den Menschen herstellt, sie fühlen sich einander sehr nahe und setzen daher einen starken Konsens voraus. Wenn der in Frage gestellt wird, wird es aufgrund der fehlenden Distanz plötzlich recht unzivilisiert.
Ein anderer Grund sind die Grenzen der textbasierten Kommunikation. In der Offline-Interaktion gibt es viele Gesten wie etwa Lächeln, Kopfnicken, die ganze komplizierte Körpersprache, die etwa Ironie oder Sarkasmus markieren und die in der textbasierten Kommunikation im Internet wegfallen. Mein eigener Humor ist meist sehr sarkastisch, und wenn ich sarkastische Bemerkungen mache, nimmt mir das meist niemand übel, weil ich dabei viel lache und freundlich bin. Aber wenn ich solche Bemerkungen tippe, klingen sie so hart, dass sich manche Leute angegriffen fühlen.

Was wäre denn notwendig, um politische Kommunikation im Internet ein Stück weit zu zivilisieren?

Ich denke, dass man darüber sprechen muss, welche Richtlinien es braucht, um im Internet einen zivilisierten demokratischen Diskurs führen zu können. Da geht es um bestimmte sprachliche Ausdrücke, um Moderationsregeln etwa, aber es geht auch darum, dass man sich auch im Internet unter echten Namen äußern sollte. Die Anonymität führt nun mal dazu, dass im Internet so viele verletzende Dinge ausgesprochen werden. Wäre die Online-Identität mit der Offline-Identität verknüpft, wäre das nicht so, weil man sich dann Sorgen um seine Reputation machen müsste. Das wäre ein wichtiger Faktor für die Zivilisierung von kontroversen Debatten im Internet.

Unter echten Namen im Netz zu kommunizieren, heißt aber auch, jede Menge privater Daten preiszugeben.

Richtig, das ist ein großes Problem. Trotzdem denke ich, dass man die Online- und die Offline-Reputation miteinander verknüpfen sollte. Zum Beispiel wären rassistische Kommentare auf Youtube oder anderswo viel unwahrscheinlicher, wenn die Kommentatoren ihren echten Namen darunter setzen müssten. Es ist eben nicht nur positiv, wenn sich Menschen durch Anonymität von sozialen Erwartungen befreien.