Ein Auszug aus seinem Roman »Das war nicht ich«

Himalajasalz und Hausfrauenpornos

Alles kam in Frage, nur eines nicht: hierbleiben. Von der Flucht aus einem Leben, in dem Wein-Klima-Schränke und Rennkinder­wagen den Alltag beherrschen.

Als ich mir gerade eine Zigarette anzünden wollte, fiel mir der Kachelofen ein. Ich hatte seit Stunden kein Holz nachgelegt, musste aber auf jeden Fall vermeiden, dass er ausging, da ich nicht richtig zugehört hatte, als der Vorbesitzer mir erklärte, wie man ihn anfeuert. Ich ging hin, öffnete die gusseiserne Klappe und kniff die Augen zusammen, als mir eine Rauchwolke entgegenschlug. Dann griff ich in den Korb neben dem Ofen und stellte fest, dass das klein gehackte Brennholz, das ich zusammen mit dem Haus übernommen hatte, endgültig aufgebraucht war. Es gab noch jede Menge Holz, doch das lagerte in großen Scheiten hinter dem Haus, unter einer LKW-Plane, auf die der Regen pladderte.
Natürlich gab es in meinem Haus auch eine richtige Heizung, eine ganz fortschrittliche sogar: eine mit Erdwärme aus eigenem Bohrloch betriebene Fußbodenheizung, die der Vorbesitzer selbst eingebaut hatte. Dann war er plötzlich ausgezogen und ließ neben der Heizung, die aus irgendeinem Grund nie funktioniert hatte, drei neu eingebaute Isolierfenster mit Löchern in den Fugen und ein zu drei Vierteln mit Schwammwischtechnik ockerfarben bemaltes Wohnzimmer zurück. Warum er ausgezogen war, hatte er mir nicht gesagt, obwohl er sonst eher viel redete. Ich nahm an, dass seine Frau ihn verlassen hatte, enerviert von dieser dilettantischen Hobbyheimwerkerei.
Also blieb mir nur der Kachelofen, der eigentlich nur aus ­Stylinggründen die letzte Renovierung überlebt hatte, aber das Haus leidlich warm hielt. »So ein Kachelofen macht natürlich eine viel schönere Wärme«, hatte mein Vorbesitzer gesagt, was einer seiner blöderen Sprüche gewesen war, denn Wärme war eine Strahlung mit einer gewissen Energie, und es war völlig egal, ob in diesem Kachelofen nun eine Heizspirale steckte oder dort Holz verbrannte oder eben, wie im Moment, nicht mehr verbrannte.
Ich griff die Axt, die im Flur an der Wand lehnte, zog die nasse Jacke wieder an, verließ das Haus, sah kurz, und nicht zum ersten Mal an diesem Tag, in den Briefkasten und ging dann um das Haus herum. Als ich die LKW-Plane anfasste, um eines der großen Buchenholzscheite hervorzuholen, fiel mir ein, dass fast alle meiner Hamburger Freunde eine Umhängetasche aus diesem Material hatten, Arthur hatte sogar zwei. Ich hob die Plane vorsichtig an, damit das Wasser zur Seite abfloss, und fasste den verspäteten Neujahrsvorsatz, ab jetzt rechtzeitig und bei trockenem Wetter Holz zu hacken. Denn so viel erinnerte ich von den Ratschlägen meines Vorbesitzers: Bei Regen Holz zu hacken, war nicht gut. Was hatte er noch gesagt? Ich wusste es nicht mehr, legte eines der Scheite auf den Hauklotz und holte aus.
Das Gewicht der Axt überraschte mich und zog meine Arme weiter nach hinten als geplant, woraufhin meine Kapuze vom Kopf rutschte und Regen in meinen Nacken fiel. Durch diesen Kälteschauer zur Eile getrieben, ließ ich die Axt nach vorne fallen, als mir einfiel, zu spät einfiel, was mein Vorbesitzer noch gesagt hatte: Ich müsste mich breitbeinig hinstellen, damit die Axt, sollte sie den Hauklotz verfehlen, nicht mein Bein spaltete. Ich rutschte mit den Beinen auf dem matschigen Boden auseinander und versuchte gleichzeitig, die Axt in ihrem Fall zu bremsen. Zu spät. Die Axt sauste hinab, ich versuchte eine hilflose Drehung zur Seite, die Axt verfehlte das Scheit, meine Beine rutschten, rutschten, ich fiel, schloss die Augen und wartete auf ­irgendeinen Schmerz. Als ich die Augen wieder öffnete, lag ich im Matsch, und die Axt steckte in dem Hauklotz fest. Ins­tinktiv sah ich mich um – hatte mich jemand bei dieser pein­lichen ­Aktion beobachtet? Doch da war natürlich niemand. Noch nicht einmal das Haus eines Nachbarn. Nur Wiesen und Reizklima.

Zumindest das Badezimmer war gemütlich warm zu bekommen, man musste nur eine Viertelstunde heiß duschen, möglichst noch länger. Am Morgen nach meinem missglückten Holzhackversuch war das umso wichtiger, denn in der Nacht war der Ofen endgültig ausgegangen.
Der Briefkasten war leer. Wer hätte auch etwas einwerfen sollen, seit ich gestern vor dem Schlafengehen das letzte Mal nachgesehen hatte? Ich überprüfte, ob meine Visitenkarte noch über dem Briefkasten klebte, wo ich sie in Ermangelung eines Türschildes befestigt hatte: Meike Urbanski lit. Übersetzerin. und darunter meine alte Hamburger Adresse, die ich durchgestrichen hatte.
Der Briefkasten war eines von diesen amerikanischen Modellen, die aussahen wie übergroße Weißbrotlaibe. Das passte zu dem Vorbesitzer meines Hauses, seinem Traum vom autarken Siedlerleben in der nordfriesischen Prärie, mit eigener Erdwärme. Bestimmt hatte seine Frau das lächerlich gefunden, jede Frau musste das lächerlich finden, diesen Briefkasten aus dem nächstbesten Baumarkt, der doch so etwas sagen sollte wie: Hier ist Amerika, das Land der Selbstverwirklichung, land of the free, verkörpert durch eine schmutzigweiße Röhre mit einer ­roten Blechfahne, die der Postbote hochstellen konnte, nachdem er etwas hineingetan hatte; die nach unten zeigte, seit ich einge­zogen war.

Ich musste Holz hacken. Holz bedeutete Wärme, und ohne Wärme konnte ich das alles gleich vergessen mit meinem neuen Leben. Ich sah mich im Wohnzimmer um. Die von meinem Vorbesitzer mit dem Schwamm aufgetragene Ockerfarbe gab dem Raum etwas von einer uterusartigen Wohlfühlhöhle, was schlecht dazu passte, dass ich vor lauter Kälte inzwischen meinen Atem sehen konnte.
Da ich nicht noch einmal Tannhäuser hören wollte, suchte ich nach der Umzugskiste mit den CDs, und nachdem ich sie nicht auf Anhieb fand, wurde mir bald klar, wo sie war: im Flur unserer Hamburger Wohnung, unter der Gastherme, rechts von Arthurs Schuhen, dort, wo meine Schuhe gestanden hatten. Was für ein Umzugsklassiker! Alles war gut gelaufen, nur das Wichtigste hatte ich vergessen, sodass meine Musikauswahl nun auf das beschränkt war, was sich im Dreifach-CD-Wechsler meiner Anlage befand: Zweimal Tannhäuser und einmal Rufus Wainwright, der die Worte alcoholic homosexual so singen konnte, dass ich gerne beides gewesen wäre.

Arthur und ich hatten als Paar immer gut funktioniert. Wir lebten jene Art Leben, das Stoff für Fernsehserien war, hatten genug Geld, interessante Freunde, eine interessante Arbeit. Zehn Jahre war es her, dass wir uns in der Haushaltswarenabteilung von Karstadt kennen gelernt hatten. Arthur hatte mich gefragt, ob ich eher eine Waschmaschine kaufen würde, die man von oben befüllte, oder eine, die die Luke ganz normal vorne hatte, einen »klassischen Frontloader«, wie es der Verkäufer ausdrück­te, der sich in unser Gespräch einklinkte und uns natürlich für ein Paar hielt. Na gut, hatte ich gedacht, wenn es den Karstadtverkäufer überzeugt … Damit war Schritt eins gemacht. Es folg­te Schritt zwei: gemeinsame Pärchenfreunde, Schritt drei: zusammenziehen und Schritt vier: über Kinder nachdenken. Dann tat ich Schritt fünf und zog aus.
Da ich unsere gemeinsamen Pärchenfreunde nicht um Hilfe fragen wollte, erledigte ich den Umzug allein, heimlich und morgens um vier. Das war die Zeit, zu der ich bestimmt niemanden auf der Straße traf, denn die Jahre der langen Kneipennächte waren vorbei für Gösta und Regine, Sabine und Lars. Es war, als hätte ich schon bei der Auswahl meiner Möbel darauf geachtet, dass sie weder besonders sperrig noch schwer waren: Das Bett gehörte Arthur, doch ich besaß ein Schlafsofa, ein Designerstück aus gepresstem Styropor, das weniger als 25 Kilo wog und sich mühelos die Treppen hinuntertragen ließ. Die Beine meines Schreibtisches hatte ich bereits am Vorabend abgeschraubt, und der Rest kam in Umzugskisten. Nach kaum einer Stunde war ­alles in dem Renault-Rapid-Transporter verstaut, den ich mir vor einigen Wochen gekauft hatte. Ich nahm mir sogar die Zeit, ­Arthurs Möbel zu verrücken und die Bücher in den Regalen umzustellen, sodass ihm meine Abwesenheit vielleicht nicht sofort auffallen würde, wenn er von seiner Ausstellungseröffnung in München zurückkam.
Es war noch nicht sechs Uhr, als ich die Türen zur Ladefläche meines Transporters endgültig schloss. Beim Abbiegen von der Bellealliancestraße auf die ausgestorbene Fruchtallee blink­te ich nicht und bremste kaum. Als ich wenig später auf die A 23 fuhr und in Richtung Husum/Heide Gas gab, war ich mir sicher, dass ich diese Stadt nie wiedersehen würde.
Zehn Jahre hatte ich hier gewohnt, im Schanzenviertel, war ganz klassisch zum Studieren hierhergezogen und hatte dann miterlebt, wie alles langsam sauberer wurde, ruhebedürftiger, kurz: bürgerlicher; wenngleich sich in den ersten Jahren niemand traute, das so zu nennen, bis dann alle plötzlich dauernd dieses Wort benutzten, wie um sich zu beweisen, dass das nichts Schlimmes sei.
Auf die Rehabilitierung des Wortes bürgerlich folgte Nachwuchs. Eines der mit uns befreundeten Paare, Gösta und Regine, hatte vor einigen Jahren mit einem Hund angefangen, den sie Leander nannten, woraufhin Lars und Sabine mit einem Kind konterten, das sie Friedrich nannten. Als Lars und Sabine dann ein zweites Kind bekamen, von dem ich mir nie merken konnte, ob es Sophia-Marie oder Maria-Sophie hieß, blieb Gösta und Regine nichts anderes übrig, als mit dem kleinen Maximilian, wenn schon nicht gleichzuziehen, so doch einen Anschlusstreffer zu erzielen.
Mit den Kindern, dem Hund und den mit ihnen unternommenen Landausflügen griff eine Begeisterung für Produkte aus der Region um sich. Das Alte Land zum Beispiel, aus dem man mit Äpfeln oder Kirschen wiederkehrte, die allein deswegen besser schmeckten, weil man das Alte Land fast sehen konnte, wenn man an der Elbe flussabwärts blickte und sich vorstellte, dass da hinter der Airbuswerft Dinge auf Bäumen wuchsen. ­Einen Hund wollten wir trotzdem nie. Ich hatte Angst vor Hunden, Arthur Angst um seine Gemälde, die er »Arbeiten« nannte. Seit einigen Jahren malte Arthur nur noch monochrom.
Warum ich zehn Jahre hier gelebt und mich dann heimlich aus dem Staub gemacht hatte, mag schwer zu erklären sein – un­üblich ist es hingegen nicht. Menschen tun so was. Viele. ­Jeden Tag. Worüber ich mir Gedanken machte, war vielmehr die Frage, warum es ausgerechnet jetzt passiert war, und einer der Gründe war sicherlich der Heilige Abend, den wir im letzten Jahr bei Regine und Gösta verbracht hatten, zusammen mit Sabine und Lars. Seit Regine und Gösta den kleinen Maximilian hatten, waren sie sehr traditionsbewusst geworden. Sie hatten uns aus dem Wohnzimmer ausgesperrt, in das wir erst hineindurften, nachdem Gösta die echten Kerzen an dem Baum entzündet und eine Glocke geläutet hatte. Dabei war ihre Wohnung für solche Zugangsbeschränkungen eigentlich zu klein, sodass wir uns mit den immer unruhiger werdenden Friedrich, Maximilian und Maria-Sophie in der Küche drängelten und Gebäck aßen, das schmeckte wie anderes Gebäck auch, aber nach irgendwelchen speziellen Oma-Rezepten gebacken war. Hund Leander lag so apathisch unter dem Küchentisch, dass ich mir vorstellte, sie hätten ihm etwas Beruhigendes ins Futter getan – und mir dasselbe wünschte. Noch enger wurde es dadurch, dass Gösta sich einen Weinkühlschrank mit stoßgedämpften Regalen und fünf individuell regelbaren Klimazonen gekauft hatte. Gerade als ich fragen wollte, ob wenigstens ich in das Weihnachtszimmer hinein- oder eigentlich nur hindurchdürfte, um auf dem Balkon eine Zigarette zu rauchen, bimmelte es. Gösta las die Weihnachtsgeschichte, schien nicht zu wissen, wo er aufhören sollte, und las viel zu lang, bis er verwirrt an der Stelle abbrach, wo der alte Simeon das Jesuskind im Tempel von Jerusalem auf die Arme nimmt, während ich auf die Balkontür starrte. Dann wurden die Geschenke verteilt, und Gösta bekam etwas von ­Regine.
»Oh, eine Salzmühle, ist die etwa mit …«
» … mit Peugeot-Mahlwerk, Edelstahl. Alle anderen taugen ja nichts«, sagte Regine. Das Wort Peugeot-Mahlwerk löste bei Sabine und Lars emphatisches Nicken aus, ich hingegen wunderte mich darüber, wie klein die Salzmühle war, wo Gösta doch in den letzten Jahren, wenn er für uns gekocht hatte, nach dem Servieren für jeden aus einer Mühle von der Größe und dem Aussehen einer Gartenschach-Figur Pfeffer auf den Teller geknarzt hatte. Ich überlegte, ob er ab jetzt zwei Mal die abendliche Tischgesellschaft umrunden würde, ein Mal mit Pfeffer, ein Mal mit Salz, und musste dabei so abwesend ausgesehen haben, dass ­Regine einen Versuch unternahm, mich in das Gespräch einzubinden, indem sie sagte:
»Da kann Gösta sein Himalaja-Salz reinfüllen.«
»Himalaja-Salz?«
»Salz ist nicht gleich Salz, da gibt es große Unterschiede. Unser normales Salz ist doch total industriell verunreinigt.«
»Und Himalaja-Salz?«
»Das ist Ur-Salz. Das kommt direkt aus der Natur.«
»Und in der Natur ist alles immer so sauber?«
»Im Himalaja gibt es keine Umweltgifte. Deswegen löst das keine Allergien aus. Bei den Kindern. Und außerdem schmeckt es besser, deswegen braucht man weniger davon.«
»Salz besteht zu 98 Prozent aus Natriumchlorid, egal, ob es aus dem Himalaja oder aus Bad Reichenhall kommt. Und das schmeckt immer gleich«, sagte ich, denn ich wusste das, ich hatte das recherchiert für eine meiner letzten Übersetzungen.
»Dann ist das halt mein subjektiver Geschmack«, sagte Regine in einer Weise lächelnd, als wüsste sie, dass ich darauf nichts antworten konnte. Gegen Geschmack, hier sogar subjektiven Geschmack, gefühlten Geschmack sozusagen, kam niemand an.
»Was ist Himalaja?«, fragte Friedrich und konnte nicht ahnen, wie dankbar ich ihm dafür war, dass er dieses Gespräch auf den gedanklichen Horizont eines Dreijährigen zurückholte. Regine erklärte ihm engagiert nickend, dass das Berge seien, Hi-ma-la-ja, gaanz weit weg und soooo hoch, hmhmm!, während ich auf den Balkon ging und gleich zwei Zigaretten rauchte.
Es überraschte mich, dass Lars, als er zu mir herauskam, um noch eine Flasche Sekt zu holen, von meiner Zigarette ziehen wollte.
»Warum hat Gösta den Sekt nicht in seinem Weinkühlschrank kalt gestellt?«, fragte ich.
»Ich glaub, der ist voll«, sagte Lars.
»Alle fünf Klimazonen?«
»Alle fünf individuell regelbaren Klimazonen«, sagte er und zog noch einmal. »Wein-Klima-Schrank übrigens, nicht Wein-Kühl-Schrank, schließlich muss nicht jeder Wein gekühlt werden.« Dann zog er ein drittes Mal und ging wieder hinein, bevor ich in der Halbdunkelheit erkennen konnte, ob er bei dem letzten Satz gegrinst hatte oder nicht.
Als ich wieder hineingegangen war, hatte Regine gerade ihre »Ich mag den Winter, weil man im Sommer wegen der ganzen Straßencafés nirgendwo durchkommt«-Suada begonnen. Ich erinnerte mich daran, dass ich im letzten Sommer im Café unter den Linden beobachtet hatte, wie Regine mit ihrem dreiräd­rigen Rennkinderwagen die Reihen der Cafétische und Stühle spreng­te wie ein Streitwagen des Pharao eine Kompanie feind­licher Soldaten. Ich sagte, dass ich den Winter mochte, weil ich bis neun schlafen könne, ohne vom Licht geweckt zu werden, und Regine sagte: »Das würde ich auch gern mal wieder, aber das ist mit dem kleinen Süßen halt nicht drin.«
»Ich kann mir eben selbst einteilen, wann ich arbeite, was ist daran so schlimm?«, sagte ich, denn mich ärgerte der mitleidige Ton in ihrer Stimme.
»So hab ich das doch gar nicht gemeint. Im Gegenteil, ich wünschte mir manchmal, ich wäre so literaturverrückt wie du.«
»So verrückt bin ich nun auch wieder nicht.«
»Ich hab das ja auch nicht so gemeint, habe ich doch gerade schon gesagt«, sagte Regine dann. »Ich bewundere das.«
An diesem Weihnachtsabend hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ich von diesen Menschen nicht einfach nur genervt war. Ich hatte Heimweh, obwohl ich seit zehn Jahren hier zu Hause war, Heimweh nach einem Ort, von dem ich nicht ­wuss­te, wo er war.
Natürlich hatten unsere Pärchenfreunde schon lange mit dem Gedanken gespielt, aufs Land zu ziehen. Besonders seit der Geburt von Sophia-Marie redete Sabine dauernd davon, einen ­alten Bauernhof zu kaufen, und so kam es auch heute wieder. Während sich die dritte Flasche Rotwein in der Dekantierkaraffe auf Zimmertemperatur schwappte, stimmten ihr alle wortreich zu, sogar Arthur: »Ja, ein Haus auf dem Land.«
Genau dort befand ich mich jetzt: auf dem Land, in der Region, aus der die Produkte aus der Region kamen. Dabei hätte es für mich gar nicht so ländlich sein müssen. Ein Supermarkt und ein Bahnhof in Laufweite wären schön gewesen – eine etwas exklusivere Einsamkeit, ruhig und trotzdem nicht am Arsch der Welt. Aber das konnte ich mir nicht leisten; ich schreibe die Bestseller schließlich nicht, ich übersetze sie nur. Und zurzeit nicht einmal das, da ich auf das neue Manuskript meines Autors wartete: Henry LaMarck. Eigentlich hätte es schon vor Wochen kommen müssen, doch nun wäre es wirklich jeden Tag so weit, wie mir sein deutscher Lektor Thorsten Fricke versichert hatte.
Ich ging abermals zum Briefkasten, die Fahne war unten, aber ich sah trotzdem hinein und überlegte, was Arthur und die anderen wohl denken würden, wenn sie das hier sehen könnten: die Straße, von der ich nicht wusste, wohin sie führte, jenseits der Straße den alten Deich, diesseits mein Haus, das in den vierziger Jahren errichtete Nebengebäude eines alten Bauernhofs, der dann abgebrannt war. Den Briefkasten, die Tür, das Schlafzimmerfenster und das Gitter an der Hauswand, das der Vorbesitzer angebracht hatte, damit Efeu daran emporwachsen möge, wahrscheinlich in der Hoffnung, das Erscheinungsbild des Hauses von verwahrlost in Richtung verwunschen zu wandeln.
Ich ging um das Haus herum, an dem ungehackten Holz vorbei und dem Reisebus mit der Aufschrift modern reisen … bus reisen, den der Vorbesitzer für Gäste hatte ausbauen wollen, ihn aber letztendlich nur mit fast leeren Farbeimern, leeren Blumen­töpfen, Dämmpapperesten und Dachziegeln vollgerümpelt hatte.
Vielleicht sollten meine Freunde das erst sehen, nachdem ich mich hier an alles gewöhnt hatte, nachdem ich mich eingerichtet und mit der Übersetzung von Henry LaMarcks neuem ­Roman angefangen hatte. Arthur. Gösta und Regine, Sabine und Lars. Aber dann würden sie überrascht feststellen, dass aus­gerechnet ich ihren Traum wahr gemacht hatte, den Traum vom Wohnen auf dem Land, hinterm Deich. Der Deich lag zwar ­aufgrund von Landgewinnungsmaßnahmen seit Jahrhunderten nicht mehr am Meer, die Küste war zwei Kilometer weit weg, hinter einem richtigen Deich, aber trotzdem: Es war gut, dass ich hier war. Schön war es auch. Irgendwie.

Da ich nicht kellnern konnte, hatte ich während des Studiums angefangen, Groschenromane zu übersetzen, die von Frauen handelten, die erst unglücklich waren und dann dem Werben von Baronen beziehungsweise Chefärzten nachgaben. Aufgrund des drastischen Vokabulars, mit dem dieses Nachgeben geschildert wurde, nannte ich sie Hausfrauenpornos.
Nach dem Examen hatte ich diesen Studentenjob zu meinem Beruf gemacht. Ich war gerade mit Arthur zusammengezogen, wir tranken morgens gemeinsam Kaffee im Bett, dann fuhr er in sein Atelier, ich übersetzte bis in den späten Nachmittag hinein und kochte uns Abendessen – verbrachte meine Tage zwischen Hausfrauenpornos und Hausfrauentätigkeiten. Immer wenn ­jemand fragte, was ich nach dieser, wie alle annahmen, Übergangs­lösung machen wollte, zuckte ich mit den Schultern.
Dann zogen auch Gösta und Regine zusammen und gaben eine Einweihungsparty, auf der ich Thorsten Fricke kennen lernte, der als Lektor beim Farnsdorff Verlag vor den Toren Hamburgs arbeitete. Leute, die sich viel mit Literatur beschäftigten, fragte ich gern, wer ihr Lieblingsschriftsteller sei. Es amüsierte mich, wie anscheinend niemand darauf antworten konnte, ohne mindestens fünf Namen zu nennen, doch Thorsten Fricke zögerte keine Sekunde und sagte:
»Henry LaMarck.«
»Habe ich mal gehört«, sagte ich.
»Aber nie was gelesen?«
»Nein.«
»Das sagen alle. Niemand in Deutschland liest Henry LaMarck. Dabei ist er im Rest der Welt ein Star. Der verkauft Millionen und ist seit Jahren für den Nobelpreis im Gespräch.«
»Geht das beides zusammen?«
»Bei Henry LaMarck offensichtlich schon.« Dann gab er mir ein Buch, das er aus irgendeinem Grund dabeihatte. »Wird dir gefallen.«
Ich wollte eigentlich nur den Klappentext lesen, las dann den letzten Satz, den ersten, den zweiten, den dritten, während ­Thors­ten Fricke einem Kunstgeschichte-Studenten in die Küche folgte. Regine hatte gerade mit Gösta, Sabine und Lars ihren ersten ­Salsa­kurs gemacht, und sie fingen an zu tanzen; lateinamerikanisches Lebensgefühl klingelte durch das Wohnzimmer, doch ich stand da und las. Als immer mehr Partygäste anfingen zu tanzen, ging ich in die Küche zu Thorsten Fricke, der dem Kunstge­schichte-Studenten in die Augen sah und fragte: »Und wo bist du in Padua abends so hingegangen?«, wollte nicht weiter stören, ging nach Hause, ohne mich zu verabschieden, und las die ganze Nacht.
Das Buch hieß Unterm Ahorn. Es erzählt die Geschichte von Graham Santos. Mitten im Winter sitzt er auf einer Bank, um ihn herum fällt Schnee, doch er sitzt unter Palmen. Das klingt surreal, klärt sich aber bald auf, denn er sitzt in einem Palmenhaus im Lincoln Park in Chicago. Dort erzählt dieser Graham Santos, wie es dazu kam, dass er nie geboren wurde. Seine Eltern laufen durch den Roman, begegnen sich zwar, kommen aber nie zusammen. Die Mutter ist in den Vater verliebt, geht aber im entscheidenden Moment immer an ihm vorbei, schreibt ihm, ignoriert seine Antworten, verabredet sich mit ihm in einem Café und versetzt ihn, weil sie sich lieber in sexuelle Abenteuer mit mexikanischen Wanderarbeitern und durchreisenden Presse­fotografen verstrickt – Abenteuer, wie sie im Prinzip auch in den Groschenromanen vorkamen, die ich übersetzte, nur dass sie bei Henry LaMarck viel, viel besser beschrieben waren. Statt Kinder zu bekommen und sich in Langeweile niederzulassen, haben die Eltern so jede Menge Spaß, und man hat das Gefühl, dass auch Graham Santos es nicht besonders schade findet, nie auf diese Welt gekommen zu sein.
Erst als ich Unterm Ahorn zu Ende gelesen hatte, fragte ich mich, warum Thorsten Fricke es mir mit den Worten »Wird dir gefallen« gegeben hatte. Wirkte ich so, als sei auch ich Teil eines Lebens, von dem ich mir wünschte, es hätte nie stattgefunden?
Die Übersetzerin hieß Carla Tomsdorf. Ich hätte alles getan, um mit ihr tauschen zu können, zumal ich nach der Lektüre von Unterm Ahorn das Gefühl hatte, es läge an ihren Übersetzungen, dass Henry LaMarck in Deutschland so wenig Erfolg hatte. Ich besorgte mir alle seine Bücher – auf Englisch, als wollte ich die Existenz dieser Tomsdorf negieren, Der Grad der Zerstörung, Junge Mädchen, Farenland – und übersetzte weiter meine Hausfrauenpornos. Ein Jahr später passierte das Unglück, das zum großen Glück meines Lebens wurde: Carla Tomsdorf wurde beim Joggen von einem Lieferwagen überfahren, wie ich aus dem Rundbrief des Übersetzerverbands erfuhr – es hatte sich also doch gelohnt, in der Gewerkschaft zu sein. Sofort rief ich Thorsten Fricke an.
»Du willst Henry LaMarck übersetzen?«, fragte er in einem Ton, als hätte ich verkündet, ich wolle den Verlag kaufen.
»Ihr braucht doch jemanden, oder?«
»Du übersetzt Groschenromane.«
»Henry LaMarcks Texte sind ein raffiniertes Spiel mit Hochsprache und Umgangssprache«, sagte ich.
»Ich kann mal sehen, ob ich dir einen Auftrag für einen Krimi geben kann.«
»Aber ich habe alle seine Bücher gelesen. Im Original.«
»Dich kennt keiner. Das Risiko wäre zu … «
»Ende der Woche schicke ich dir 20 Seiten. Dann nimmst du mich oder eben nicht.«
Das Buch hieß Howards Hotel und war gerade in Amerika erschienen. Der Inhalt tut nichts zur Sache. Was zählte, war, dass ich nun ein Ziel im Leben hatte: Henry LaMarck endlich zu dem Ruhm zu verhelfen, den Deutschland ihm bisher vorenthalten hatte. Thorsten Fricke riskierte es, gab mir den Auftrag, und ­Howards Hotel wurde Henry LaMarcks erster Bestseller in Deutschland.
Seitdem war das erste Suchresultat, wenn ich meinen Namen bei Google eingab, nicht mehr www.stayfriends.de. Brillant über­setzt von Meike Urbanski stand da nun auf den Seiten renom­mierter Zeitungen. Ich war Übersetzerin geworden. Dabei hatte ich mit diesen Hausfrauenpornos nur angefangen, weil ich nicht kellnern konnte und mir nicht zu schade war, Dinge zu übersetzen wie: Sie spürte seine pulsierende Pracht zwischen ihren zitternden Lippen. Doch seit ich Henry LaMarck übersetzte, schien es mir, als hätte ich nie etwas anderes tun wollen. Wenn mein Hamburger Himmel komplett schwarz wurde, machte die Arbeit an seinen Büchern ihn zumindest wieder grau.
Nach dem Erfolg meiner ersten Übersetzung hatte der Verlag mich sogar Unterm Ahorn und andere frühe Romane von Henry LaMarck neu übersetzen lassen. Mit den Groschenroma­nen konnte ich aufhören.
Henry LaMarck hatte die National Medal of Arts bekommen, den National Book Award, den PEN/Faulkner Award, den PEN/Nabokov Award und den PEN/Saul Bellow Award. Und natürlich den Pulitzerpreis. Fast jedes Jahr lieferte er ein neues Buch, doch in diesem Jahr waren alle besonders gespannt, denn Henry LaMarck hatte sich eines großen Themas angenommen, des Terroranschlags auf das World Trade Center. Allen war klar: Er schrieb den ersten Jahrhun­dert­roman des 21. Jahrhunderts. Seit langer Zeit hatte ich nicht mehr mit so viel Vorfreude den Briefkasten geöffnet wie in diesen Tagen, denn der Farnsdorff Verlag hatte mit Henrys amerikanischem Verlag Parker Publi­shing vereinbart, dass ich das Manuskript sofort nach Fertigstellung bekäme, um unter strengster Vertraulichkeit mit der Übersetzung beginnen zu können, noch bevor das Buch in Amerika auf den Markt gekommen war. So ein Star war Henry LaMarck.

Paartherapeuten betonen oft, wie wichtig ein gemeinsames Hobby für die Beziehung sei. Eine Sportart, ein Garten oder Kinder; ein Hobby, das bleibt, wenn die Liebe gegangen ist. Auch Arthur und ich hatten etwas, das wir gern gemeinsam taten: Wir rauchten.
Dann war am ersten Januar nach jenem Weihnachtsfest das Nichtrauchergesetz in Kraft getreten. Arthur und ich hatten mit Gösta und Regine, Sabine und Lars im Schneeweiß gesessen, unserem damaligen Stammrestaurant, in dem man in einem minimalistisch eingerichteten, von indirektem Licht beleuchteten Raum deutsche Hausmannskost auf viereckigen Tellern servierte. Ich hatte am Schneeweiß gemocht, dass Regine und Sabine nichts dagegen tun konnten, wenn ich in ihrer Gegenwart rauchte. Nach dem Inkrafttreten des Nichtrauchergesetzes schien es mir, als sei das Schneeweiß renoviert worden. Alles wirkte merkwürdig klar, es roch nach nassem Hund, Parfüm und Rindsroulade, und mir wurde bewusst, dass ich diesen Laden eigentlich überhaupt nicht ausstehen konnte. Die Wirklichkeit war mir auf den Pelz gerückt. So radikal konnten sich Dinge also verändern, dachte ich, als ich rauchend vor der Tür des Schneeweiß stand, an diesem ersten Januar, an dem noch der Qualm der Silvesternacht hing. Durch das Fenster sah ich Arthur, der sich mit Gösta unterhielt und Zimtkaugummi kaute. An diesem Morgen hatte er das Rauchen aufgegeben. Wir hatten uns weiterhin nichts zu sagen, und ohne die gemeinsamen Zigaretten war aus dem Zusammen-schweigend-Rauchen ein Sich-Anschweigen geworden. Da war mir klar geworden, dass ich nicht mehr hineinwollte, in dieses Restaurant, in dieses Leben. Ich war draußen.

Als Arthur wenig später zu einer Ausstellungseröffnung nach München gefahren war, machte ich alles ganz automatisch, so wie es einem Mann gehen muss, der seine Frau regelmäßig mit Prostituierten betrügt, schaltete ohne nachzudenken – mit schlechtem Gewissen, aber ohne den leisesten Zweifel – den Computer an und sah mich im Internet nach bezugsfertigen Wohnungen um. Alles kam in Frage, nur eines nicht: hierbleiben. Nicht in dieser Stadt bei diesen Leuten, die nicht meine Freunde waren, sondern ich ihr Publikum, das ihnen bei ihrem gelungenen Leben zusah.
Dann fand ich dieses Haus, mit großem Grundstück und trotz­dem sehr billig. Eigentlich wollte ich es nur mieten, doch der Vorbesitzer meinte, es sei kein Problem, wenn ich seine ­Hypo­thek bei der Hypothekenbank HomeStar übernahm. ­HomeStar sei eine moderne Bank aus England, nun auch in Deutschland präsent, die kaum Anforderungen an die Bonität ihrer Kunden stelle, »nicht so pingelig wie die Sparkassen«, hatte er gesagt. Die Küche würde er mir auch überlassen, den Fern­seher mit Satellitenfernsehen und das Bett im Schlafzimmer. Ein Ehebett.
Wenige Tage später war ich eingezogen. Ich konnte zwar kaum etwas anzahlen, aber bald kam ja das Honorar für die Übersetzung von Henry LaMarcks neuem Roman.
Nun saß ich hier, trug zwei Jeans übereinander, drei Paar Socken und hatte eine Strickjacke über den Wollpullover gezogen, sodass ich aussah wie eine Figur aus South Park. Ich saß hier, auf dem Land, allein und mit einem Beruf, der etwas mit Büchern zu tun hatte, und erinnerte mich daran, wie Regine das genannt hatte: »literaturverrückt«.
Wippsäge hieß das Ding: ein rotes Gestell mit einem Sägeblatt in Pizzagröße, das sich, sobald ich den Hauptschalter umgelegt hatte, in Bewegung setzte, immer schneller wurde, schneller, bis ich das Gefühl bekam, es würde gleich aus der Verankerung und direkt in meine Brust geschleudert. Nachdem das nicht passiert war, fand ich die Wippsäge fast niedlich, wie sie da so eilig vor sich hinwirbelte. Ihr leises Sausen legte sich über die saudumme Stille. Ich konnte das. Egal, was sie dachten. Arthur. Gösta, Sabine, Regine, Lars. Ich legte ein Holzscheit auf die Lagerung, kippte sie nur ein wenig nach oben, und die Säge kreischte, Späne flogen. Lars, Sabine, Regine, Gösta. Arthur. Die Säge fraß sich in das Holz hinein, schnell und mühelos. Lärm, Lärm, Lärm! Im Nu hatte ich alles Holz zersägt und legte das erste Scheit auf den Hauklotz. Dann griff ich zur Axt, die viel leichter schien als beim letzten Mal. Am Schaft ein gelber Aufkleber: Selbst ist der Mann. PraxisTest-Testsieger, wollte sie gerade anheben, da sagte eine Stimme hinter mir:
»Ich wollte mal vorbeischauen.« Der Mann verstummte in dem Moment, als ich mich reflex­artig zu ihm umgedreht hatte und ihn, die Axt in der Hand, ansah. Nach einer Weile fügte er hinzu:
»Was hast du eigentlich für Schuhe an?«
Mein Großstädterinnenblick schoss an mir herunter. Trug ich die falschen Turnschuhe?
»Ich würde echt nur mit Stahlkappe Holz hacken«, sagte er. »Wir sind übrigens Nachbarn.«
Ich sah auf seine Füße und überlegte, ob seine Bergstiefel Stahlkappen hatten. Er trug eine ziemlich normale Jeans, und ­unter seiner Allwetterjacke erkannte ich einen Wollpullover und ­einen Hemdkragen, und er schien nicht älter zu sein als ich. Ich sagte: »Meike«, und wunderte mich über den Klang meiner Stimme. Konnte es sein, dass ich seit Tagen kein Wort gesprochen hatte?
»Enno. Du bist neu hier.«
»Seit ein paar Tagen.«
»Ich bin Bauer«, sagte Enno, zeigte in Richtung meines Hauses oder, besser gesagt, darüber hinweg und sagte: »Da drüben. Und was …«, er überlegte einen Moment, hob das linke Bein und klopfte mit der Fußspitze einige Male auf den Rasen, bevor er fortfuhr: » … was führt dich hierher?«
»Ich arbeite hier.«
»Was arbeitest du denn?«
»Ich übersetze.«
»Bücher?«
»Ja, Bücher.«
»Hier?«
»Warum nicht? Ich kann arbeiten, wo ich will.«
»Ja, eben.«
»Ist doch schön hier«, sagte ich, wollte meinen Blick in die Ferne schweifen lassen, blieb aber an dem Reisebuswrack hängen. »Andere Leuten machen hier Urlaub.«
»Und mit dem Holzhacken, wie das geht, das weißt du?«
»Nein«, sagte ich.
»Es kommt darauf an, genau den Punkt zu treffen, den die Maserung vorsieht. Überleg dir vorher genau, wo du hintreffen willst.« Er zeigte auf eine Stelle, an der sich die Maserung verbreiterte wie ein aufgestauter Fluss.
Ich nickte.
»Holz wird zerguckt, nicht zerhackt«, sagte Enno. Ich hob die Axt und legte mein ganzes Körpergewicht in diesen einen Schlag: eine Kerbe.
»Und sobald die Axt in dem Scheit feststeckt, drehst du sie um«, sagte er.
»Ich komme schon zurecht«, sagte ich.
»Na denn«, sagte er und hob die Hand so langsam, dass ich nicht wusste, ob es ein Winken zum Abschied sein sollte oder eher ein gleichgültiges Abwinken, als wollte er eigentlich sagen: »Na denn viel Glück.«
Ich konnte das. Ich schlug zu. Die Axt steckte in dem Scheit, ich drehte sie um, schlug mit der Hinterseite des Axtkopfes auf den Hauklotz, und das Holzscheit zerfiel, von seinem eigenen Gewicht gespalten.
Ich nahm das nächste, schlug zu, ein Mal, zwei Mal! ­Literaturverrückt hin oder her, ich kann Holz hacken. Arthur. Regine. Lars. Salzmühle. Treffer.
Alle sagen, dass alle nach Liebe suchen, aber das stimmt gar nicht. Einsamkeit ist eine echte Alternative, sie und die Liebe sind gleichberechtigt, wenn die Einsamkeit ihr nicht sogar überlegen ist. Auch das nächste Holzscheit hatte keine Chance. ­Arthur, Himalaja-Salz, Lars. Treffer. Ich konnte das. Hackte, hackte, spaltete, splitterte, schlug und schrie, bis es nur noch Kleinholz gab und ich im Wohnzimmer so erschöpft auf das Sofa sank, dass ich nicht einmal mehr an den Briefkasten dachte.

Vorabdruck mit freundlicher ­Genehmigung des Verlags aus: ­Kristof Magnusson: Das war ich nicht. Kunstmann-Verlag, München 2010. 283 Seiten, 19,90 Euro. Der Roman erscheint dieser Tage.

Kristof Magnusson liest 28. Januar (Kantine@Berghain, 20 Uhr) in Berlin aus seinem Roman.