Die LGBT-Bewegung und ihre Gegner in Kalifornien

Homonormale Bürger

Seit über einem Jahr ist in Kalifornien die gleichgeschlechtliche Eheschließung verboten. Während in der LGBT-Bewegung keine klaren Strategien zur Bekämpfung von Homophobie und Diskriminierung erkennbar sind, betreiben die Befürworter des Verbots weiter ihre Propaganda. Mit Erfolg. Eine Bestandsaufnahme aus Los Angeles.

Seit den sechziger Jahren fordert die Bewegung der Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen (LGBT) in den USA rechtliche Gleichstellung und ein Ende staatlicher Diskriminierung. Viele Homosexuelle sind in den USA schon längst »out of the closet«, nicht nur in Hollywood. Im Dezember letzten Jahres wurde in Houston, im US-Bundesstaat Texas, eine offen lesbische Politikerin zur Bürgermeisterin der viertgrößten Stadt Amerikas gewählt. Viele Homosexuelle haben sich in den vergangenen Jahrzehnten im kulturellen und politischen Establishment integriert. Doch dass sie heiraten wollen, geht vielen zu weit.
Im September 1996 unterschrieb der damalige US-Präsident Bill Clinton den Defense of Marriage Act (Doma), ein Gesetz, das auf Bundesebene ausschließlich die Ehe zwischen Mann und Frau als rechtmäßig anerkennt. Bereits der Name des Gesetzes ist bezeichnend: »Verteidigung der Ehe«. Damit wird die (heterosexuelle) Ehe offiziell zur bedrohten Institution erklärt, die der Staat »verteidigen« muss.
Am 4. November 2008 wurde in Kalifornien mit der sogenannten Proposition 8 (Prop 8) in einem Referendum ein Verfassungszusatz durchgesetzt, der die Ehe ausschließlich als Verbindung von Mann und Frau definiert. Fast ein Jahr lang befanden sich daraufhin die 18 000 gleichgeschlecht­lichen Ehen, die vor dem Referendum in Kalifornien geschlossen worden waren, in einer recht­lichen Grauzone. Erst im Oktober 2009 wurde ihre Legalität anerkannt. Die Debatte zum Thema Homo-Ehe ist damit noch lange nicht vorbei. 2009 wurde »Question 1«, eine mit der Prop 8 fast identische Initiative, auch im Bundesstaat Maine zum Gesetz.
Ohne den rechtlichen Schutz der Ehe werden gleichgeschlechtlichen Paaren wesentliche gesetzliche Vorteile aberkannt, die eigentlich jedem mündigen Steuerzahler zustehen. Schwule und Lesben werden dadurch faktisch zu Bürgern zweiter Klasse. Die stattdessen angebotene »eheähnliche Gemeinschaft« erfüllt nicht denselben Zweck, da sie auf Bundesebene nicht anerkannt wird und rechtlich nicht klar definiert ist. »Die eheähnliche Gemeinschaft und die Ehe sind zu 99 Prozent identisch«, erklärt der afroamerikanische Theatermacher und Intellektuelle Paul Outlaw. Er ist seit etwa zwanzig Jahren mit seinem aus Deutschland stammenden Lebensgefährten Ray Busmann zusammen. Heiratspläne haben sie keine. Sie haben sich bereits 1997 auf Hawaii, im Morgenlicht vor einem Vulkan, das Jawort gegeben, rein symbolisch. Dennoch: »Das fehlende eine Prozent befasst sich mit wesentlichen Fragen des Steuerrechts, des Erbrechts und des Gesundheitsschutzes«, sagt Outlaw.
»Die Ehe ist ein überholtes Konzept in unserer Gesellschaft«, fügt sein Lebensgefährte hinzu. »Man muss sich nur die Scheidungsrate ansehen«, sagt er und macht deutlich, dass es ihm nicht um den Kampf für den Erhalt einer Institution geht: »Das Thema der Homo-Ehe bedeutet für mich die Fortführung einer historischen Auseinandersetzung, die in direkter Verbindung zu den Kämpfen der Frauen für das Wahlrecht oder der Afroamerikaner für ihre Bürgerrechte steht.« Tatsächlich ist auch die Definition der vermeintlich so soliden Institution Ehe einem ständigen Wandel unterworfen. Als beispielsweise Barack Obama 1961 geboren wurde, war die Ehe seiner Eltern – eine »Mischehe« zwischen einem schwarzen Mann und einer weißen Frau – in knapp der Hälfte der US-amerikanischen Bundesstaaten noch verboten.
Warum tut sich die amerikanische Gesellschaft mit den Rechten von Homosexuellen, insbesondere mit dem Recht aufs Heiraten, heute noch so schwer? Auf diese Frage hat Paul Outlaw keine Antwort. »Ich muss mich mindestens ein Mal die Woche outen«, sagt er. »Es ist jedes Mal anders. Manchmal ist es leicht, manchmal ist es schwer. Da ich schwarz bin, ist es nicht nötig, mich als Afroamerikaner zu outen. Aber als Schwuler ist das immer wieder notwendig. Es ist bedauerlich, sich ständig dadurch definieren zu müssen, aber an diese Realität muss man sich gewöhnen.«

Auch bei Homosexuellen geht es bei der Ehe um mehr als nur Rechte: »Die Ehe hat eine soziale und auch eine emotionale Bedeutung«, gibt Gene Lucas zu, ein Computerprogrammierer und Schwulenaktivist. »Wir wollen zur Gesellschaft gehören. Wir wollen gleich sein. Amerika nimmt die Ehe sehr ernst.« Für viele Paare spielt die emotionale Komponente eine entscheidende Rolle. So auch für Douglas Hales und David Crittendon, ein Ehepaar um die Sechzig. »Als gleichgeschlechtliches Paar ist man einerseits immer im öffent­lichen Licht und trotzdem vollkommen unsichtbar«, sagt Crittendon. Sie gehören zu den 36 000 Menschen, die in Kalifornien vor Inkrafttreten von Prop 8 legal geheiratet haben. »Wir haben es aus Trotz getan«, erklärt Crittendon lächelnd. »Neun Tage vor der Wahl haben wir uns trauen lassen. Bei uns im Wohnzimmer.«
Für Hales und Crittendon war es das Ende eines langen Prozesses. David Crittendon ist schwarz, und die Black Community tut sich, so heißt es zumindest, mit der Akzeptanz von Homosexualität besonders schwer. Crittendon habe seine Sexu­alität viele Jahre unterdrückt. Schließlich habe er seine Familie verlassen und sich vor seinem Sohn geoutet. »Es war eine der schwersten Entscheidungen meines Lebens«, erzählt er. »Mein Sohn war jahrelang wütend auf mich. Er hat sich wegen mir geschämt. Es hat lange gedauert, bis wir uns wieder nahe gekommen sind.«
Genau das fürchten konservative Kritiker an der Homo-Ehe: den Zerfall der Familie. Dabei verkörpern Hales und Crittendon den Inbegriff des amerikanischen Familientraums: ein ruhiges Renterpärchen mit Eigenheim. Im Vorgarten wachsen Zitronen, in den Waschkörben liegen Männersocken, in der Küche pfeift ein Teekessel. Doch für viele ist dieses schwule Familienidyll gleichbedeutend mit dem Untergang der Zivilisation.
»Was meinen wir eigentlich, wenn wir ›Ehe‹ sagen?«, fragt Bahman Ghahremani, ein junger Aktivist um die dreißig. In einer Kneipe in West Hollywood, dem Schwulenviertel von Los Angeles, sammelt er Unterschriften, um die Prop 8 bei den nächsten Wahlen außer Kraft zu setzen. Es ist ein regnerischer Dezemberabend, viel los ist heute nicht. Der Barkeeper ist mit der Zubereitung von Glühwein beschäftigt. Ein DJ baut seine Anlage auf. Langsam trudeln einige Demonstranten ein, trendige Typen mit MacBooks und Bierflaschen. Die Atmosphäre ist gemütlich, aber wenig »aktivistisch«. Die brennende politische Leidenschaft der sechziger Jahre sucht man hier vergebens.
Ghahremani möchte das ändern. Als er zehn Jahre alt war, verließ er mit seiner Familie sein Herkunftsland Iran und flüchtete vor der religiösen Unterdrückung der Mullahs in die USA. »In mancher Hinsicht«, meint er, »hat das mein Coming-Out einfacher gemacht«. Er sei es gewohnt, zwischen zwei Welten zu leben, aber hier müsse er sich nicht den Erwartungen der Familie beugen, so wie viele Menschen im Iran. Ihm gehe es ums Prinzip: »Das Recht auf Ehe ist schlicht und einfach ein Bürgerrecht.« Warum trifft das Thema gleichgeschlechtliche Ehe in den USA noch auf so hartnäckige Ablehnung? »Wenn sich die Definition der Ehe ändert, dann ändert sich damit auch der gesellschaftliche Diskurs.« Und die heterosexuelle Kleinfamilie ist in den USA ein grund­legender Bestandteil dieses Diskurses, sie gilt als Keimzelle der Nation.
»Gleichgeschlechtliche Beziehungen gelten als kurzlebig«, sagt Ghahremani und erklärt ein verbreitetes Vorurteil der moral majority mit einem Sprichwort: »Wenn es in einem gleichgeschlecht­lichen Paar kriselt, heißt es: ›Pack einfach die CDs in den Kofferraum und zieh weiter‹.« Die Ehe sei da etwas ganz anderes, sie bedeute soziale Anerkennung: »Sie wird von der Gemeinschaft unterstützt, von Nachbarn und Freunden, sie bedeutet Solidität und Bindung.«

Die Ehe hat in den USA einen ungleich höheren Stellenwert als in Deutschland. So werden beispielsweise pro Monat 26 Hochglanzmagazine für Bräute und Hochzeiten in den Handel gebracht. Der sichere Hafen der Ehe gilt als eines der größten Ziele im Leben und eine Scheidung oft als existentielles Scheitern. Wer verheiratet ist, zählt mehr als andere, die es nicht sind. Dieser soziale Druck erklärt unter anderem, warum die Ehe schon immer eines der wichtigsten Themen der LGBT-Bewegung in den USA war.
West Hollywood galt noch vor zehn oder 15 Jahren als ruchloses Sexviertel von LA. Auf der Straße wurde man von transsexuellen Prostituierten angesprochen, und in den Männerklos der Fastfood-Läden ging es heftig zur Sache. Heute merkt man von diesen wilden Zeiten kaum mehr etwas. Die homosexuelle Bevölkerung scheint hier erwachsener geworden zu sein und sich nur noch nach Normalität zu sehnen. Alles ist sauber, ordentlich und angepasst. Die Straßen sind gesäumt von familienfreundlichen Starbucks-Filialen und trendigen Modeläden. Es ist, als ob sich Schwule und Lesben mit dem Rückzug in die Bürgerlichkeit für die Ehe qualifizieren wollten.

Währenddessen ziehen ihre politischen Gegner unbeirrt ihre Vorhaben durch. Die Initiative gegen die Homo-Ehe ging unter anderem von den Anhängern der »Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage« aus, besser bekannt als Mormonenkirche, die sich selbst als Christen sehen, in den Augen vieler aber nur eine spleenige Sekte sind. Die Mormonen berufen sich nicht nur auf das Alte und Neue Testament, sondern auch auf die Schriften Joseph Smiths, eines angeblichen Propheten aus dem 19. Jahrhundert, dessen Vorstellung des traditionellen Ehebündnisses übrigens auch Polygamie beinhaltete. Ein ranghohes Mitglied dieser Kirche, das nur unter der Bedingung sprechen wollte, dass ihm Anonymität zugesichert wurde, gab an, dass sich die Kirchenmitglieder ihren Kampf gegen die vermeintlichen Eherechte »dieser Leute« an die 30 Millionen Dollar haben kosten lassen. Für sie stehe dabei nicht nur die Ehe auf dem Spiel, sondern auch das Prinzip der freien Religionsausübung.
Es gehe ihnen auch um die Aufrechterhaltung traditioneller Werte und den Zusammenhalt der Familie, und sie fürchteten, dass diese Werte in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft abhanden kämen. Gott, so meinen die Mormonen, habe die Menschen zur Fortpflanzung geschaffen, und da wäre es unziemlich, wenn ein Staat die gleichgeschlechtliche Ehe legalisieren würde: »Wir sind für die Ewigkeit geschaffen und sollen uns auch bitteschön so benehmen.« Der Blick in die »Ewigkeit« beeinflusst ihre gesamte Politik. Die Mormonengemeinde hält die Homo-Ehe keineswegs für ein Bürgerrecht. Jedes Kind Gottes soll sich auf einem gottgefälligen Pfad bewegen.
Selbstverständlich habe man nichts gegen Schwule – solange sie sich an die religiösen Dogmen anpassen und ihre Sexualität unterdrücken. Um die Homo-Ehe zu verhindern, haben die Mormonen eine Public-Relations-Agentur damit beauftragt, in den Bundesstaaten Kalifor­nien und Maine eine gezielte Wahlkampagne zu starten. Die Agentur heißt Shubert Flint und hat ihren Hauptsitz in der kalifornischen Hauptstadt Sacramento. Auf wiederholte Anfragen nach einer Stellungnahme reagierte die Agentur bisher nicht. Die Drahtzieher der Kampagne gegen die Homo-Ehe hüllen sich in Schweigen. In einem älteren Interview mit einem Politikmagazin gab Firmengründer Frank Shubert seine politische Strategie preis: »Wir haben zahllose Konferenzen veranstaltet und frühzeitig unsere Strategie mit den Kirchen abgestimmt. Wir haben unsere Online-Präsenz aufgebaut. Wichtig ist, dass wir die Debatte aus dem Feld der Homo-Ehe herausbewegen und uns stattdessen auf andere, übergeordnete Themen konzentrieren: die Religionsfreiheit, die potenzielle Bedrohung unserer Kinder. Je mehr wir diese Themen miteinander verbinden, desto einfacher wird es für uns, die Wähler auf ein Thema anzusprechen, bei dem sie nicht als homophob stigmatisiert werden.« Es geht also darum, Lesben- und Schwulenhasser vor dem Vorwurf der Homophobie zu schützen.
Diese Strategie hat sich als erfolgreich erwiesen. Denn Homophobie ist tief in der amerika­nischen Gesellschaft verwurzelt. Die Zahl der konservativen US-Bürger, die sich im »politisch korrekten« Amerika wie Fremde im eigenen Land vorkommen, ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten größer geworden. Soziale und ökonomische Unsicherheit sind gewachsen. Das durchschnittliche Einkommen ist um etwa vier Prozent gesunken, die Anzahl an Menschen, die ­unterhalb der Armutsgrenze leben, um zwei Prozent gestiegen. Ein Großteil der Amerikaner ­definiert sich selbst als »wertkonservativ« und »gläubig«. Die drei großen Weltreligionen – Christentum, Islam und Hinduismus – lehnen Homosexualität an und für sich ab. »Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel«, heißt es in der Bibel. Andere in der Bibel definierte »Gräuel« dieser Art sind unter anderem Schweinefleisch und Shrimps, aber der Verzehr eines Krabbencocktails löst keinen so großen Aufschrei in der Gesellschaft aus wie ein zwischen zwei adretten Herren ausgetauschter Kuss.

Die LGBT-Bewegung der sechziger Jahre setzte sich gegen Diskriminierung und für Sichtbarkeit und Akzeptanz in der Gesellschaft ein. Der Stonewall-Aufstand 1969 war ein Wendepunkt in der Geschichte der Bewegung für die Rechte von Homosexuellen in den USA, viele betrachten den 28. Juni 1969 als den Geburtstag der Schwulenbewegung. Bei einer Razzia in der Kneipe Stonewall Inn in New York wehrten sich Schwule, Lesben und Transsexuelle zum ersten Mal gegen staatliche Gewalt. Die historische Bedeutung dieser Zeit wird in den USA noch heute debattiert. Für manche ist es eine Zeit des Fortschritts, für andere wiederum der Anfang vom Ende.
Die Bewegung leide heute an »Auflösungserscheinungen«, meint Bahman Ghahremani. »Es gibt kaum interne Übereinstimmungen, kaum gemeinsame Positionen, auf die man sich beziehen kann«, erklärt er. »Sie definiert sich in erster Linie durch gesellschaftliche Diskriminierung von außen.« Es existiere kein solides Wertefundament, »wie es bei den Kirchen der Fall ist«. Die Bewegung sei eine äußerst heterogene Koalition, bestehend aus verschiedenen Gruppen, Ansichten und Überzeugungen bezüglich der Ziele und Formen der politischen Arbeit.
Zusammengeschweißt wurde die Bewegung zum letzten Mal in den achtziger Jahren, als sich mit der Verbreitung der Aids-Epidemie das homophobe Klima in der Gesellschaft verschärfte. Durch die Verbindung von Homosexualität und Krankheit wurden Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle aufgrund ihrer angeblich »riskanten ­Lebensweise« stigmatisiert und HIV-Infizierte sozial völlig isoliert. Vor diesem Hintergrund entstand Ende der Achtziger ein neuer Aktivismus. 1987 gründete sich die Organisation Act Up (Aids Coalition to Unleash Power), die mit spektakulären und medienwirksamen Aktionen die Si­tuation von Menschen mit HIV ins Zentrum des gesellschaftlichen Diskurses bringen wollte. Bleibt heute von diesen Kämpfen nur noch der Wunsch nach Ehe und Familie, nach Homonormalität?
In West Hollywood erinnert ein ebenso anrührendes wie nützliches »Verkehrsdreieck der Menschenrechte« an Mattew Shepard, einen 21jährigen Studenten, der 1998 in Laramie, im Bundesstaat Wyoming, von zwei Männern zu Tode gefoltert wurde, weil er schwul war.
Die LGBT-Bewegung will 2010 in Kalifornien die Prop 8 außer Kraft setzen. Aber ist das realistisch? Gene Lucas schüttelt den Kopf. »Wir sind nicht gut organisiert. Bei den Treffen, bei denen ich war, ging es mehr um die Farbe der Schilder als um die Inhalte. Die Veranstalter wollen Konfrontationen auf jeden Fall vermeiden. Keine öffentlichen Kundgebungen. Wer Demonstrationen machen will, muss sie selbst organisieren. Und die Schilder selbst bezahlen.«