Trends in der Elektro-Avantgarde

Lauter Laptop

DJs und Elektro-Avantgardisten kooperieren verstärkt mit der Klassischen Musik. Was sich bislang in der Subkultur tummelte, erfährt eine zusehends breitere Öffentlichkeit.

Einige Männer stehen hinter ihren Laptops und musizieren mit den daneben stehenden Bläsern, Streichern und Gitarristen. Was wie ein stilistisches Tohuwabohu anmutet, ist seit einiger Zeit auf allen mög­lichen Bühnen zu sehen. Denn elektronische Musik und Klassik reichen sich in Form eines orchestralen Zusammenspiels die Hand. Wegbereiter dieser Fusion ist das Laptoporchester. Vor sechs Jahren hat sich das Ensemble innerhalb der Berliner Elektro-Szene formiert, ­mittlerweile nennen sie sich Endliche Automaten.
Die menschlichen Automaten heißen Nicolas Weiser, Oliver Kiesow, Alexander Augsten, Stephane Leonard, Shintaro Miyazaki und Marek Brandt. Die sechs Musiker benutzen Notebooks als Instrumente, interpretieren und dekonstruieren Werke aus sämtlichen musikalischen Genres.
Marek Brandt ist seit Anbeginn dabei. Der 39jährige Fotograf und Medienkünstler betrachtet sich als Pionier einer populär werdenden Stilrichtung elektronischer Musik. »Wir sind Wegbereiter für jene, die das Laptop wie ein klassisches Musikinstrument benutzen, damit proben und nach Noten spielen«, sagt er. Kurz nach den Berlinern formierten sich Laptoporchester in Princeton, Moskau und Tokio.
Was die Endlichen Automaten spielen, ist mehr Soundcollage denn eingängige Musik. »Wir machen Experimentalsound, der immer an der Grenze zur Klangkunst ist. Wir nennen das zeitgenössische Audio Art«, sagt Brandt. Klaviertöne werden überlagert von Sprachsequenzen, Vogelgezwitscher wird unterbrochen von Maschinengeräuschen. Mal knarzt es hier, dann fiept es dort und plötzlich setzt ein Beat ein. Ab diesem Moment ist auch für den Laien eine gewisse Melodik auszumachen. Was für manche wie ein Sound-Mischmasch erscheint, folgt einer aus Noten bestehenden Grundpartitur, die dann in ihre Einzelteile zerlegt und wieder zusammengesetzt wird. Dabei wird stets improvisiert und von der Partitur abgewichen. Instant Composing nennt sich das, also eine Art Momentkomposition, vergleichbar mit dem Free-Jazz. Denn wie bei den Jazzern driften die Laptopmusiker in unüberschaubare Klangwelten ab, um zu ihrem Grundmuster, der Grundpartitur, zurückzukehren. Innerhalb des Orchesters gibt es eine Spezialisierung auf bestimme Klangkonstrukte – die einen kümmern sich um Rhythmusstrukturen, andere sind zuständig für melodische Elemente. »Jeder von uns hat eine Spielanweisung, damit jeder weiß, zu welcher Zeit mit welchem Volumen welcher Sound reinkommen muss. Das ist nicht so leicht, daher proben wir oft«, sagt Brandt. Weil es langweilig ist, sechs Männern dabei zuzuschauen, wie sie hinter ihren Rechnern stehen, sind bei Auftritten Videokünstler dabei, die ­Installationen oder Videos zeigen. Manchmal werden die Endlichen Automaten auch von Percussionists unterstützt.
Im letzten Frühjahr tourten sie durch Mittel- und Osteuropa. In Tschechien, Ungarn, Kroatien, Bulgarien und Rumänien haben die Soundpioniere gespielt und vor Ort stets mit einem einheimischen Komponisten zusammengearbeitet. Diese Reise wurde von der Robert-Bosch-Stiftung und von den Goethe-Instituten der jeweiligen Länder finanziert. Noch in diesem Jahr wird eine DVD über die Kompositionsreise erhältlich sein. »Wir treten nicht oft auf, die meisten gehen ihren Jobs nach«, sagt Brandt. Die Musiker haben allesamt Berufe, die mit Kunst zu tun haben. Nicolas Weiser ist Drehbuchautor, Alexander Augsten Möbeldesigner, Stephane Leonard Filmemacher, Oliver Kiesow Lektor und Shintaro Miyazaki macht seinen Doktor in Medienkunst. Das nächste gemeinsame Projekt findet 2011 statt. »Ein ungarischer Komponist wird für uns ein Stück von Franz Liszt umschreiben, so dass wir ernste Musik mit elektronischen Komponenten anreichern können«, sagt Brandt.

Musik, die eingängiger ist als die der Endlichen Automaten und die dennoch zur elektronischen Avantgarde gehört, bietet das Redux Orchestra von Ari Benjamin Meyers. Der in Berlin lebende New Yorker komponiert und spielt in mehreren Rockbands, dirigiert Opernstücke, musiziert für Film, Theater und Tanz. 2005 hat der 37jährige Meyers das Orchester gegründet – eine Formation von Elektronik- Musikern, die mit Bläsern und Streichern sowie einer Rockband zusammenarbeiten. Das Redux Orchestra tritt hauptsächlich in Clubs und bei Musikfestivals auf. So gab es im Berliner Club Watergate regelmäßige Konzerte, bei denen Meyers Teile seines Orchesters mit Pionieren der elektronischen Musik vereinte. In diesem Jahr schuf er das siebzigminütige Orchesterwerk »Symphony X«, das auch als Tonträger erhältlich ist. Er will »neue Kompositionen schaffen, die außerhalb von E- und U-Musik liegen«. Es sollen Grenzen gesprengt und Konventionen überwunden werden. Lieder, wie sie Meyers komponiert, dauern gut und gerne mehr als zehn Minuten, bedienen kein klassisches Genre und bewegen sich noch innerhalb der elektronischen Subkultur. Doch auf dem Musikmarkt erscheinen vermehrt Tonträger mit Aufnahmen von Elektro-Klassik-Fusionen.

Ein wichtiger Elektro-Avantgardist ist auch der in Berlin lebende Ricardo Villalobos – der so genannte Papst des Minimaltechno. Er hat vor drei Jahren Narod Niki gegründet, ein Ensem­ble, das aus acht international renommierten DJs besteht, die gemeinsam mit einer Swing-Band spielen. Sie treten nur ein- bis zweimal im Jahr auf, etwa beim Montreux-Jazzfestival, dem Sonar-Festival und im Berliner Admiralspalast. Wie das funktioniert? Jeder DJ programmiert eine Tonspur an seinem Laptop, die einzelnen Spuren werden dann von einem Dirigenten, der innerhalb der DJ-Truppe bestimmt wird, zu einem Klangkonstrukt zusammengemischt. Dazu ertönt Swing- und Jazz-Musik, eingespielt von echten, leibhaftigen Musikern – eine elek­tronisch swingende Mixtur aus Menschen- und Maschinenmusik.

DVD-Release der Endlichen Automaten am 5. März in Leipzig, im Kino Luru, Spinnereistr. 7, Haus 18, 19 Uhr