Der Fall Caster Semenya

Zu schnell für eine Frau

Ist Caster Semenya, Weltmeisterin über 800 Meter, eine Frau? Ihr Fall zeigt, dass die Geschlechtertrennung im Sport nicht einfach die Vorstellung einer natürlichen Zweigeschlechtlichkeit unterstützt, sondern sie auch genauso in Frage stellen kann. Weil das den Leistungssport verunsichert, wird am 17. und 18. Januar ein Symposion des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) in Miami über Richtlinien für den Umgang mit intersexuellen und transsexuellen Sportlern beraten.

Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2009 in Berlin: Die 18jährige Caster Semenya gewinnt die Goldmedaille über 800 Meter. Doch der souveräne Sieg der jungen Südafrikanerin wird von Diskussionen und Gerüchten über Caster Semenyas männliches Aussehen überschattet. »Ist diese First Lady des Sports wirklich eine Lady?«, fragen Journalisten seit dem ersten Auftreten der Weltklasseläuferin im Berliner Olympiastadion. Darf sie überhaupt gegen Frauen antreten?
Caster Semenyas tiefe Stimme, ihr muskulöser, durchtrainierter Körper und wohl auch ihre flache Brust werden zum Anlass für Spekulationen über ihr Geschlecht. Hinzu kommt Semenyas starke Leistungssteigerung in den vergangenen zwölf Monaten. In dieser Zeit hat sie ihre Bestmarke über 800 Meter um fast zehn Sekunden verbessern können und sich damit in die Elite der Läufer katapultiert. Der Umstand, dass eine Unbekannte in kurzer Zeit zur Weltmeisterin wird, Es ist ungewöhnlich und schon allein dieser Umstand erregt Zweifel auf sich: Geht da alles mit rechten Dingen zu? Kann das eine Frau sein? Die International Association of Athletics Federations (IAAF) will sicher gehen und ordnet einen Geschlechtstest an. Man wolle überprüfen, ob Semenya durch bestimmte physische Gegeben­heiten anderen Athletinnen gegenüber bevorteilt sei, heißt es von Seiten des Sportverbandes. Die IAAF betont allerdings, dass die Südafrikanerin weder unter Dopingverdacht stehe noch unter dem Verdacht, absichtlich ein falsches Geschlecht angegeben zu haben. Es gehe ausschließlich darum herauszufinden, wer Caster Semenya ist. »It’s about who she is«, betont IAAF-Sprecher Nick Davies.

Für Semenya selbst klingt das vermutlich reichlich absurd. Denn wer sie ist, das weiß sie selbst wohl am allerbesten: eine junge Frau mit großem Lauftalent, die es dank hartem Training und viel Disziplin an die Leichtathletik-Weltspitze geschafft hat. »Gott hat mich so gemacht, wie ich bin«, sagt Semenya voller Selbstbewusstsein. Im und um das Berliner Olympiastadion interessiert das im August und September 2009 jedoch kaum jemanden. In den Augen der Weltöffentlichkeit gilt Caster Semenya als kurioses Phänomen, als Zwitter und Hermaphrodit, als »Mensch mit Intersexualität«, wie es in einem Bericht des ZDF heißt. Ein Reporter spricht sie kurz nach ihrem Sieg auf die Spekulationen an. »Ich weiß nicht, von wem das kommt, ich gebe nichts auf das Gerede«, antwortet Semenya. Ohne über die von ihr erbrachte Leistung sprechen zu dürfen, über all die Arbeit, die für sie ebenso wie für jede andere Läuferin in den knapp zwei Minuten eines 800-Meter-Laufs steckt, verschwindet sie in den Katakomben des Olympiastadions. Eine gefeierte Siegerin ist sie in diesem Moment nicht.
So wie Caster Semenya ging es in der Geschichte des Sports schon vielen Athletinnen. Allein seit 2005 mussten sich nach Aussage des IAAF-Generalsekretärs Pierre Weiss acht international erfolgreiche Sportlerinnen einem Geschlechtstest unterziehen. Auch bei ihnen bestanden Zweifel an ihrer Weiblichkeit. Vier der untersuchten Athletinnen seien von der IAAF aufgefordert worden, ihre Karrieren zu beenden, wird Weiss in der Online-Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung zitiert. Die Namen oder Nationalitäten der Betroffenen will die IAAF allerdings nicht veröffentlichen. Im Falle Caster Semenyas ist es für diese Art der Diskretion zu spät. Der Körper der erst 18jährigen Läuferin steht bereits im Mittelpunkt der Berichterstattung.
Dass die Spekulationen und Gerüchte nicht spurlos an Semenya vorübergehen, zeigt sich kurz vor der Siegerehrung. Sie will der Zeremonie aus Protest gegen die Verdächtigungen fernbleiben. Angesichts der Tortur aus öffentlicher Bloßstellung und Diffamierung, die sie allein bis zum Tag ihres Finalsieges durchstehen musste, hätte man ihr dies nicht verdenken können. Wie fühlt es sich an, wenn Funktionäre, Medizinerinnen und Mediziner und mit ihnen ein ganzes Millionenpublikum über etwas diskutiert, das für einen selbst von Geburt an selbstverständlich war: das eigene Geschlecht und die damit verknüpfte Identität? Caster Semenya steht schließlich doch auf dem Treppchen und nimmt ihre Goldmedaille in Empfang. Wie eine unbeschwert strahlende Siegerin wirkt sie da jedoch nicht.

Die Unnachgiebigkeit im Umgang mit Sportlerinnen wie Caster Semenya, die kompromisslose Entweder-Oder-Frage »Mann oder Frau«, spiegelt ein zentrales Problem des modernen Wettkampf­sports wider: die Verknüpfung der Prämisse gleicher Ausgangsbedingungen mit der Einteilung aller Sporttreibenden in Männer und Frauen. Von der Kreisklasse bis zur Bundesliga, von regionalen Meisterschaften bis zu den Olympischen Spielen gilt: Wer um Titel, Urkunden und Medaillen kämpfen möchte, muss sich eindeutig als Mann oder Frau zu erkennen geben. Männer gegen Männer, Frauen gegen Frauen. Das ist das grundlegende Prinzip des Wett­kampf­sports. Von einigen wenigen Ausnahmen wie etwa den Reitsportarten, Motorsportdisziplinen oder Billard abgesehen. Hinter der strikten Trennung der Geschlechter steht die landläufige Annahme, dass es zwei klar voneinander trennbare Sorten von Körpern gibt: männliche und weibliche. Diese unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihres Aussehens, sondern vor allem auch hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit. Gerade der Sport scheint dies – zumindest oberflächlich betrachtet – immer wieder aufs Neue zu beweisen. Der Sport sei förmlich eine visuelle Empirie der Geschlechterdifferenz, schreibt die Kölner Sportsoziologin Ilse Hartmann-Tews. Der Sport führt uns vor Augen, dass Männer schneller laufen, höher springen und weiter werfen als Frauen und dass sie zudem muskulöser und aggressiver sind. Nichts scheint daher sinnvoller als die Unterteilung in Männer- und Frauenteams, Männer- und Frauenwettbewerbe.
Dass allerdings die Einteilung aller Menschen in nur zwei Geschlechter selbst aus medizinischer Sicht gar nicht so leicht und selbstverständlich ist wie im Alltagsverständnis angenommen, das zeigt der Sport immer wieder; so auch im Fall Caster Semenyas. Die Natur der Geschlechter entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als weitaus variabler und uneindeutiger, als sich Sportfunktionäre das wünschen. Darauf machen heute nicht nur Geschlechterforscherinnen und Geschlechterforscher aufmerksam. Auch Medizinerinnen und Mediziner erkennen mittlerweile an, dass die im Alltag selbstverständliche Differenzierung in nur zwei Geschlechter eine Simplifizierung ist. Die so genannten primären Geschlechtsmerkmale sind aus medizinischer Sicht schon lange nicht mehr das einzige Indiz für die Geschlechtszugehörigkeit einer Person. Auch Chromosomen, Hormone und Gonaden sind zusätzliche biologische Merkmale, die erst in einer spezifischen Kombination das ergeben, was der IAAF-Funktionär Pierre Weiss als »hundertprozentige Frauen« bezeichnet. Abweichungen von dem, was insbesondere im Sport als normal erachtet wird, sind daher aus biologisch-medizinischer Sicht weder verwunderlich noch unnatürlich. Sie sind vielmehr an der Tagesordnung.

Der Sport hält jedoch an der Differenzierung in Männer und Frauen fest und versucht mithilfe eines medizinischen Kriterienkatalogs der Geschlechtervariabilität und der Körpervielfalt habhaft zu werden. Was aber bedeutet das für diejenigen, deren Körper Verwirrung stiften? Wie geht der Sport mit Athletinnen wie Caster Semenya um, die aufgrund eines erhöhten Testosteronspiegels oder ähnlicher physiologischer Gegebenheiten nicht mehr in das medizinische Raster der »hundertprozentigen Frau« passen?
Ganz banal formuliert ergibt sich aus dem Phänomen der Geschlechterdiversität bzw. aus dem, was als Intersexualität bezeichnet wird, für den Sport ein Zuordnungs- und Integrationsproblem. Mit Menschen, die als Männer leben und deren Körper nicht zu 100 Prozent der medizinischen Norm entsprechen, muss sich der Sport dabei in der Regel nicht auseinandersetzen. Sie schaffen es erst gar nicht an die Weltspitze und ziehen folglich auch nicht die Aufmerksamkeit der Sportwelt auf sich. Athletinnen wie Caster Semenya aber geraten in den Blick der Wächter der Chancengleichheit. Denn ihr Körper stellt die Prämisse der gleichen Ausgangsbedingungen unter Frauen in Frage und wird folglich zur pathologischen Abweichung von der Norm erklärt. Semenya ist demnach keine richtige Frau. Ein hundertprozentiger Mann ist Semenya jedoch auch nicht. Keine der in der Geschichte des Sports als intersexuell bezeichneten Athletinnen, denen das Recht entzogen wurde, als Frau an den Start zu gehen, hat später je an Männerwettkämpfen teilgenommen. Kein Wunder, im Männersport hätten sie keine gleichen Ausgangsbedingungen vorgefunden und wären wohl kaum erfolgreich gewesen.
In den vergangenen Jahren ist es für internationale Sportorganisationen schwerer geworden, den Ausschluss von Menschen wie Caster Semenya politisch und moralisch zu vertreten – nicht zuletzt dank zunehmender Kritik an Diskriminierungen. Folglich bemühen sich die IAAF und das Internationale Olympische Komitee (IOC) um Schadensbegrenzung. Und zwar mit Hilfe von Sonder- und Zusatzbestimmungen, die die Bereitschaft des Sports zeigen, grundsätzlich jeden Menschen teilnehmen zu lassen. Herausgegeben wurden Reglements, die es trans- und intersexuellen Menschen – sofern sie spezifische Voraussetzungen erfüllen – ermöglichen, an internationalen Meisterschaften teilzunehmen. Die Sportorganisationen zeigen also guten Willen. Allerdings nur, wenn sich die betroffenen Sportlerinnen und Sportler in das herkömmliche System der zwei Geschlechter integrieren lassen. Sie müssen stets als Männer oder Frauen erkennbar sein und sie dürfen die Geschlechtertrennung im Sport als selbstverständliches Mittel zur Herstellung einer scheinbar natürlich gegebenen Chancengleichheit zwischen Personen gleichen Geschlechts nicht in Frage stellen.

Es sind gerade die Bemühungen des Sports um eine eindeutige Geschlechterdifferenzierung, die letztlich die Brüchigkeit der im Alltag so selbstverständlichen und als natürlich erachteten Zweigeschlechtlichkeit aufzeigen. Wer hätte gedacht, dass es auch medizinisch so großer Mühe und Sorgfalt bedarf, Menschen in Männer und Frauen aufzuteilen? Trotz seiner rigiden Geschlechtersegregation ist der Sport nicht nur ein sozialer Bereich, in dem Männer und Frauen ihre Unterschiedlichkeit beweisen, sondern auch ein Bereich, in dem sich zeigt, dass die Grenze zwischen den Geschlechtern nicht einfach natürlich ist, sondern sozial konstruiert wird.
Und nicht nur das: Indem der Sport auf medizinische Kriterienkataloge zurückgreift, um Chancengleichheit herzustellen und zu erhalten, zeigt er auch, dass er auf Fälle wie den Caster Semenyas anders reagieren könnte als mit einer permanenten Reformulierung medizinischer Geschlechternormen. Was wäre, wenn der Sport auch oder sogar gerade mit Hilfe der Medizin die Prämisse gleicher Ausgangsbedingungen nicht länger an die Einteilung in zwei Geschlechter knüpfen würde, sondern sich ernsthaft erlauben würde, über andere Wettkampfklassen nachzudenken? Das mag im ersten Moment utopisch klingen. Und es bedürfte sicherlich einer genauen Prüfung, ob ein neues, anderes Leistungsklassensystem nicht letztlich die bevorteilen würde, die sowieso im Sport bereits die größte Anerkennung erfahren: die hundertprozentigen Männer. Zugleich ist sicher: Nur wenn über das derzeitige, auf Zweigeschlechtlichkeit fixierte Wettkampfsystems nachgedacht wird, besteht weiterhin die Möglichkeit, großartigen Athletinnen wie Caster Semenya bei internationalen Sportereignissen zujubeln zu dürfen.