Das Buch »Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss« von Avraham Burg

Berg der Hoffnungen

Avraham Burg kritisiert in seiner Streitschrift »Hitler besiegen« eine »Shoahisierung« der israelischen Gesellschaft. Statt sich den politischen Herausforderungen der Gegenwart zu stellen, stecke das Land in der Vergangenheit fest.

Israel müsse sich vom »allgegenwärtigen Holocaust« lösen und ein »neues jüdisches Universum schaffen, das sich vom Leid und den Qualen der jüdischen Geschichte unterscheidet«. Die »Shoahisierung« der israelischen Gesellschaft habe dazu geführt, dass der Holocaust zu einer »theologischen Stütze des modernen Judentums« geworden sei. Dies perpetuiere das erlittene Trauma und führe zu »jüdischer Paranoia« und Aggressivität. Hitler habe letztlich also doch gewonnen – zumindest fast.
Das sind die Grundthesen des ehemaligen israelischen Politikers Avraham Burg, die er in seinem Buch »Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss« aufstellt. Es sind Thesen, die Burg eine Menge Kritik eingebracht haben: Als ein »furchtbares Buch voller Fehler« bezeichnet beispielsweise der den »neuen« israelischen Historikern zugerechnete Benny Morris das Werk. Henryk M. Broder sieht in Burg einen jüdischen »Selbsthasser«, der nach seinen politischen Misserfolgen darum buhlt, einen Platz am »Katzentisch der ›Israelkritiker‹« zu bekommen. Und der Knesset-Abgeordnete Otniel Schneller forderte gar, Burg das mit dem höheren Staatsdienst erworbene Privileg zu entziehen, auf dem israelischen Nationalfriedhof auf dem Herzlberg beerdigt zu werden.
Doch es gibt auch Zustimmung. Moshe Zimmermann, Professor für Deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, bezeichnet Burg als »originellen Kopf«. Und Micha Brumlik nannte das Buch in der Jüdischen Allgemeinen ein »epochales Ereignis« und die Lektüre »für alle, die sich mit Israel verbunden fühlen, beinahe eine moralische Pflicht«.
Der 1955 in Jerusalem geborene Burg hat eine ungewöhnliche Karriere hinter sich: Er ist der Sohn des in Dresden geborenen Rabbiners und Holocaust-Überlebenden Josef Burg, der in Israel über 30 Jahre wechselnde Ministerposten für die Nationalreligiöse Partei innehatte. Als Kritiker der Politik seines Vaters und des Libanonkriegs wurde Burg 1982 Mitglied der Organisation Peace Now, 1985 wurde er Berater von Shimon Peres und 1988 für die Arbeitspartei in die Knesset gewählt. 1995 wurde er Vorsitzender der Jewish Agency und der World Zionist Organisation, und von 1999 bis 2003 war er Sprecher der Knesset. Aufmerksamkeit erregte er mit seinem im Jahr 2003 verfassten Artikel »Das Ende des Zionismus« in der israelischen Tageszeitung Yediot Ahronot. Darin kritisierte er den in seinen Augen moralischen Verfall des Zionismus und forderte als Voraussetzung für eine Zwei-Staaten-Lösung die Räumung sämt­licher Siedlungen. 2004 zog sich Burg aus der aktiven Politik zurück und lebt seitdem als Geschäftsmann und Autor. Die Metamorphose vom staatstragenden Politiker zum Staatskritiker empfindet er als Befreiung. Seine »jüdische Seite« sei in seinem Leben wichtiger geworden, beteuert er.
Burgs Werk ist eine merkwürdige Mischung, es setzt sich zusammen aus aktueller Zustandsbeschreibung Israels, politischem Pamphlet, persönlicher Auseinandersetzung mit dem Vater, jüdischer Religionskritik und seiner »Vision« einer neuen, auf universellen Werten begründeten israelischen Gesellschaft. In Anlehnung an den israelischen Historiker Tom Segev und dessen Buch »Die siebte Million« zeichnet Burg die Entwicklung des israelischen Gedenkens an die Opfer des Holocaust nach und stellt dabei einen »paradoxen Anachronismus« fest: »Israel ist heute wesentlich stärker vom Holocaust geprägt als drei Jahre nach Schließung der Todesfabriken.« Die Ursache für die geringe Bedeutung der Shoah im damaligen öffentlichen Diskurs sieht er einerseits in einer kollektiven Verdrängung begründet, andererseits in dem zionis­tischen Wunsch, eine Trennlinie zwischen der schmerzhaften Geschichte der Diaspora und der Geschichte des Staates Israel zu ziehen.
Die Zäsur in der Erinnerungspolitik stelle der Eichmann-Prozess im Jahr 1961 dar. Danach sei die Gesellschaft in das andere Extrem geschwenkt: Die Shoah sei in Israel heute »präsenter als Gott«. Zum Beweis zitiert er eine Umfrage unter Lehrern in Tel Aviv. 90 Prozent gaben an, die Shoah sei das wichtigste Ereignis in der gesamten jüdischen Geschichte. Seit dem Eichmann-Prozess würde die Shoah politisch in­strumentalisiert und finde Einlass in jedes politische Argument. So bezeichnete der frühere israelische Außenminister Abba Eban kurz nach dem Sechs-Tage-Krieg die Waffenstillstandsgrenzen von 1949 als bedrohlich enge »Auschwitz-Grenzen«. Israel dürfe also keinesfalls zu den Grenzen von vor 1967 zurückkehren. Zudem kritisiert Burg die zahlreichen Vergleiche des amtierenden Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu zwischen Iran und dem »Dritten Reich«. So werde jeder Feind automatisch zu Hitler. Psychologisch erklärt Burg diese Projektion unter anderem mit einer »überhasteten Versöhnung« mit Deutschland. Die Nazi-Rolle sei dadurch auf Israels Feinde übergegangen, mit fa­talen Folgen: »In der Kriegsarena ist die Shoah der Hauptgenerator, der die Mentalität der Konfrontation speist.« Das Land sei zu einem »preußischen Sparta« verkommen.
Um die Dramatik der Situation zu belegen, hat sich Burg eine krude Analogie einfallen lassen: Er vergleicht Israel mit der Weimarer Republik. Wie einst in der Weimarer Republik kämpfen laut Burg in Israel gegenwärtig zwei unterschiedliche Strömungen um die Vorherrschaft – die des »nationalen Traumas« gegen die der »Hoffnung«. Und derzeit sehe es so aus, als würden die »faschistischen« Tendenzen in Israel stärker. Nach der harten Kritik, die diese Analogie in Israel hervorgerufen hat, rechtfertigt sich Burg im Vorwort der deutschen Ausgabe: Die »Rolle einer Analogie in einer Diskussion« sei »zwangsläufig problematisch«. Er habe Israel aber ge­rade nicht mit Nazi-Deutschland, sondern mit der Weimarer Republik verglichen. Das stimmt zwar, doch es wirkt wie ein billiger Trick. Israel ist also nur fast Nazi-Deutschland. So wappnet sich Burg gegen den Vorwurf des Nazi-Vergleichs, der doch insgeheim beabsichtigt scheint. Zitat Burg: »Ich glaube an die kreative Kraft der Polemik.«
Proteste löste auch seine Forderung nach der Abschaffung des »Rückkehrgesetzes« aus, das allen, die nach nationalsozialistischer Definition als Juden galten und unter den Nazis verfolgt worden wären, die israelische Staatsbürgerschaft garantiert. Burg sieht in diesem aus dem Holocaust begründeten Gesetz »das Spiegelbild der Nürnberger Rassengesetze«, die nicht darüber bestimmen sollten, wer Jude sei. Nur wenn die Kopplung der israelischen Staatsbürgerschaft an »Hitlers Gesetze« aufgehoben sei, könne Israel »frei sein«.
In Kombination mit seiner Forderung eines stärker säkular geprägten »Staats für die Juden« – statt eines »Judenstaats« – rüttelt er an den Grundpfeilern des zionistischen Staats­verständnisses. Kontrovers sind zudem Burgs Überlegungen zur gegenwärtigen israelischen Gedenkpraxis. Die Erinnerungskultur sei auf Abschottung ausgelegt, sie entferne die Israelis von anderen Gesellschaften und führe letztlich dazu, dass das Trauma von einer Generation an die andere weitergegeben werde. Kritisch sieht Burg die in den neunziger Jahren ins Leben gerufene »Tour«, auf die israelische Schüler mit ihren Lehrern geschickt werden, um die Konzen­trations- und Vernichtungslager in Polen zu besichtigen. Er bezeichnet diese Gedenkreisen als »verfehlt und gefährlich«, denn der informative Wert dieser Reisen stehe in keinem Verhältnis zu den negativen Auswirkungen einer übermäßig starken Identifikation mit den Opfern. Junge Israelis gingen auf diese Reise und kämen, »emotional überwältigt«, als »veränderte Israelis« zurück. »Statt Heilung zuzulassen, infizieren wir uns selbst.« Man forme eine nationale Mentalität des Traumas, die die Israelis vom Rest der Welt trenne. Die Fixierung auf das eigene Leid mache blind für das der anderen.
Israel müsse das »Tal der Tränen hinter sich lassen und den Berg der Hoffnung erklimmen«. Burg äußert den Wunsch, aus der nationalen Gedenkstätte Yad Vashem eine Gedenkstätte für alle Genozide der Geschichte zu machen. Bei der Schaffung einer universellen Kultur des Gedenkens sollten Israel und Deutschland die Vorreiterrolle einnehmen, denn durch die Shoah seien beide Länder – als Täter und Opfer – miteinander verbunden und dafür prädestiniert, sich gemeinsam für »das Gute« in der Welt einzusetzen.
Es klingt optimistisch, was sich Burg da ausgedacht hat, teilweise auch naiv. Und manchmal ist es hart an der Schwelle zum Kitsch. Dieser etwas zu pathetisch geratene Sound, der sich durch das ganze Buch zieht, ist aber nicht das Problem. Das eigentlich Problematische ist, dass sich Burg auf zwei unterschiedlichen Ebenen bewegt, mal auf der der sachlichen Argumentation, mal auf der der einseitigen Polemik. Es ist unbestreitbar, dass die Shoah einen enormen Einfluss auf die jüdisch-israelische Mentalität hat. Der Anachronismus und eine zumindest fragwürdige Gedenkpraxis sind diskussionswürdig. Den Holocaust aber zu einem monokausalen Erklärungsmuster für den Nahost-Konflikt zu machen, ihn zur Wurzel jedes poli­tischen Arguments zu erheben, ist verfehlt.
Vor allem klammert Burgs radikale israelische Selbstkritik dabei die Politik der arabischen Seite völlig aus. Die Bedrohung durch Antisemitismus und Terror, die Israel erst dazu zwingt, ständig seine Existenz zu verteidigen, kommt nur am Rande vor. Das ist die entscheidende Schwachstelle in Burgs Argumentation. »Hitler besiegen« ist eben keineswegs eine differenzierte Analyse, so dass es kaum verwundert, dass Burg, ein beliebter Interviewpartner bei »Al Jazeera« oder der Jungen Freiheit, auch Applaus von der falschen Seite bekommt.
Dennoch muss man ihn gegen die Vorwürfe einiger Kritiker, er wolle die Shoah vergessen machen, verteidigen. Es geht ihm nicht um eine Bagatellisierung des Holocaust. Es geht ihm auch nicht um einen Schlussstrich, sondern um Traumabewältigung, darum, die »Erinnerung zu bewahren, aber in der Gegenwart zu leben«. »Hitler besiegen« sollte als innerisraelisches Debattenbuch gelesen werden. Der schillernde Kontrast zwischen einer teils überzogenen ­Israelkritik und dem nahezu romantisch verklärten Traum einer universellen Weltgemeinschaft ist zwar befremdlich. Doch trotz seiner Schwächen ist es weniger das Buch eines »jüdischen Selbsthassers« als das Werk eines Idealisten, oder wie Burg von sich selbst sagt: eines »utopischen Juden«.

Avraham Burg: Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss. Campus, Frankfurt/Main 2009, 280 Seiten, 22,90 Euro