Der wirtschaftliche Kollaps einiger EU-Staaten

Ein Leben auf Pump

Griechenland steht vor dem finanziellen Kollaps, aber auch anderen Staaten der Europäischen Union droht der wirtschaftliche Niedergang. Das hängt auch mit der deutschen Lohnpolitik zusammen. Was wären die Folgen, wenn ein Mitgliedsstaat der EU den Staatsbankrott anmelden würde?

Die Gehälter sind seit Monaten überfällig, Krankenhäuser arbeiten nach einem Notfallplan. Die Straßenbeleuchtung funktioniert nur sporadisch, ebenso wie der öffentliche Nahverkehr. Und selbst wenn Busse und Züge noch fahren würden, kämen sie nicht weit. In den Städten herrscht Chaos, Straßenkämpfe toben. Wenn der Staat nicht mehr zahlen kann, bricht seine Ordnung zusammen.
Dieses düstere Szenario wird gerne bemüht, wenn es darum geht, die möglichen Folgen eines Staatsbankrotts zu beschreiben. Doch was bislang wie nach einem Schauermärchen aus weit entfernten Regionen klang, scheint mittlerweile selbst in Europa möglich.

Vor allem Griechenland gilt als heißer Kandidat für den finanziellen Kollaps, nachdem sich dort im vergangenen Jahr das Staatsdefizit plötzlich verdoppelt hat. Die Schulden, die die Regierung bewältigen muss, betragen rund 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Der Vertrag von Maastricht erlaubt gerade mal drei Prozent. Die Rating-Agenturen stuften umgehend die Bonität des Landes herab, was neue Kredite für Griechenland drastisch verteuerte.
Jahrelang hatten die griechischen Statistikbehörden versucht, die katastrophale Quote schönzurechnen. Erst nach einer Revision Ende vergangenen Jahres wurde das wahre Ausmaß der Krise sichtbar. »Die derzeitige Organisation garantiert nicht die Unabhängigkeit, die Intaktheit und die Verantwortlichkeit der nationalen Statistikbehörden«, heißt es in einem aktuellen Bericht der Europäischen Union dazu lapidar. In dieser Woche beschäftigen sich die Finanzminister der EU mit dem Debakel in Griechenland. Ein Staatsbankrott ist angesichts der desolaten Lage nicht ganz auszuschließen.
Es ist wohl kaum ein Zufall, dass die Europäische Zentralbank (EZB) kurz nach dem Bekanntwerden der Situation in Griechenland ein Arbeitspapier veröffentlichte, das den bedächtigen Titel trägt: »Reflexionen über den Ausschluss aus der Währungsgemeinschaft und der EU«.
Griechenland also raus aus der Union? Solche Überlegungen hält der Vorsitzende der EZB, Jean-Claude Trichet, für eine »absurde Hypothese«. Tatsächlich sind in den EU-Verträgen weder für einen Ausschluss noch für einen Austritt irgendwelche Regularien vorgesehen. Im Gegensatz dazu ist jedoch in einer so genannten Bail-Out-Klausel festgeschrieben, dass Staatshilfen von Seiten der EU oder einzelner Mitgliedsstaaten nicht zulässig sind.
Damit stehen die finanziell noch halbwegs stabilen EU-Staaten, allen voran Deutschland, vor einem Dilemma. Helfen sie der griechischen Regierung mit Krediten und Bürgschaften, könnte die­se einfach so weitermachen wie bisher, die Schulden begleichen im Zweifelsfall ja die anderen. Bleiben die EU-Staaten jedoch hart und verweigern jede Unterstützung, sind die Folgen womöglich noch gravierender. Ein bankrotter Mitgliedsstaat würde nicht nur den Euro schwer belasten, sondern die gesamte Währungsunion gefährden.

Schließlich steht eine ganze Reihe anderer EU-Länder vor ähnlichen Problemen. So kämpft Spanien derzeit nicht nur mit der nach Lettland höchsten Arbeitslosenquote in Europa, auch das Staatsdefizit liegt mit 12,3 Prozent nur knapp hinter dem der Griechen. Im Nachbarland Portugal sieht es nicht viel besser aus. Die irische Regierung musste im vergangenen Jahr gigantische Summen in die Bankenbranche pumpen. Italiens Schulden übertreffen die gesamte Wirtschaftsleistung des Landes bei weitem.
Selbst Österreich, das lange Zeit geradezu als wirtschaftliches Vorbild galt, steht unter dem Verdacht, die Kontrolle über seine Finanzen zu verlieren. Die Banken des Landes hatten in den vergangenen Jahren enorme Kredite nach Ost­europa und auf den Balkan vergeben. Wegen der Finanzkrise meldeten zahlreiche Institute Insolvenz an oder mussten verstaatlicht werden, wie kürzlich die Hypo Alpe Adria. Die Bayerische Landesbank, die große Anteile erworben hatte, verlor dadurch fast vier Milliarden Euro.
Alle diese Länder finanzieren ihre Schulden vorwiegend über Staatsanleihen. Wenn Griechenland keine Kredite mehr erhält, würden die Kapitalanleger auch irische oder gar spanische und italienische Staatsanleihen abstoßen, die Zinsen für künftige Kredite würden rapide steigen, weitere Bankrotte könnten folgen.
Zudem ist die Verschuldung Griechenlands so hoch, dass eine Zahlungsunfähigkeit viele Banken, die griechische Staatsanleihen halten, existenziell bedrohen würde. Allein deutsche Institute sollen über 400 Milliarden Euro in Spanien, Italien und Griechenland verliehen haben. Eine weitere Finanzkrise wäre die Folge. Keine Frage, eine solche Entwicklung will die EU auf jeden Fall vermeiden.
Wenn externe Hilfe oder ein Ausschluss wenig realistisch sind, bleibt nur noch übrig, die Ausgaben zu senken. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ging im Dezember beim EU-Gipfel in Brüssel sogar so weit, ein direktes Eingreifen der EU in hochverschuldeten Ländern zu fordern, was bedeutet, die Budgetpolitik dieser Staaten unter Kuratel zu stellen. Die griechische Regierung hatte daher keine andere Wahl, als umgehend einen »Schock-Sparplan« vorzustellen, der sich weitgehend mit den »Vorschlägen« der EU-Kommission deckte.
Der Plan von Ministerpräsident Giorgos Papan­dreou sieht unter anderem Lohnkürzungen und einen Einstellungsstopp vor. Für große Immobilien soll eine Sondersteuer eingeführt werden. Zudem werden die indirekten Steuern für Tabak, Spirituosen und Treibstoffe drastisch erhöht.
Auch in Irland will die Regierung sparen und die öffentlichen Ausgaben um mindestens vier Milliarden Euro senken. Die Arbeitslosenhilfe und das Kindergeld sollen gekürzt werden, Beamte müssen mit 15 Prozent Gehaltseinbußen rechnen.

Die osteuropäischen EU-Staaten kennen diese Maßnahmen schon längst. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hatte sie im vergangenen Jahr hart getroffen. In der Folge gingen in einigen Ländern im wahrsten Sinne des Wortes die Lichter aus. In Lettland wurde die Straßenbeleuchtung reduziert, Krankenhäuser wurden geschlossen und Gehälter von Lehrern und Polizisten gekürzt. Ungarn senkte die Ausgaben für den öffentlichen Transport und für die Renten. Ähnliche Schritte unternahm auch die rumänische Regierung.
Dort zeigt man allerdings auch viel Fantasie, wenn es darum geht, die staatlichen Einnahmen zu erhöhen. So schlug im Dezember ein Parlamentsabgeordneter vor, eine so genannte Whopper-Tax einzuführen: Fast-Food-Gerichte sollten mit einer speziellen Steuer belegt werden, um das Gesundheitsbudget zu entlasten. Ein anderer Abgeordneter hatte im vergangenen Jahr sogar empfohlen, das Donau-Delta zu privatisieren, um mit den Erlösen Schulden abzubauen.
Solche Vorhaben dürften kaum ausreichen, um die gigantischen Defizite zu bewältigen. Die Ursachen für die Misere sehen die Wirtschaftsexperten der EU und des Internationalen Währungsfonds vor allem in der schwindenden Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen Länder. Anstatt ihre wirtschaftliche Produktivität zu erhöhen, hätten die Länder es vorgezogen, über ihre Verhältnisse zu leben. Ein Leben auf Pump sozusagen.
Immerhin stiegen in Griechenland in den vergangenen Jahren die Lohnkosten überdurchschnittlich stark an, ebenso wie in Italien und in Spanien. In Deutschland hingegen rationalisierten die »Unternehmer ihre Produktion, die Beschäftigten verzichteten auf Geld«, schrieb vergangene Woche die Zeit. »So gelang ein kleines Lohnkostenwunder. Auf einmal konnten die deutschen Firmen ihre bis dato billigeren europäischen Konkurrenten verdrängen.« Was liegt also näher, als die Gründe für den wirtschaftlichen Niedergang der südlichen EU-Staaten in ihrer fehlenden Leistungsbereitschaft zu suchen?
Man kann diese Entwicklung allerdings auch anders verstehen. Die Vorteile, die sich Deutschland durch Lohndumping verschaffte, gingen zu Lasten anderer Mitgliedsstaaten, deren Produktion sich entsprechend verteuerte. Seit Jahren belegt Deutschland die letzten Plätze in der Statistik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) über die Lohnentwicklung. Nach einer Anfang Januar im Stern veröffentlichten Studie wird zwischen Hamburg und München heute »in vielen Berufen unterm Strich weniger verdient als 1990«. Die Misere der südlichen EU-Staaten ist ohne die Lohnpolitik in Deutschland kaum zu erklären.
Früher konnten Spanien oder Griechenland ihre Währungen abwerten und so für einen gewissen Ausgleich sorgen. Seit ihrem Beitritt zur Währungsunion gibt es diese Möglichkeit nicht mehr. Deshalb bleibt ihnen nur noch die »interne Abwertung« durch Lohn- und Preissenkungen, um die geschwundene Wettbewerbsfähigkeit zurückzuholen. Diese Maßnahmen müssen diese Staaten nun wohl paradoxerweise unter Aufsicht der EU beziehungsweise unter deutscher Aufsicht durchführen.
Bleibt nur die Frage, ob sich ein harter Sparkurs auf Dauer durchsetzen lässt. In einigen Ländern führen bereits weit weniger harte Auflagen zu massiven Protesten. Es könnte daher doch zu den befürchteten chaotischen Zuständen kommen, allerdings nicht wegen eines Staatsbankrotts, sondern wegen der Maßnahmen, die ihn verhindern sollen.