Der Prozess gegen John Demjanjuk

Geschichte wird gegoogelt

Der Münchner Prozess gegen John Demjanjuk ist erneut ausgesetzt worden.

»Demjanjuk fühlt sich unwohl – Prozess ausgesetzt«, so lautete am 14. Januar die schlichte Nach­richt aus dem Münchner Landgericht. Es war bereits die zweite Unterbrechung der Verhandlung gegen den mutmaßlichen NS-Verbrecher, der wegen Beihilfe zum Mord an 27 900 jüdischen Kindern, Frauen und Männern im Vernichtungslager Sobibor im Zeitraum von Ende März bis Oktober 1943 angeklagt ist. Die Anhörung des als Sachverständiger geladenen Historikers Dieter Pohl soll diese Woche fortgesetzt werden.
John Demjanjuks Wahlverteidiger, Ulrich Busch, dürfte die Pause freuen. Er selbst hatte zwei Verhandlungstage zuvor nicht weniger als eine Aussetzung auf unbestimmte Zeit gefordert – angeblich seien die Richter befangen und das Münchner Gericht für die Fortsetzung des Prozesses nicht zuständig. Die Zeugenaussagen seien »zu weitschweifig« und trügen nichts zum Fall seines Mandanten bei. Ihm selbst sei die Einsicht in Akten verweigert worden. Informationen aus Russland, Israel und den USA, die die Zentralstelle für NS-Verbrechen in Ludwigsburg verwende, seien unbrauchbar, da sie zu einem »internationalen Justizkomplott« beitrügen. Busch warf den »Rechtsgestaltern Rechtsverdrehungen« vor. Besonders »Unterlagen aus dem Sumpf des mutmaßlichen versuchten Justizmordes« aus dem Gericht in Israel, das Demjanjuk 1988 für Verbrechen in Treblinka angeklagt und letztlich 1993 aus Mangel an Beweisen freigesprochen hatte, dürften nicht verwendet werden.
Cornelius Nestler, der Anwalt der Nebenankläger, entgegnete auf Buschs juristische Verschwörungstheorie, er spule seine Anträge wie ein »immer gleiches Tonband« ab. Es gehe darum, die »Stimmen der Kinder der Opfer« anzuhören.

Unter den 40 Nebenklägern sind Überlebende von Sobibor, mehrheitlich aber Angehörige von Personen, die über das Transitlager Westerbork auf der Zugstrecke über Oldenburg, Bremen, Wittenberg, Berlin, Breslau und Lublin nach Sobibor deportiert worden waren. Die Ermordung von Großeltern, Eltern, Geschwistern, Ehefrauen und -männern lastet auf ihnen. »Dies ist das Letzte, was ich noch in ihrem Namen machen kann«, sagte der niederländische Nebenkläger Max Degen bei seiner Anhörung im Dezember mit Bezug auf die ermordeten Verwandten. Er berichtete, wie er im August 1943 als etwa einjähriger Junge in Amsterdam von niederländischen Widerstandskämpfern aus dem jüdischen Kinderheim herausgeschmuggelt und in einem Koffer über die Mauer geworfen wurde. Seinen dreijährigen Bruder, seine Eltern und Großeltern hatten die Deutschen und ihre Kollaborateure im April 1943 in Sobibor ermordet. Der 83jährige Robert Cohen erklärte: »Ich bin hier, weil meine ganze Familie, mein Vater Abraham Cohen, meine Mutter Mietje Ancona und mein drei Jahre älterer Bruder Freddy in Sobibor ermordet wurden.« In einem Fernsehinterview nach seinem Rechtsbewusstsein gefragt, sagte er: »Wenn Deutschland in Zukunft ein demokratischer Rechtsstaat sein will, dann muss Demjanjuk verurteilt werden.«
Während Cohen in Westerbork Strohbetten stopfte, wurden seine Angehörigen im Frühsommer 1943 nach Sobibor deportiert. Er selbst überlebte in ständiger Todesangst in den Lagern Westerbork, Vught, Auschwitz und Mittelbau-Dora. Er fordert, dass Demjanjuk »die letzten Tage seines Lebens hinter Gittern verbringt«.
Bei der Anhörung der Nebenkläger wandte Ulrich Busch ein, er habe gelesen, dass »die Judenpolizei in Westerbork schlimmer gewesen sei als die SS«. Auf Nachfragen des Richters, woher diese Information stamme, erwiderte Busch: »Wenn Sie’s googeln, finden Sie’s.« Bereits am Anfang des Prozesses hatte er die »fremdländischen Wachmänner im deutschen Militär- bzw. Strafdienst« mit Juden, die zur Arbeit in den Sonderkommandos der Krematorien gezwungen wurden, verglichen und zu Opfern erklärt. Robert Cohen bemerkte darauf sehr verärgert: »Alle Juden, die in Westerbork im jüdischen Ordnungsdienst arbeiteten, wurden ermordet! Und was passierte Demjanjuk?«

Jules Schelvis, Überlebender von Sobibor, las zum Andenken die Namen von 20 ermordeten Verwandten vor. Dem Gericht zeigte er eine Transportliste der Todesfahrt vom 1. Juni 1943 aus Westerbork, auf der die Namen des Ehepaars Schelvis und seiner Angehörigen mit der Unterschrift von Albert K. Gemmeker, dem Lagerkommendanten von Westerbork, aufgelistet waren. Gemmeker besiegelte das Schicksal der Insassen des Zuges, wollte aber später vom Vernichtungslager Sobibor nichts gewusst haben.
Mehr als zwei Stunden lang schilderte Schelvis, wie die Amsterdamer Juden am 26. Mai 1943 mit Lautsprecheransagen auf die Straße getrieben und in Straßenbahnen gequetscht worden waren, um sie zum Abtransport ins Durchgangslager Westerbork zu bringen. Die Fahrt nach Sobibor dauerte 72 Stunden. »Wir saßen im letzten Waggon mit 62 Personen und einem Kinderwagen.«
Auf der Rampe in Sobibor wurden die Ankommenden am 4. Juni 1943 von einem »Cordon von Ukrainern mit schwarzen Uniformen und von SS-Männern« empfangen. »Wir wagten es nicht, nach hinten zu schauen, wir wussten nicht, was mit dem Kinderwagen geschah, es ging alles so schnell.« In einer Baracke mussten sie ihr Hab und Gut abliefern. Schelvis war damit beschäftigt, seine Gitarre abzugeben, so dass er nicht mitbekam, wie seine Frau Rachel mit anderen Frauen in eine andere Richtung abgeführt wurde. »Ich konnte ihr noch nicht einmal auf Wiedersehen sagen.«
Als ein SS-Mann 80 gesunde junge Männer ausmusterte, sprach Schelvis ihn intuitiv in seinem »besten Deutsch« an. Dieser habe ihn dann als 81. zu der Gruppe geschickt. »Die anderen waren die Todgeweihten.« Schelvis kam in das Arbeitslager Dorohucza, in der Nähe des Ausbildungslagers für die ukrainischen Wachmänner in Trawniki. Er beobachtete dort, wie zwei Trawnikis Juden abführten, hörte Schüsse und sah, wie sie mit den Kleidern der Erschossenen zurückkamen. In Radom erlebte er die Liquidierung des Ghettos während der »Aktion Erntefest« Anfang November 1943, die die Nazis zusammen mit ihren ukrain­ischen Kollaborateuren durchführten. »Ich kann erzählen, was eine Liquidierung ist«, berichtete Schelvis. »Sie kamen mit Motorrädern, umstellten die Häuser, trieben die Leute heraus und schossen alle tot, auch Kinder.«
Am Ende des Gerichtstags beschrieb Schelvis anhand einer Zeichnung die Funktionsweise des Lagers. Nachdem die Deportierten aus den Waggons gezerrt worden waren, nahmen die Wachkommandos die Selektion vor. Kleinkinder, Kranke und Alte wurden in Loren geladen. Ihnen wurde gesagt, dass sie zum Lazarett fahren würden. Das angebliche Lazarett war aber die Grube III, wo eine Wachmannschaft, zu der möglicherweise auch Demjanjuk eingeteilt war, die Ahnungslosen der Reihe nach erschoss.
Nach dem Bericht gab es fast keine Nachfragen. Nach längerem Schweigen erkundigte sich der Münchner Staatsanwalt Hans Joachim Lutz bei Schelvis, ob er bei der Abgabe seiner Gitarre einen Gepäckschein bekommen habe. John Demjanjuk lag während der gesamten Anhörung ­unbeteiligt auf einer Krankenbahre. Nur während der Erläuterung der Lagerskizze von Sobibor blinzelte er kurz unter seiner Baseballkappe hervor.