Die Provokationen von Benedikt XVI.

Selig sind die Antimodernen

Papst Benedikt XVI. besuchte am vergangenen Sonntag die römische Synagoge. Seine erinnerungspolitische Geste kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er mit der Seligsprechung von Papst Pius XII., der im Nationalsozialismus zur Judenvernichtung schwieg, eine Serie antijüdischer Provokationen fortsetzt.

Dichte Regenwolken hingen über der Stadt, als 1793 eine antisemitische Horde das jüdische Ghetto in Rom belagerte. Die Wolken entluden sich rechtzeitig in einem gewaltigen Gewitter, sodass der Versuch, das jüdische Viertel in Schutt und Asche zu legen, zum Glück misslang. Die römischen Juden gedenken der Rettung vor diesem antisemitischen Angriff mit dem »Mo’ed di piombo«, dem Fest des bleiernen Himmels.
Dieses Jahr fiel der »Mo’ed di piombo« auf den 17. Januar. Eine Hundertschaft Polizisten umstellte das jüdische Viertel, das die Bürger Roms heute noch immer Ghetto nennen, doch nicht zur Abwehr eines neuen antisemitischen Angriffs, sondern zum Schutz des katholischen Kirchenoberhaupts: Papst Benedikt XVI. besuchte auf Einladung des römischen Oberrabbiners Riccardo Di Segni die Synagoge am Tiberufer.

Dass Ratzinger just einen Monat vor seinem Besuch in der römischen Synagoge Papst Pius XII., der während des Zweiten Weltkriegs niemals explizit gegen die Vernichtung der europäischen Juden protestiert hatte, den »heroischen Tugendgrad« verliehen und somit das Verfahren zu seiner Seligsprechung eingeleitet hat, galt vielen als unerträglicher Affront gegenüber den Gastgebern. Weltweit hatten Vertreter jüdischer Organisationen deshalb dazu aufgerufen, die Einladung abzusagen. Doch die römische Gemeinde wollte trotz scharfer Kritik aus den eigenen Reihen am Treffen mit Ratzinger festhalten.
Riccardo Pacifici, der Präsident der römischen Gemeinde, zeigte in seiner Begrüßungsansprache immerhin Verständnis für die Kritiker. Die Geschichte sei eine offene Wunde und das Schweigen von Pius XII. noch immer schmerzlich – man ­respektiere deshalb die Entscheidung all jener, die nicht zum Empfang des Papstes in die Synagoge gekommen seien. Auch Roms Oberrabbiner Riccardo Di Segni wurde deutlich: Das Schweigen eines Menschen im Angesicht des Bösen sei eine Herausforderung für die Nachkommen, zwinge zur Auseinandersetzung, könne sich der Beurteilung nicht entziehen. Ratzinger applaudierte protokollgemäß und verneigte sich vor der kleinen Gruppe der Holocaust-Überlebenden. Mit seinem unverwechselbar deutschen Akzent beteuerte er, der römischen Juden zu gedenken, die »auf tragische Weise« der Vernichtung zum Opfer fielen. Dann aber wollte Ratzinger offenbar einen Schlussstrich gezogen wissen: Die Kirche habe bereits um Vergebung gebeten, nun gelte es einen Schritt weiterzugehen auf dem »unwiderruflichen Weg des Dialogs«. Der Oberrabbiner folgte dieser Weisung unter Vorbehalt. Er warnte den Papst, der Dialog könne nur fortgesetzt werden, wenn die katholische Kirche die im Zweiten Va­tikanischen Konzil festgeschriebene Anerkennung des Judentums nicht in Frage stelle.

Tatsächlich bildet die Einleitung der Seligsprechung von Pius XII. nur den vorläufigen Höhepunkt einer langen Reihe antijüdischer Provokationen seit Ratzingers Amtsantritt. Zunächst führte er das Karfreitagsgebet wieder ein, in dem zur »Erleuchtung« der Juden durch den Christengott aufgerufen wird. Wenige Monate später hob er die Exkommunizierung von vier lefebvrianischen Bischöfen auf. Damit rehabilitierte er nicht nur den Holocaust-Leugner Richard Williamson, sondern allgemein die von Marcel Lefebvre gegründete Priesterbruderschaft Pius X., die die Konzilsbeschlüsse zur ökumenischen Erneuerung ablehnt und auf dem exklusiven Wahrheitsanspruch der katholischen Kirche besteht.
Auch der Konflikt um Pius XII. schwelt schon seit längerem. Anlässlich von Ratzingers Israel-Reise im Mai vorigen Jahres hatte Pater Peter Gumpel, der vatikanische Referent für das Seligsprechungsverfahren, die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem kritisiert, weil dort unter einem Portrait Pius XII. ein Hinweis steht, der dessen Schweigen zur Vernichtung der europäischen Juden offen thematisiert.
Um sich des Problems zu entledigen, dass der Seligsprechung von Pius XII. einige historische Tatsachen im Wege stehen, verlangte jüngst Kurienkardinal Walter Kasper, die Seligsprechung von der historischen Forschung zum Pontifikat von Pius XII. zu trennen. Die historischen Fakten einfach auszublenden, dürfte jedoch kaum möglich sein – denn die Aufnahme eines verstorbenen Christen in den Himmel der Seligen ist nach römisch-katholischem Kirchenrecht gerade von seiner vorbildlichen Lebensführung, den vermeintlich »heroischen Tugenden«, abhängig.
Papst Pius XII., dem Ratzinger nun jene »heroischen Tugenden« bescheinigte, war schon lange vor seiner Wahl zum Papst ein einflussreicher Mann innerhalb des katholischen Kirchenstaats. Gleich nach seiner Ausbildung zum Priester wurde Eugenio Pacelli, wie Pius XII. mit bürgerlichem Namen hieß, in den päpstlichen diplomatischen Dienst aufgenommen. Pacelli war nie ein gewöhnlicher Priester, sondern agierte stets als Politiker im Auftrag des Vatikan. Als »Apostolischer Nuntius«, wie sich die Botschafter des Vatikan nennen, wurde er im April 1917 nach Bayern entsandt. Dort erlebte er nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Münchner Räterevolution. Aus seinen Briefen jener Zeit geht hervor, dass er in ihr das Schreckbild einer jüdisch-bolschewistischen Tyrannei sah. Auch der Weimarer Repu­blik stand er ablehnend gegenüber, sie galt ihm als Ausgeburt der liberalen, kosmopolitischen Moderne.

So verband sich bei Pacelli schon früh der traditionelle christliche Antijudaismus mit den modernen antisemitischen Wahnvorstellungen einer jüdisch-kommunistischen Weltverschwörung. Nachdem er Anfang der dreißiger Jahre als Kardinalstaatssekretär nach Rom zurückberufen worden war, unterhielt er weiterhin enge Kontakte zur Zentrumspartei. Er riet den deutschen Katholiken, dem Ermächtigungsgesetz zuzustimmen, und erarbeitete unmittelbar nach dem Regierungsantritt Hitlers das Reichskonkordat. Dieses bilaterale Abkommen zwischen dem Heiligen Stuhl und den Nationalsozialisten war die erste diplomatische Anerkennung der neuen Macht­haber und verschaffte ihnen einen erheblichen Prestigegewinn im Austausch gegen den Schutz vor der Gleichschaltungspolitik, den der Vertrag dem katholischen Klerus garantieren sollte. Pacelli bat den Münchner Erzbischof Michael Faulhaber, dafür Sorge zu tragen, dass die deutschen Bischöfe ihre kritische Haltung gegenüber den Nationalsozialisten revidierten, schließlich leisteten diese ihren Beitrag zur Abwehr des »Kulturbolschewismus«.
Aufgrund fortgesetzter Verstöße gegen das Konkordat protestierte Papst Pius XI. 1937 endlich doch »mit brennender Sorge« gegen die nationalsozialistische Herrschaftspolitik. Allerdings beklagte er in seiner Enzyklika, die wohl Pacelli für ihn verfasst hatte, nur den »Leidensweg« der Kirche. Die Ausgrenzung und Verfolgung der Juden wurde mit keinem Wort erwähnt. Erst 1939 schien sich Pius XI. doch dazu entschlossen zu haben, den Antisemitismus der Nationalsozialisten zu verurteilen. Ob er tatsächlich eine eindeutige Verurteilung des Antisemitismus formuliert hätte, bleibt ungewiss: Pius XI. starb, ehe die neue Enzyklika fertiggestellt war. Pacelli wurde als Pius XII. zu seinem Nachfolger gewählt. Er ließ das Manuskript in den Archiven des Vatikan verschwinden. Zur Verfolgung und Ermordung der Juden äußerte sich der neue Papst nie. Auch nicht, als die römischen Juden auf der anderen Seite des Tibers, nur wenige hundert Meter von seinem Amtssitz entfernt, in die Vernichtungs­lager der Nationalsozialisten deportiert wurden.

Die »unterschlagene« Enzyklika blieb lange Jahre verschollen. Noch heute ist das Archivmaterial aus der Amtszeit von Pius XII. größtenteils unter Verschluss. Zugänglich sind allein elf Bände »Actes et documents du Saint Siège relatifs à la seconde guerre mondiale« – eine Auswahl historischer Dokumente aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, die der Vatikan selbst zusammenstellte. Belege für die von Ratzinger behaupteten Interventionen, die Pius XII. zugunsten verfolgter Juden »im Verborgenen und in aller Stille« organisiert haben soll, scheinen sich darin nicht zu finden. Dagegen belegt seine Enzyklika von 1943, dass er die Juden in urkatholischer Tradition noch als Christusmörder anklagte, als das Programm zu ihrer Vernichtung bereits in die Tat umgesetzt wurde. Pius XII. blieb bis zu seinem Lebensende ein fanatischer Antikommunist und ein glühender Verehrer von Pius X., der den Modernismus schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts als »Sammelbecken aller Häresien« verdammt hatte. Im Jahr 1954 sprach Pius XII. diesen Papst der Antimoderne, auf den sich die Piusbruderschaft der Le­febvrianer samt ihrer Holocaust-Leugner bis heute bezieht, heilig.
Auch Benedikt XVI. verbindet viel mit den Pius-Päpsten. Der junge Ratzinger studierte in den ersten Nachkriegsjahren im nationalkonservativen Erzbistum München-Freising und erhielt seine Priesterweihe von Pacellis Freund Kardinal Faulhaber. Als Präfekt der Kongregation für Glaubensfragen war es jahrelang offiziell seine Aufgabe, die katholische Kirche gegenüber Häresien zu verteidigen. In diese Zeit fällt seine Klage über den in der europäischen Kultur vorherrschenden Relativismus und sein Appell, Europa möge sich auf seine »christlichen Wurzeln« besinnen. Alle seine bisher veröffentlichten Enzykliken prägt ein antimodernistischer Geist in der Tradition von Pius X. Mit seinen Aufrufen, die vermeintlichen Auswüchse des Liberalismus und Materialismus zu überwinden, greift er Merkmale der Moderne an, die das antisemitische Stereotyp als »jüdisch« charakterisiert. Seine Besuche in Auschwitz, in ­Israel und nun in der Synagoge in Rom sind erinnerungspolitische Gesten, die nicht darüber hinwegtäuschen können, dass sich in seinem Pontifikat moderne Formen des sekundären Antisemitismus mit den traditionellen, überwunden geglaubten Formen des christlichen Judenhasses vermengen.