Auf die »nationale Souveranität« Haitis kommt es nicht an

Auf Souveränität kommt es nicht an

In »failed states« wie Haiti ist die nationale Souveränität ein Mythos. Die Operation der USA hat zahlreiche Mängel, doch die Hilfe allein dem Wettbewerb privater NGO zu überlassen, hätte fatale Folgen.

Meist wird George W. Bush dafür gescholten oder gelobt, dass er die Demokratie mit militärischen Mitteln verbreiten wollte. Doch Bill Clinton hatte es ihm schon vorgemacht, er hatte das US-Militär bereits im Jahr 1994 zur »Operation Uphold Democracy« nach Haiti geschickt, um dem von rechtsextremen Putschisten gestürzten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide wieder zu seinem Amt zu verhelfen.
Diese Episode wird gerne unterschlagen, wenn Linke nun die militärischen Interventionen aufzählen, denn die zeitweilige Unterstützung für den linken Populisten Aristide passt nicht so recht ins Bild. Diese Lücke verweist auf grundsätzliche Schwächen der gängigen linken Theorien, besser sollte man wohl sagen der diffusen Vorstellungen über den »Imperialismus«.
Es gibt in Haiti nichts, was zu plündern sich für eine Weltmacht lohnen würde. Das Problem der Haitianer ist derzeit auch nicht, dass sie zu sehr ausgebeutet werden. Vielmehr werden sie viel zu wenig ausgebeutet. Um ihre Arbeitskraft verkaufen zu können, müssen viele das Land verlassen. Dass der globalisierte Kapitalismus in einer wachsenden Zahl von failed states nicht einmal mehr geregelte Ausbeutungsverhältnisse gewähr­leisten kann, müsste eigentlich der Ausgangspunkt der Analyse und Kritik sein.
So ist es zwar richtig, dass etwa die Auflage des IWF, die Zahl der Staatsangestellten zu reduzieren und die Verbliebenen weiterhin miserabel zu bezahlen, die Folgen der Katastrophe verschlimmert. Falsch ist hingegen die Vorstellung, solche Maßnahmen würden in einem imperialen Reich des Bösen mit dem Ziel beschlossen, die Haitianer zu knechten, sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden.

Nun auf »nationaler Souveränität« zu bestehen und der US-Regierung zu unterstellen, sie entsende Truppen, um das Land zu »unterwerfen« und meist nicht näher benannte politische Ziele zu erreichen, ist absurd. Der Begriff »erratisch« (um­herirrend) kennzeichnet die US-Politik wohl am besten. Man wünscht Stabilität und Entwicklung, schon um die Zahl der boat people in Grenzen zu halten, weiß aber nicht so recht, was dafür zu tun wäre. So wird Aristide mit US-Hilfe erst entmachtet, dann wieder in sein Amt eingesetzt, zehn Jahre später wird er erneut gestürzt, doch akzeptiert man die Wahl seines Verbündeten René Préval zum Präsidenten dann umstandslos.

Die »nationale Souveränität« ist ohnehin ein Mythos, wenn dem Präsidenten kein nennenswer­tes staatliches Personal zur Verfügung steht, das er in Bewegung setzen könnte. Überdies kann eine Regierung auch ein Hindernis bei der Katastrophenhilfe sein. Nach dem Tsunami Ende 2004 wä­re es den Überlebenden in Burma besser ergangen, wenn das Militärregime nicht ausländischen Helfern den Zugang zum Katastrophengebiet untersagt hätte. Die Haitianer selbst scheinen die Souveränitätsfrage recht undogmatisch zu sehen. Lässt die Hilfe auf sich warten, bauen sie Barrikaden. Werden dann endlich Hilfsgüter verteilt, rufen sie »USA, USA«. Sollte sich herausstellen, dass die Hilfe nicht reicht oder an den Bedürfnissen vorbeigeht, werden sie zweifellos wieder protestieren.
Es gibt gute Gründe, die Hilfsaktion der USA zu kritisieren. Da die meisten »Plünderungen« an­gesichts der ausbleibenden Hilfe notwendige Maßnahmen zur Nahrungsbeschaffung waren, hät­ten zwei Dutzend statt 2 000 Marines wohl genügt. Nicht ersichtlich ist, warum zu Beginn des Afghanistan-Kriegs tonnenweise Nahrungsmittel abgeworfen wurden, dies über Haiti aber nicht geschah.
Fraglich ist jedoch, ob schneller und effektiver Hilfe geleistet worden wäre, wenn das US-Militär die Kontrolle über den Flughafen von Port-au-Prince nicht übernommen hätte. Denn immerhin gingen die Amerikaner methodisch vor. So brachten sie ein wenig Planwirtschaft in das kapitalistische Chaos, das konkurrierende Hilfsorganisationen bei solchen Gelegenheiten anrichten. »Korrumpiert durch interne Machtpolitik und die abstoßenden Charakteristika, die man in vielen Großunternehmen findet«, seien zahlreiche Hilfsorganisationen »besessen von der Geldbeschaffung« und dem Ziel, die Aufmerksamkeit der Medien zu erregen, urteilt die britische Medizinerzeitschrift The Lancet. Eine demokratische Planwirtschaft wäre zweifellos vorteilhafter. Doch auf die sozialistische Weltrevolution können die Überlebenden nicht warten, und der Aufgabe, einen solchen Hilfseinsatz zu koordinieren, sind zivile Institutionen wie die Uno derzeit nicht gewachsen.