Der Afghanistan-Einsatz und die linke Kritik

Rauchende Colts

Die Eskalation des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr lässt die Frage nach den Brüchen und Kontinuitäten in der deutschen Weltmachtpolitik aufkommen. Damit steht auch die linke Kritik zur Debatte.

Infolge des Anfang September von einem Oberst der Bundeswehr ausgelösten Bombenangriffs auf zwei von den Taliban entführte Tanklaster bekräftigte die parlamentarische und außerparlamentarische Linke ihre Forderung nach einem sofortigen Abzug der Bundeswehr. Für die linken Kriegsgegnerinnen und -gegner sind die zivilen Opfer von Kunduz ein weiterer Beleg für die menschenverachtende Politik des Westens in Afghanistan. Einige radikale Linke gehen noch weiter. Ihnen zufolge ist das Vorgehen der Bundeswehr ein Ausdruck der Kontinuität eines verbrecherischen deutschen Imperialismus. So stellte die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke in einem Beitrag für die Tageszeitung Junge Welt den Bundeswehreinsatz in eine Reihe mit den Untaten des Kaiserreichs und des Nationalsozialismus: »Vor wenigen Tagen, 70 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, hatten deutsche Soldaten wieder ein Blutbad zu verantworten (…) Der Krieg in Afghanistan ist zu einem schmut­zigen Antiguerillakrieg geworden. Bei der ›Partisanenbekämpfung‹ wurde noch nie auf Zivilisten Rücksicht genommen. Schon die kaiserlichen Soldaten reagierten auf Aufstände in den ›Schutzgebieten‹ mit Gemetzeln an der Zivilbevölkerung, wie etwa 1904–1907 im heutigen Namibia.«
Mit der Behauptung einer solchen Kontinuität steht Jelpke nicht allein. Auch antideutsche Linke sehen mit Blick auf den deutschen Afghanistan-Einsatz die Wiederkehr von Vergangenem. Allerdings stellen sich dabei die historischen Parallelen gänzlich anders dar. So handele es sich beim Bundeswehreinsatz in Afghanistan nicht um einen erneuten Versuch, mit Eroberungskriegen koloniale Ziele zu verfolgen. Der Afghanistan-Einsatz demonstriere zwar den Willen der Bundesregierung zum weltpolitischen Handeln, aber die Betonung der zivilen Komponente des Einsatzes und die Weigerung, die Taliban militärisch zu bekämpfen, müsse vielmehr als Signal an die islamischen Völker verstanden werden. Jenen solle gezeigt werden, dass Deutschland als alternative Großmacht für antiamerikanische Bündnisse bereitsteht. In diesem Sinne erklärte Thomas Becker in der Zeitschrift Bahamas den Bundeswehreinsatz gar »zur (…) deutschen Appeasementpolitik mit militärischen Mitteln«. Eine historische Kontinuität bestünde nicht in Form eines militärischen Imperialismus der gegenwärtigen deutschen Außenpolitik. Im Gegenteil: Der verständnisvolle Umgang mit dem Islam im Allgemeinen sowie der grundsätzlich affirmative Umgang mit der afghanischen Stammeskultur seien Elemente eines völkisch grundierten Antiimperialismus. In Anknüpfung an wilhelminische und nationalsozialistische Pläne, einen antikolonialen Aufstand der afghanischen Stämme gegen das britischen Empire zu entfachen, versuchten die Deutschen auch heute wieder, eine antiwestliche Allianz zu schmieden. Konsequenz dieser Analyse ist die Ablehnung linker Proteste gegen den Einsatz der Bundeswehr. Mehr noch, ein Engagement gegen den Krieg wird als ide­eller Bestandteil einer deutschen Weltmacht­strategie kritisiert. In dieser Logik erscheint eine Intensivierung des Kriegs gegen die Taliban begrüßenswert.
Mit dem Bombardement in der Nähe von Kunduz ist diese nun fraglos auch eingetreten. Die Bundeswehr beteiligt sich an der gezielten Tötung von Taliban. Ganz offensichtlich ist damit die Annahme einer antiimperialistischen »Zivilmacht Deutschland« widerlegt. Doch haben damit diejenigen Linken Recht, die einen ungebrochenen teutonischen Imperialismus in Afghanistan am Werk sehen? Die jüngste Entwicklung des Kriegseinsatzes der Bundeswehr stellt aufs Neue die Fragen, ob und auf welche Weise es sich bei der deutschen Afghanistan-Politik um einen Sonderweg handelt und wie ein solcher zu kritisieren wäre.

Deutsche Zeitschleife
Es mag für Ulla Jelpke sprechen, dass ihr Beitrag, aus dem das obige Zitat stammt, unter der Überschrift »Hochaktuell: Antifaschismus. Der Widerstand gegen Nazibrut und der Kampf gegen Kriegsgefahr gehören zusammen« am so genannten Tag der Mahnung veröffentlicht wurde. Jelpke wollte in kritischer Absicht an deutsche Verbrechensgeschichte erinnern. Doch indem sie den Vernichtungskrieg der Wehrmacht, den Völkermord an den Herero sowie die Bombardierung der Taliban zusammenwirft, wird die gute Absicht zur moralisierenden Effekthascherei sowie zur historiographischen Blamage. Mit ihrer Deutung macht die Autorin die Bundeswehr zur Reinkarnation von Reichswehr und Wehrmacht. Hingegen umweht die Taliban und ihre vor Kunduz getöteten Sympathisanten in Jelpkes Darstellung ein Hauch von antikolonialem und antifaschistischem Befreiungskampf. Angesichts der historischen Ereignisse sind dies völlig falsche Analogien. Der Völkermord an den Herero hatte nicht nur quantitativ eine mit den Zivilopfern der jüngsten Bombenangriffe nicht vergleichbare Dimension, sondern war eine aus dem deutschen Rassismus erwachsene eliminatorische Tat. Der General der deutschen »Schutztruppe«, Lothar von Trotha, handelte mit einer Herrenmenschenmentalität. Er empfand es als notwendig, dass »die Nation« der Herero »als solche vernichtet werden muss«.
Auch die so genannte Partisanenbekämpfung im Zweiten Weltkrieg zielte auf Massenmord. Die Rede von der »Partisanenbekämpfung« war ein propagandistischer Euphemismus für Massaker unter der Zivilbevölkerung. Angetrieben von Vorstellungen über »heimtückische Asiaten« und die »Rohheit bolschewistischer Untermenschen« mordeten die Soldaten der Wehrmacht als Überzeugungstäter im Sinne des nationalsozialistischen Rassenwahns.
Demgegenüber folgt der Bundeswehreinsatz in Afghanistan keinem eliminatorischen Rassismus, auch wenn er immer noch von einem deutschen Überlegenheitsgefühl begleitet ist. Stirbt heutzutage durch den Befehl eines deutschen Offiziers ein Zivilist, dann handelt die Bundesregierung dies als »Kollateralschaden« ab. Im Vergleich zum Verlust eigenen Soldatenmaterials sorgt dies für wenig Trauer. Aber weit entfernt ist die deutsche Gesellschaft heute davon, dies als selbstzweckhafte Vernichtung des afghanischen Volkes zu bejahen. Mit der Bereitstellung einer finanziellen Entschädigung für Opferfamilien wird deutlich, dass das Stillhalten der Afghaninnen und Afghanen und nicht ein Genozid das Ziel der Bundeswehrmission ist. Jelpke verwischt wesentliche Unterschiede zwischen historischen und gegenwärtigen Hintergründen deutscher Kriegstaten. Mehr noch, sie vernutzt die Erinnerung an die deutsche Verbrechensgeschichte, ohne damit eine überzeugende Antikriegsposition begründen zu können.

Deutscher Imperialismus
Die linke Instrumentalisierung der Geschichte hat Methode. Den Hintergrund der falschen historischen Analogie bildet ein simplifizierendes Erklärungsschema, welches sich auch in einem jüngst von Werner Biermann und Arno Klönne veröffentlichten Buch über die Geschichte deutscher Weltmachtpolitik wiederfindet. Demnach ist der Afghanistan-Krieg Ausdruck einer kapitalistischen Raubökonomie, die auf Inbesitznahme von Bodenschätzen, Absatzmärkten und Handelswegen aus ist. Als treibende Akteure der Beutezüge sehen die Autoren das »Großkapital« und den »militärisch-industriellen Komplex«. Jene machten den Staat zum Instrument ihrer Profitinteressen. Aus »diesen Zusammenhängen« erschließe sich nicht nur die derzeitige Machtpolitik Deutschlands, vielmehr würden dadurch auch die historischen »Antriebe und massenvernichtenden Eigenschaften der beiden Weltkriege erklärbar; in beiden Fällen ging es um eine gewalttätige Neuverteilung der Macht auf dem Globus, im politischen und im wirtschaftlichen Sinne«. Diese Verkennung des ideologischen Charakters von Vernichtungskrieg und Holocaust erleichtert es, auch die heutige Außenpolitik Deutschlands als mehr oder weniger originalgetreue Wiederholung der Geschichte zu interpretieren. Für Biermann/ Klönne handelt Deutschland nach wie vor in ­einem imperialistischen Kontinuum des militärischen »Kampfes um wirtschaftliche Macht«.

Deutschlands Interesse
Das Autorenteam nimmt die tatsächlichen Interessen des deutschen Staats im Afghanistan-Krieg nicht zur Kenntnis. Wertet man den öffentlichen Diskurs nicht nur als rhetorische Irreführung, sondern als sprachlichen Ausdruck einer materiellen Wirklichkeit, ist die Sachlage eindeutig. Das Auswärtige Amt legitimiert die Stationierung des deutschen Militärs als Antwort auf den Terror: »Afghanistan darf nicht wieder zum Rückzugsraum für internationale Terroristen werden. […] Wir werden so lange bleiben, bis sichergestellt ist, dass Afghanistan nicht mehr zu einem Land werden kann, aus dem uns Gefahr droht.« Noch genauer als die Bundesregierung unterrichtete Günther Nonnenmacher, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, im Mai 2007 über die deutschen Interessen in Afghanistan: »Der Bezug auf nationale Interessen gerät die meiste Zeit in Vergessenheit, weil das politische Berlin über die Mission in Afghanistan – aus durchsichtigen Gründen – meist unter den Überschriften ›po­litische Stabilisierung‹, ›Aufbau- und Entwicklungshilfe‹ spricht. (…) Doch die politische Sta­bilisierung des Landes am Hindukusch sowie die Sicherung von Aufbau und Entwicklung zum Nutzen der afghanischen Bevölkerung sind – man muss es so deutlich sagen – nur Mittel zum Zweck. Ziel des Afghanistan-Engagements – und das gilt für die im unmittelbaren Wortsinn kämpfenden Verbände wie für alle anderen, gleichgültig woher sie kommen – ist es (…), den Terror ›dort zu bekämpfen, wo er entsteht‹, also Anschläge und andere terroristische Umtriebe ›auf Distanz‹ zu halten.«
Aufbau und Entwicklung sind nur »Mittel zum Zweck« und als solche dem Sicherheits-Paradigma untergeordnet. Von Demokratie und Menschenrechten wird hier nicht mal mehr geredet. Geschweige denn, dass eine realistische Diskussion darüber geführt wird, wie der materielle Reichtum geschaffen werden könnte, der für eine Gewährleistung bürgerlicher Freiheiten unabdingbar ist. Die Ankündigung weiterer Entwicklungshilfe oder der Verweis auf finanziell bereits Geleistetes entpuppt sich mehr und mehr als Hohn. Deutschland hat bisher etwa 900 Millionen Euro für Entwicklungsprojekte in die ökonomische Wüste Afghanistans gepumpt. Im Land leben 32 Millionen Menschen, das afghanische Territorium ist etwa doppelt so groß wie das der BRD. Zum Vergleich: Die Summe deutscher Wirtschaftshilfe bleibt hinter den Kosten des Neubaus der Autobahn von Halle nach Göttingen zurück, die etwa eine Milliarde Euro betragen. Dies vermittelt eine Ahnung davon, mit welch vernachlässigenswertem Aufwand Deutschland und (in ähnlichem Umfang) die anderen westlichen Staaten eine ökonomische Entwicklung in Afghanistan verfolgen. Nur eine solche aber würde es den Menschen erlauben, sich von der »Gewaltwirtschaft« der Banden und Milizen zu lösen. Doch die Verwendung aller finanziellen Mittel der Nato-Staaten wurde nie um der Ziele »Demokratie und Menschenrechte« willen kalkuliert. Deswegen erschien die Hoffnung einiger Antideutscher, die Nato könne durch eine militärisch effektivere Bekämpfung der Taliban demokratische Zustände herbeibomben, schon immer als weltfremd. Allerdings tritt das Kalkül der westl­ichen Interventionsmächte heute deutlicher zu Tage. Im Jahr 2009 gesteht die FAZ ein, dass ausländische Soldaten nicht in Afghanistan sind, »damit afghanische Mädchen wieder zur Schule gehen können«, sondern weil es »um unsere ­Sicherheitsinteressen geht«. Für Deutschland ist Sicherheit, auch »gefühlte«, eine materielle Voraussetzung für die nationale Kapitalakkumulation. Das hiesige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell ist hochgradig international vernetzt und basiert wie kein zweites auf einer internationalen Ordnung mit kalkulierbaren Beziehungen. Folgerichtig sieht die politische Elite in einer von den Taliban kontrollierten Homebase des antiwestlichen Terrorismus eine reale Bedrohung. Als Sachwalter der nationalen Ökonomie hat der deutsche Staat dafür Sorge zu tragen, dass globale Wertschöpfungsketten reibungslos funktionieren, Handelsrouten gefahrlos passiert werden können und die touristischen Reproduktionszonen ihre Leistung erbringen. Mit einer von bestimmten Kapitalfraktionen betriebenen Raubökonomie, die auf Ausbeutung von Ressourcen und Territorien zielt, ist dieses Interesse nicht gleichzusetzen. Vielmehr lässt sich der Afghanistan-Einsatz der Deutschen als »Sicherheitsimperialismus« begreifen. Dass Deutschland in Afghanistan als »Weltpolizist« tätig ist, ist auf eine national und international gesamtkapitalistische Interessenkonstellation zurückzuführen. Doch von Anfang an zeigten sich in der deutschen Afghanistan-Politik nach 9/11 auch politische und ideologische Sonderinteressen.

Deutsche Hybris
Das Schema, demzufolge es ausschließlich Probleme der Kapitalakkumulation waren, die Deutschland zum Anstifter des Ersten Weltkrieges machten, ist kaum aufrechtzuerhalten. Zweifelsohne begehrten Industrielle wie Krupp, Stinnes und Thyssen die Erz- und Kohlevorkommen in Lothringen, Belgien, im Don-Gebiet und im Kaukasus. Neben diesen konkreten Wünschen sowie den Plänen industrieller und politischer Eliten, eine deutsche Wirtschafts­hegemonie in »Mitteleuropa« zu errichten, waren es machtpolitische Ziele der Militärs, aber auch der von der Bevölkerung geteilte Drang nach »deutscher Weltgeltung«, die den Impe­rialismus des Kaiserreichs antrieben. Deutsche aus allen gesellschaftlichen Schichten teilten vor 1914 die Unzufriedenheit über die weltpolitische Rolle ihres Staats. Die aufgrund eines rasanten ökonomischen Aufstiegs von einem Gefühl der Stärke erfüllte Nation sah sich in ihrer Außenpolitik beeinträchtigt. Hinzu kam ein Überlegenheitsdünkel: Das eigene Vorrecht auf weltpolitische Betätigung führte man auf die vermeintlichen Vorzüge des deutschen Idealismus gegenüber dem Materialismus der west­lichen Zivilisation zurück.
Nach der bedingungslosen Kapitulation von 1945 hat man den deutschen Drang zur Weltmacht ein knappes halbes Jahrhundert lang gezügelt. Unter alliierter Kontrolle tabuisierten selbst die bürgerlichen Nachkriegseliten die Reformulierung eines machtpolitischen Anspruchs. Der erste Außenminister der BRD, Heinrich von Brentano, befürwortete 1957 das weltpolitische Wiederbetätigungsverbot: »Die Bundesrepublik von heute, das wiedervereinigte Deutschland von morgen: Sie sind keine Großmacht, geschweige denn eine Weltmacht, und werden es auch nicht mehr in Zukunft sein, ja, sie dürfen nicht einmal den Wunsch haben, es wieder zu werden.« Kaum hatte Deutschland 1990 seine Souveränität wiedergewonnen, artikulierte die Nation den Wunsch nach Größe und Bedeutung. Nur zwei Jahre nach der »Wende« verkündete der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, dass Deutschland nun mit seiner Geschichte abgeschlossen habe und sich künftig wieder »offen zu sei­ner Weltmachtrolle bekennen« könne, diese gar vergrößern solle. Seitdem wiederholt die politische Elite, unabhängig von der jeweils tätigen Regierungskoalition und vom bereits Erreichten, fortwährend den Wunsch nach mehr Einfluss in der Weltpolitik.
Dies bestätigte sich auch in der Afghanistan-Politik Deutschlands. Unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September betrachtete die deutsche Politik den in den USA eingetretenen Schock als günstige Gelegenheit für die Verwirklichung der eigenen Weltmachtambitionen. Der damals amtierende Kanzler Gerhard Schröder sagte, es gehe »in einer nach dem 11. September völlig veränderten Weltordnung« um die »Positionierung Deutschlands«. Dabei dürfe man im Kampf gegen den Terrorismus nicht »Alliierter zweiter Klasse« sein. Das so zum Ausdruck gebrachte Geltungsbedürfnis äußerte sich noch heftiger in der öffentlichen Meinung. Beim Spiegel freute man sich über die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg gegen den Terror mit den Worten: »Deutschland meldet sich endgültig auf der Weltbühne zurück.« Die FAZ feierte die »Abkehr vom politischen Zwergentum« und forderte, »Deutschland müsse die internationale Schutztruppe führen«.
Mit dem Ende der rot-grünen Regierung ließ der aggressive Ton, der Schröders »deutschen Weg« begleitete, nach. Doch hielt auch die Große Koalition am Ziel fest, Weltmacht zu werden. Angela Merkel bekräftigte den deutschen Anspruch auf einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat. Nichts anderes ist von Schwarz-Gelb zu erwarten. Wenige Wochen vor der Amtseinführung Guido Westerwelles schrieb der ehemalige Außenminister Klaus Kinkel dem jetzigen das Ziel ins Stammbuch. Dieser müsse dafür »kämpfen«, dass Europa neben den USA und China ein gleichberechtigter Global Player werde. Um die Fortsetzung des deutschen Weltmachtstrebens müsste sich also, wer es für richtig hält, keine Sorgen machen. Doch das alte Lied, Deutschland käme weltpolitisch zu kurz, verklingt nicht. Der wahrscheinlich dem Radaunationalismus der Ära Schröder nachtrauernde SZ-Kommentator Stefan Kornelius befürchtet, dass sich »die Nation (…) nicht ernst genug bei der Ausübung ihrer außenpolitischer Pflichten und Möglichkeiten nimmt«. Dabei ginge doch viel mehr für die »Wirtschafts-Supermacht«. Der unbefriedigte Geltungstrieb ist jedoch nicht nur ein Spleen von Schröders Anhängern. Umfragen belegen, dass die Hälfte der Deutschen ihr Land als Weltmacht empfindet. Zur Zufriedenheit führte dies nicht: Weit über zwei Drittel der Deutschen wünschen sich »einen größeren Beitrag Deutschlands bei der Lösung der anstehenden Probleme« auf internationaler Ebene.

Deutschland zivil
Nach den Terroranschlägen 2001 war es der unbedingte Wille der Deutschen, mit Soldaten in Afghanistan dabei zu sein. Der Widerstand gegen die von der Nato geforderte Ausweitung des Beitrags des deutschen Militärs zeigte, dass Deutschland nicht nur einer westlichen Strategie folgt. Hinter der Abwehr der Wünsche der Alliierten nach einer Aufstockung des deutschen Truppenkontingents und dem Einsatz der Bundeswehr im afghanischen Süden steckt zweierlei: zum einen die Abwägung der Kosten. Dass die Deutschen Opfer für einen westlichen Imperialismus bringen sollen, lässt sich im eigenen Land immer noch schwer vermitteln. Zum anderen versucht die Bundesregierung, das eigene Vorgehen (im Rahmen der Isaf-Mission der Nato) vom Anti-Terror-Krieg des US-Militärs abzugrenzen. Der deutsche Militäreinsatz gilt hierzulande bei vielen noch immer als überwiegend ziviles Unterfangen. Noch wichtiger wird das in der Außendarstellung. Den Deutschen soll es im Gegensatz zu den schießwütigen Amerikanern, Briten und Kanadiern gelingen, die Menschen für sich einzunehmen. Mit dem Bombenangriff auf die Tanklaster in der Nähe von Kunduz wird die gepflegte Selbstdarstellung, derzufolge man selbst militärisch zurückhaltend handelt, während die anderen eine Strategie »rauchender Colts« verfolgen, aber fragwürdig. Es hat sich gezeigt, dass Deutschland sich nicht im Gegensatz zu den USA befindet. Vielmehr wird von Anfang an eine Doppelstrategie gepflegt: Neben den US-Truppen beteiligt sich die Bundeswehr an der Eingrenzung des afgha­nischen Unruheherds und schafft dabei die Voraussetzung dafür, dass die Bundesregierung ihre Interessen hinsichtlich einer afghanischen Nachkriegsordnung verfolgen kann. In Abgrenzung von den USA versucht sich Deutschland als alternative Weltordnungsmacht zu präsentieren. In der gegenwärtigen innenpolitischen Afghanistan-Debatte und in scheinbar widersprüchlichen Statements aus der Regierungskoalition spiegelt sich das Sonderbare an dieser Außenpolitik. Einerseits wird ein »seit längerem (…) schwindender Einfluss der Deutschen in Afghanistan« bemängelt, »was vor allem mit Berlins zögerlicher Haltung zu mehr militärischem Engagement zusammenhängt«. Vor diesem Hintergrund wird die im November 2009 von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg auf einem Treffen der Isaf-General­stabschefs in Aussicht gestellte Erhöhung des Bundeswehrkontingents verständlich. Andererseits hält sich Deutschland mit einer festen Zusage nach wie vor zurück. Während Großbritannien, Spanien, Italien, Polen und andere Staaten bereits die Entsendung weiterer Soldaten offiziell bestätigten, gibt sich die deutsche Regierung skeptisch. In einem Interview mit der FAZ antwortete Westerwelle auf die Frage, ob Deutschland eine Truppenverstärkung ausschließe: »Ich halte eine Debatte für falsch, die sich nur um die Frage dreht: mehr Soldaten oder nicht.« Stattdessen betonte der Außenminister die nicht-militärische Komponente: »Wir Deutschen sind bereit, mehr zu tun beim Polizeiaufbau, bei der Schulung von Polizei.« Noch stärker wird diese deutsche Afghanistan-Strategie von der SPD befürwortet, die eine »Verstärkung des zivilen Aufbaus« fordert. Unterm Strich bleibt es bei einer Doppelstrategie. Dabei dient sowohl das militärische Handeln als auch das Vorgeben militärischer Zurückhaltung einem Ziel: der Sicherung und Vermehrung deutscher Handlungsmacht.

Deutsches Volkstum
Zu einem Spezifikum der deutschen Afghanistan-Politik gehört die Bezugnahme auf eine lange Tradition. Sowohl das wilhelminische Kaiserreich als auch der NS-Staat hatten versucht, afghanische Stämme, insbesondere die Paschtunen als größte Gruppe, gegen Britisch-Indien aufzuhetzen. Zu einer relevanten Schwächung des Empire kam es nicht. Doch Deutschland wird seit dieser Zeit als europäische Macht wahrgenommen, die keine eigenen kolonialen Interessen verfolgt. Schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhielt Afghanistan deutsche Entwicklungshilfe. Eine Unterbrechung der guten Zusammenarbeit gab es nur zur Zeit der »kommunistischen« Machthaber. Deutschland beendete die Entwicklungszusammenarbeit und unterstützte die antisowjetischen Mujahedin. Das auf diese Weise gewachsene Vertrauensverhältnis half dem grünen Außenminister Joschka Fischer 60 Jahre nach dem Scheitern der antibritischen Pläne, sich im Entscheidungsprozess über die Ordnung nach dem Ende der Taliban-Diktatur als »ehrlicher Makler« aufzuführen. Auf der 2001 in Bonn stattfindenden UN-Konferenz über die Zukunft Afghanistans forderte die deutsche Diplomatie eine Regierung nach ethnischem Proporz und ergriff Partei für eine stärkere Beteiligung der Paschtunen an der Macht. Der Konfliktforscher Conrad Schetter warnte damals vor einer »Verengung des Blicks auf den ethnischen Horizont«. Derlei wurde nicht gehört, wendete er sich doch gegen ein erfolgreiches und anerkanntes Instrument deutscher Außenpolitik. Nach 1990 hatte die Ethno-Politik bereits die Zerstörung der Republik Jugoslawien forciert. Damit knüpfte die neue deutsche Außenpolitik an das alte völkische Prinzip des Nationalsozialismus an.
Demgegenüber bleibt der Stellenwert völ­kischer Kategorisierungen in der Außenpolitik des wiedervereinten Deutschland instrumentell. Ihre Relevanz ergibt sich in Abhängigkeit ihrer jeweiligen Funktionalität für die Lösung ­eines bestimmten Problems. Sicherheits- und Stabilitätsinteressen gehen vor Volkstumspo­litik. In der gegenwärtigen Afghanistan-Debatte gewinnen völkische Kategorien (»Ethnie«, »Kultur«) wieder an Einfluss, sowohl bei Befürwortern als auch bei Gegnern des Bundeswehreinsatzes.
In der linksliberalen Wochenzeitung Der Freitag plädierte im September vergangenen Jahres eine Reihe von Prominenten für einen Abzug der Bundeswehr bis 2011. Zu den Unterstützern gehörten u.a. Martin Walser, Charlotte Roche, Roger Willemsen. Aber auch bekennende Linke wie Elfriede Jelinek, Dirk von Lowtzow, Friedrich Küppersbusch oder Dietmar Dath unterstützten den Aufruf. In ihm heißt es: »Am Hindukusch wird Krieg geführt. Der Gegner ist keine Armee, sondern eine Kultur. Darum ist dieser Konflikt mit einer Verstärkung des militärischen Engagements nicht zu lösen. Sondern nur durch ein langfristiges entwicklungspolitisches Engagement.«
Der »Gegner« ist also eine »Kultur« und nicht die Taliban und andere Anhänger einer religiösen und tribalen Ideologie, die existentielle Probleme der instabilen afghanischen Kriegsgesellschaft mit der gewaltsamen Durchsetzung dieser Ideologie zu beantworten suchen. Es lässt sich bei den wenigen Zeilen des Aufrufs mehr ahnen als herauslesen, dass mit »Kultur« etwas grundsätzlich »Anderes« gemeint ist, mit dem aber »entwicklungspolitisch«, also sorgsam umzugehen sei und dem mit Wertschätzung begegnet werden müsse. Das klingt nett. In der gleichen Ausgabe des Freitag behauptet der Herausgeber Jakob Augstein, dass »der durchschnittliche Paschtune (…) auch nach acht weiteren Jahren westlichen Engagements in den Tälern des Hindukusch (…) mit dem, was man in Europa so unter Zivilisation versteht, wenig anfangen« können wird. Das klingt für viele ­realistisch und scheint durch die Beobachtung abweichender Lebensbedingungen und Wertesysteme bestätigt. Doch schnell wird hier unter dem Begriff »Kultur« homogenisiert, was als sozialer, ideologischer und politischer Raum die Chance auf progressive Veränderung in sich trägt. Die mit »Kultur« argumentierende Fraktion reduziert auch diejenigen, zweifelsohne marginalisierten Afghaninnen und Afghanen, die in Opposition zu religiösem und tribalem Fundamentalismus stehen, auf ihre Herkunft.
Noch deutlicher als im Freitag wird derlei nur noch von Peter Scholl-Latour vertreten. Doch im Unterschied zu den linken Kriegsgegnern affirmiert der Lieblingsexperte aller Fernsehkanäle ganz explizit die Festschreibung einer herkömmlichen Herrschaftsordnung. In einem Interview mit dem Nachrichtensender N-TV antwortete er auf die Frage, welche Alternativen es zur Strategie einer Demokratisierung Afghanistans gebe, mit den Worten: »Die Afghanen müssen sehen, dass sie selbst ihre eigene Regierungsform finden. Das ist doch nicht unsere Angelegenheit. Im Übrigen: In Dörfern und in den Stämmen gibt es auch eine Form von Demokratie. Dort gibt es eine Dorfversammlung, dort haben die Ältesten oder der stärkste Mann das Sagen, und da wird dann auch irgendwie bestimmt. Die Menschen dort haben einfach eine andere Form des Zusammenlebens.«
Auch in der Regierung gewinnt die Behauptung kulturell unüberwindbarer Hindernisse an Deutungsmacht. Im Dezember machte der Verteidigungsminister den Vorschlag, mit »gemäßigten Taliban« zu reden. Die Bundeswehr und ihre Alliierten sollten unterscheiden »zwischen Gruppen, die aus der radikalen Ablehnung des Westens die Bekämpfung unserer Kultur zum Ziel haben, und (…) jenen, die sich ihrer Kultur vor Ort verbunden sehen« . Hier wird schon deutlich, unter welchem Signet eine ausschließlich aus sicherheitspolitischer Sicht befriedigende Exitstrategie vorbereitet wird. Für diejenige Bundesregierung, die früher oder später den Abzug der deutschen Truppen verkünden wird, bleibt am Ende die Begründung, dass aufgrund ihrer »Kultur« mit »den Afghanen« eben nichts anderes zu machen war.
Das heutige Verständnis von »Kultur« ist nicht an die biologistische Utopie einer germanisch beherrschten Welt gebunden. Trotzdem gibt es eine historische Parallele: Sowohl bei der Anwendung des völkischen Prinzips als auch bei der Verwendung der ethnisch-kulturellen Kategorie handelt es sich um eine essentialisierende Klassifizierung von Menschengruppen. Das demokratische Lob der Stammeskultur grenzt »die Anderen« von der Idee universell geltender Menschenrechte aus und stellt soziale Rückständigkeit auf Dauer.
Die deutsche Afghanistan-Politik zielt auf Sicherheit für den kapitalistischen Normalbetrieb. Der Wert der »Anderen« steht nicht über diesem Ziel. Kulturelle Wahrnehmungsmuster gewinnen an Einfluss, weil sie dafür zweckmäßig erscheinen. Diese Prioritätensetzung wird dann deutlich, wenn die Bundeswehr im Isaf-Verbund ein paar »durchschnittliche Paschtunen« zum Kollateralschaden bombt.

Deutsche Tapferkeit
Das stärker werdende Rückzugsgeflüster wird gegenwärtig noch von einem lauteren Kriegsgeschrei übertönt. Dass die Bundeswehr in ­Afghanistan einen Krieg führt, sagen jetzt fast alle. Die Offensive der Taliban in den nördlichen Provinzen hat dazu geführt, dass auch die Bundesregierung von »kriegsähnlichen Zuständen« spricht. Derweil herrschen im Medienjargon schon ganz andere Töne. In der FAZ ruft der Militärexperte Lothar Rühl den »Endkampf« um Afghanistan aus. In den Berichten eines anderen FAZ-Autoren stoßen deutsche Patrouillen durch Hinterhalte, verfolgen Angreifer und »setzten zum ersten Mal ihre Schützenpanzer Marder ein, die mit einer Zwanzig-Millimeter-Kanone verheerende Brandgeschosse auf einen Feind bringen können«. Apropos Waffenkunde: Schon die Tatsache, dass die gepanzerten Fahrzeuge der Bundeswehr, »Leopard«, »Dingo« und »Marder«, wie schon die »Tiger« und »Panther« der Wehrmacht, ihre Typenbezeichnungen aus der Raubtierwelt entlehnen, gibt Auskunft über militärisches Traditionsbewusstsein. Dieses existiert auch in der Redaktion des Soldatensenders »Radio Andernach«. In der Programmbeschreibung des Senders aus dem Eifelstädtchen Andernach erfahren wir, dass jeden Abend »pünktlich um 22.00 Uhr (…) zum Programmschluss das nicht nur bei den deutschen Soldaten so beliebte Lied von ›Lili Marleen‹« ertönt. Den alten Landser-Schlager von Lale Andersen hatten bereits die Wehrmachtssoldaten während ihres Vernichtungsfeldzuges auf den Lippen. Seit 1941 lief die sentimentale Schnulze zum Programmschluss der Wehrmachtssender. Bis 1948 war sie in den alliierten Besatzungszonen verboten.
Sicher, auch dieses Traumwandeln auf der Traditionslinie des deutschen Militarismus hat eine Grenze. Als sich der ehemalige Kommandant der KSK-Spezialtruppe, Reinhard Günzel, im Herbst 2003 mit seiner Unterstützung für die antisemitische Rede des CDU-Abgeordneten Martin Hohmann zu sehr aus der Deckung hervorwagte, musste er, wie einige andere vor ihm, ins zweite Glied zurücktreten. In den Augen seiner Kameraden und der schweigenden Mehrheit war dies nicht gleichbedeutend mit einer Rufschädigung für Günzel. Gerade weil der Brigadegeneral a.D. einer ist, der den »Männerstolz« der Wehrmachtsgeneralität hochleben ließ und den »soldatischen Kern in unserem Lande« bewunderte, war er nie ein Außenseiter und wurde es auch nach seinem Rausschmiss nicht. Und einen gewissen Weitblick hatte er auch: Eine Armee im Kampfeinsatz, darauf hatte Günzel bereits am Anfang des Afghanistan-Einsatzes hingewiesen, brauche einen Patriotismus, der sich auf nationale Wurzeln berufen kann. Für das Sicherheitsinteresse des deutschen Exportkapitals stirbt es sich schlecht. Das Bewusstsein, zu einer »Schicksalsgemeinschaft« zu gehören, die schon immer tapfer und kameradschaftlich zusammenhielt, hilft eher bei der Ausschaltung kritischer Reflexion.
»Je mehr und je öfter die Politik den Truppen im Feld aus dem sicheren Heim in den Arm fallen wird, desto geringer werden die Erfolgschancen und desto größer wird das Risiko der Soldaten.« Mit »Fassungslosigkeit« reagierten angeblich die Soldaten, als in Deutschland linke Kriegskritiker über juristische Schritte gegen den für den Luftangriff auf die Tanklaster verantwortlichen Oberst nachdachten. Die Angst geht um. Wer Zeitung liest, weiß, die Sorge ist unbegründet. Die Bundesregierung, ja, die Nation an sich, steht zwar noch nicht immer »geschlossen wie ein Mann«, doch gibt es Belege zuhauf dafür, dass dem Tötungshandwerk der Bundeswehr hierzulande bereits die notwendige öffentliche Anerkennung zukommt. Die Wiedereinführung eines Tapferkeitsordens für Bundeswehrsoldaten zeigt, wie oberflächlich der Bruch der Deutschen mit ihrer Geschichte ist. Das »Ehrenkreuz für Tapferkeit« erinnert an das bis 1945 verliehene »Eiserne Kreuz«, welches im Zweiten Weltkrieg 2,3 Millionen deutsche Mörder, Kriegsverbrecher und Durchhaltefanatiker schmückte. Der Reservistenverband der Bundeswehr hätte den Orden am liebsten so gelassen, wie er schon immer war.
Die Kaserne ist nicht mehr die Schule der Na­tion und der Wehrdienst wird auf einen Schnupperkurs verkürzt. Auch wenn die gesellschaft­liche Anerkennung wächst und der Rüstungs­etat steigt, hat die Bundeswehr nicht den Stellenwert, den einstmals Wehrmacht und Reichswehr eingenommen haben. Deutschlands Soldaten kämpfen zusammen in der Nato und der EU für einen westlichen Sicherheitsimperialismus. Aber gerade indem dies geschieht, leben die Vorstellungen von deutschen Soldatentugenden und einer guten Wehrmacht fort.

Deutscher Krieg, deutscher Frieden
Die heutige Afghanistan-Politik Deutschlands steht nicht für die Wiederkehr wilhelminischer oder nationalsozialistischer Großmachtpolitik, doch reproduziert sie durch ihre Anknüpfung an deutsche Hybris, völkische Kategorien und militaristische Identitätspflege Elemente deutscher Verbrechensgeschichte. Ein ökonomistischer Antiimperialismus verkennt diesen Zusammenhang und suggeriert historisches Bewusstsein über moralisierende Effekthascherei. Hingegen überhöht die antideutsche Kritik ideologische Kontinuitäten zum Paradigma deutscher Außenpolitik und ignoriert dabei den Charakter des westlichen Sicherheitsimperialismus. Wie problematisch beide Sichtweisen sind, lässt sich an ihren Schlussfolgerungen erkennen. Die Forderung nach sofortigem Abzug von Nato und Bundeswehr aus Afghanistan läuft auf die Landnahme durch die Taliban und ihnen Wohlgesinnte hinaus. Die Bundeswehr habe Schlimmeres verhindert, wird dann zu hören sein, um sich damit und mit der baldigen Wiederaufnahme der traditionsreichen Beziehungen zwischen Afghanistan und Deutschland aus dem Fadenkreuz des antiwestlichen Terrorismus zu schleichen. Ein Abzug der Bundeswehr ist keine undenkbare Option für deutsche Großmachtpolitik.
Doch auch die Verschärfung des Kriegs gegen die Taliban taugt nicht für eine positive linke Bezugnahme. Mit ihr verbinden sich eine weitere Normalisierung des Militärischen und die gewaltsame Durchsetzung deutscher Weltmacht­ambitionen. Zudem hat sie ausschließlich eine sicherheitsparadigmatische Lösung zum Ziel. An ihrem Ende stünde ein Kompromiss mit Kräften der Reaktion, solange sie nur den Westen in Ruhe ließen.
Hinsichtlich des bereits diskursiv vorbereiteten Abzugs der Bundeswehr agieren antiimperialistische Linke als Trittbrettfahrer. Hinsichtlich der sich gerade vollziehenden Verschärfung des Kriegseinsatzes handeln Antideutsche ganz im Sinne einer ohnehin stattfindenden Entwicklung. Eine tatsächlich wieder Gesellschaftskritik betreibende Linke müsste sich hingegen von der Durchsetzung deutscher Interessen abgrenzen.

Der Autor arbeitet im Leipziger Antidiskriminierungsbüro und ist Mitglied der Gruppe Inex.