Gedenkpolitik und Geschichtsrevisionismus

Die Dresdener Passionsspiele

Diesmal wollen die offiziellen Vertreter von Stadt und Land ihre Gedenkfeierlichkeiten am 13. Februar in Dresden ganz ungestört in ihrem Sinne abhalten. Doch die offizielle Gedenkpolitik entlarvt sich nicht nur durch die gewählte Symbolik als das, was sie ist: Geschichtsrevisionismus.
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Gute Nachrichten: Das jährliche Gedenkspektakel an der Dresdener Frauenkirche muss in diesem Jahr ausfallen. Jahr für Jahr legten dort bisher Ver­treter von Stadt und Land ihre Kränze nieder, stellten Kerzen auf, an jenem Ort, der wie kein zwei­ter an die Schäden und Toten erinnert, die die Offensive der alliierten Armeen im Februar 1945 in Deutschland forderte. Grund dafür, dass in diesem Jahr das Gedenken ausfallen und der vorgesehene Gedenkredner Gerhard Baum gar nicht erst anreisen muss, ist eine Gesetzesreform, die der sächsische Landtag in der vorigen Woche gerade noch rechtzeitig beschlossen hat. Eine Versammlung kann nunmehr verboten werden, wenn sie erstens an einem »Ort von historischer Bedeutung« wie – explizit genannt – der Frauenkirche stattfindet, oder wenn sie zweitens »die Verantwortung des nationalsozialistischen Regimes für den Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen leugnet, verharmlost oder gegen die Verantwortung andere aufrechnet«.

Beide Grundlagen eines Verbotes sind gegeben. Denn genau darum geht es Jahr für Jahr beim offiziellen Gedenken an der Frauenkirche. Darum, der Welt zu zeigen und sich selbst immer wieder zu vergewissern, dass die Deutschen auch Opfer gewesen sind im Zweiten Weltkrieg. Flankiert wird diese Erzählung vom »Bombenkrieg gegen die Deutschen« seit Jahren von Medien wie ZDF und Spiegel. Das Magazin bezeichnete bereits 2003 die Luftangriffe der Allierten als »Kinder- und Frau­enverbrennungen von Hamburg und Dresden«. Gegen diese Art der Aufrechnung kann das neue Versammlungsrecht sicher nichts ausrichten, jedoch wird bei der Täter-Opfer-Umkehrungsveranstaltung der historische Ort Frauenkirche auch in diesem Jahr ganz direkt mit einbezogen, indem die Flammen einer Kerze auf ihre Mauern projiziert werden.
Ui, da gruselt es den Dresdener Bürger vor lauter Feuersturm- und Brand-Assoziationen, da ist er glatt geneigt, sogleich – wie es die Oberbürgermeisterin für 13 Uhr plant und der Herr Pfarrer es unterstützt – eine Menschenkette zu bilden »als symbolischer Wall um die Innenstadt, um ein glaubwürdiges Erinnern und Mahnen zu ermöglichen«, um »symbolisch die Dresdner Innenstadt schützen«. Deutsche haken sich also unter, nehmen sich an die Hand, um als lebender symbolischer Schutzschild ihre Stadtmauern vor dem symbolischen Feuer zu verteidigen, rein symbolisch selbstverständlich. Diese Symbolik lässt verschiedene Interpretationen zu, vor allem aber eine: Hier wird ein Volkssturm gegen den alliierten Bombenterror nachgespielt.
Doch nein, so war das alles natürlich gar nicht gemeint. Und die anfangs verkündete gute Nachricht, Sie haben es sich vermutlich schon gedacht, entpuppt sich als Wunschvorstellung: Das neue Versammlungsrecht (siehe Seite 5) soll und wird nicht den offiziellen Geschichtsrevisionismus unterbinden, sondern nur den der Nazis, wenn überhaupt, und vor allem Demonstrationen von Linken. Um den Protest der Antifaschistinnen und Antifaschisten gegen die Rechtsextremisten abzuwenden, hat man zudem noch ganz andere Geschütze aufgefahren in diesem Jahr: Beschlagnahmung von Plakaten und Flyern, Festnahmen, Razzien, Internetzensur (siehe Seite 4). Kriminalisiert wird ein Aufruf zur Blockade des geplanten Nazi-Aufmarsches am 13. Februar: »Gemeinsam blockieren« – das zu tun, oder auch das zu fordern – soll verboten sein. Sich »quer stellen«, was dasselbe ist, war im September 2008 in Köln, als 15 000 Menschen eine als »Anti-Islamisierungs­kongress« getarnte Kundgebung von gerade mal 50 Rechtsextremisten lahmlegten, noch als großer Erfolg des zivilgesellschaftlichen Engagements gegen die Feinde der Demokratie gefeiert worden. Jetzt aber, da der größte Naziaufmarsch Europas seit Jahren mit mehr als 6 000 Teilnehmern droht, da soll man sich nicht quer stellen dürfen. Ja nicht einmal das zu fordern, soll erlaubt sein. So wichtig scheint es den Dresdener und den sächsischen Offiziellen zu sein, endlich einmal ungestört ihr deutsches Passionsspiel aufführen zu können.

Ihre Mittel sind deshalb so drastisch, da sie keine vernünftigen Argumente auf ihrer Seite haben. Ihnen fehlt eine politisch logische Rechtfertigung, den Nazis das zu verbieten, was sie selber tun, nämlich der deutschen Opfer des Zweiten Weltkriegs zu gedenken und damit die britische und amerikanischen Luftwaffe zu Tätern zu machen. Auf der anderen Seite können sie auch nicht vernünftig erklären, warum der Protest gegen einen so großen Nazi-Aufmarsch an diesem Tag zu verurteilen sei – zumal sie selbst in den vergange­nen Jahren den zivilgesellschaftlichen »Aufstand der Anständigen« gegen die Nazi-Demonstrationen noch gepriesen hatten. Wer aber keine vernünftigen Argumente hat, ist geneigt, wild um sich zu schlagen: So ähnlich wirkt das Verhalten der säch­sischen Innenbehörde gerade.
Derzeit sieht es so aus, als wenn Politiker, Justiz und Polizei in der Konsequenz gemeinsam dafür sorgen werden, dass der größte Nazi-Aufmarsch Europas in Dresden auftrumpfen kann und die Offiziellen von Staat und Gesellschaft der­weil ungestört ihren eigenen Opferzirkus aufführen werden. In dieser Inszenierung entlarven sich die Akteure selbst beim sichtlich bemühten Versuch, durch Symbolik Geschichte zu schreiben. »Die wieder aufgebaute Frauenkirche steht sowohl als ein Symbol für die Schrecken des Krieges als auch für ihre Überwindung«, erklärt etwa Jochen Bohl, Bischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens. Dabei ist es genau andersherum: Die Ruine der Frauenkirche war ein »Sym­bol für die Schrecken des Krieges als auch für ihre Überwindung«, die wieder aufgebaute Kirche dagegen ist Symbol dafür, dass man genau dies vergessen machen möchte.
»Die Weiße Rose« war der Name des Wi­der­stands­kreises rund um die Geschwister Scholl, die vor allem Flugblätter gegen den Nationalsozialismus verbreitet hatten. Nun werden überall in Dresden, etwa von der Stiftung Frauenkirche und den Verkehrsbetrieben, »Weiße Rosen« zum Anheften für zwei Euro das Stück verkauft. Als Symbol »für ein wahrhaftiges Erinnern und gegen jede Form der ideologischen Vereinnahmung und Verfälschung des Gedenkens« – während die Polizei antifaschistische Flugblätter und Plakate, die sich gegen Nazis wenden, beschlagnahmt. Mit dem vermeintlichen Symbol gegen die Verfälschung der Geschichte wird in der Gedenkpolitik also genau dieses Verfälschen zelebriert.
Dabei wurde das revisionistische Gedenken an die Bombardierung Dresdens nicht von Rechten, sondern von vorgeblich Linken erfunden. Der Abgeordnete und spätere Generalsekretär der SED, Walter Ulbricht, bezeichnete die westlichen Allierten bereits 1948 als »Feinde der deutschen Nation« und den Morgenthau-Plan als »satanischen Irrsinn«. Otto Grotewohl, der erste Minister­präsident der DDR, erklärte 1952, die Bombenangriffe auf Dresden seien ein »unsinniges Verbrechen« gewesen. 1969 war im SED-Zentralorgan Neues Deutschland zu lesen: »An diesem Tag geden­ken die Dresdner der vielen unschuldigen Opfer, die sterben mussten, weil einige Politiker und Generale die untaugliche Idee hatten, den Vormarsch des Sozialismus mit Bomben und Tränen aufzuhalten.« Die offizielle Geschichtsschreibung der DDR besagte nämlich, dass die »Angloamerikaner« mit den Angriffen im Februar 1945 schon nicht mehr die Befreiung Deutschlands zum Ziel hatten, sondern das Vordringen der Roten Armee behindern wollten. An der Frauenkirche selbst be­festigte man ein Schild: »Die Frauenkirche in Dresden, im Februar 1945 zerstört durch angloamerikanische Bomber (…) Ihre Ruine erinnert an Zehntausende Tote und mahnt die Lebenden zum Kampf gegen imperialistische Barbarei, für Frieden und Glück der Menschheit.« Aber auch un­abhängige »Dissidenten« der DDR-Friedensbewegung nutzten die Ruine der Frauenkirche als Ort der Mahnung gegen Krieg ganz allgemein und relativierten so den Vernichtungskrieg Deutsch­lands.
Über diesen Hintergrund der Dresdener Opferstilisierung findet sich allerdings im aktuellen Aufruf des antifaschistischen Bündnisses »No Pa­sarán« gegen den Nazi-Spuk am 13. Februar nicht eine Silbe. Die Geschichte des linken Antifaschismus soll keine Risse bekommen. Seitdem sich im vorigen Jahr eine Spaltung der antifaschistischen Szene in Dresden vollzogen hat und nur noch ein kleines Grüppchen unter dem Motto »Kei­ne Versöhnung mit Deutschland!« gegen das offizielle Gedenken demonstriert, während die gro­ße Mehrheit der Linken sich dem politisch recht pluralen Bündnis »Nazifrei – Dresden stellt sich quer!« angeschlossen hat und nur noch gegen den Nazi-Aufmarsch aktiv wird, kommt es zunehmend zu einer Verflachung der Kritik.

Im aktuellen Aufruf von »No Pasarán« ist zu lesen, wie das Bündnis, das vor allem von der Antifaschistischen Linken Berlin (ALB) organisiert wurde, die Argumentation der Nazis »kritisiert«: »Der Angriff auf Dresden sei ein Angriff auf das ›deutsche Volk‹ gewesen und damit gleichzeitig auf das ›wahre Deutschland‹, welches wiederum gleichbedeutend ist mit dem Nationalsozialismus. Im gedachten nationalsozialistischen Kollektiv von damals bis heute werden die Toten für die Neonazis zu ›ihren‹ Toten, sie werden zu Stellvertreterinnen und Stellvertretern des nationalsozialistischen Systems.« Anders formuliert, erklärt die Antifa hier nichts anderes, als dass die Toten von Dresden nicht Teil eines nationalsozialistischen Kollektivs gewesen seien, sondern unschuldige Opfer, die nun von den Nazis vereinnahmt würden. Hier betätigt sich das Anti-Nazi-Bündnis selbst geschichtsrevisionistisch. Nicht nur, weil die Rede von den Deutschen als Opfern weitergeführt wird, sondern auch, weil gerade Dresden die Stadt mit der höchsten Dichte an NSDAP-Mitgliedern überhaupt war, wie Gunnar Schubert in dem Buch »Die kollektive Unschuld« (Konkret-Verlag) dargelegt hat.
Im Aufruf des »No Pasarán«-Bündnisses heißt es, die »Konsequenz von AntifaschistInnen aus der deutschen Vergangenheit« laute: »Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus«. Und durch den folgenden Bezug auf den Schwur der Überlebenden des KZ Buchenwald wird zumindest suggeriert, jene Parole stamme aus dem Schwur, was eine in antifaschistischen Kreisen nach wie vor beliebte Legende ist – eine unwahre. Nicht zitiert wird der wesentliche Teil jenes Schwures, der tatsächlich programmatisch für ein Gedenken an die Bomben­angriffe auf Dresden sein sollte:
»Wir danken den verbündeten Armeen, der Amerikaner, Engländer, Sowjets und allen Frei­heits­armeen, die uns und der gesamten Welt Frieden und das Leben erkämpfen. Wir gedenken an dieser Stelle des großen Freundes der Antifaschisten aller Länder, eines Organisatoren und Ini­tiatoren des Kampfes um eine neue demokratische, friedliche Welt, F. D. Roosevelt. Ehre seinem Andenken!«
Der US-Präsident Franklin D. Roosevelt war es, der auf der Konferenz von Casablanca 1943 für einen härteren Kurs im Krieg gegen Deutschland warb. Dort wurde die Verstärkung der Luftangriffe auf deutsche Städte beschlossen und die Kapitulation Deutschlands als Ziel festgelegt.