Dee Anschlag auf eine algerische Regisseurin in Paris

Jihad in Belleville

Die engagierte Feministin und Theaterregisseurin Rayhana führte in Paris ein Stück auf, das die Unterdrückung von Frau­en in der algerischen Gesellschaft thematisiert. Seitdem wird sie von Islamisten bedroht. Vergangene Woche wurde sie auf offener Straße angegriffen.

Es hätte übel ausgehen können. Die aus Algerien stammende Theaterregisseurin und Schauspielerin, die unter dem Künstlernamen Rayhana bekannt ist, verdankt ihr Leben vermutlich dem Wet­ter. Am 12. Januar regnete es stark in Paris, als sie in Belleville von zwei unbekannten Männern überrascht und mit einer brennbaren Flüssigkeit überschüttet wurde. Einer der beiden Attentäter hielt ihr daraufhin ein Feuerzeug oder eine brennende Zigarette an die Mütze, die jedoch glücklicherweise nicht Flammen fing, der Regen war wohl zu stark. Nach dem Anschlag ergriffen beide Männer sofort die Flucht. Die 45jährige wusste zuerst gar nicht, wie ihr geschah, und ging in eine nahe gelegene Kneipe, um die Polizei anzurufen, der Barmann komplimentierte sie jedoch hinaus. Erst nach einem Anruf beim Theater, wo man sich darauf vorbereitete, ein Stück von ihr aufzuführen, wurde die Polizei verständigt.
Auf einer Pressekonferenz zeigte sich Rayhana zunächst vorsichtig. Die Ermittlungen müssten die Hintergründe der Tat aufklären, sagte sie. Ob es einen Zusammenhang mit ihrem bis zum letzten Wochenende gespielten Stück gebe, wisse sie derzeit nicht. Dennoch steht fest: Die beiden Unbekannten, die die Künstlerin von hinten packten und festhielten, beschimpften sie mit frauenfeindlichen und islamistischen Parolen: »Hure« und »Ungläubige« nannten sie ihr Opfer, bevor sie zur Tat schritten. »Wir hatten dich gewarnt«, sagten sie auch. In der Tat: Genau eine Woche zuvor war Rayhana bereits einer verbalen Aggression zum Opfer gefallen. Auch da waren es zwei Männer gewesen, die sie auf der Straße angeschrien und ihr »mit maghrebinischem Akzent«, wie sie berichtete, gedroht hatten: »Glaubst du nicht, dass wir dich kennen?« Sie nannten den Na­men ihres in Algerien lebenden Vaters, wohl um die Drohung glaubwürdiger zu machen.
Zum Hintergund der Tat wird noch ermittelt, daran, dass der Anschlag in Zusammenhang mit dem Theaterstück steht, das Rayhana geschrie­ben hat und das seit Dezember im Pariser Theater Maison des Métallos aufgeführt wird, bestehen allerdings kaum Zweifel.

Das Stück handelt von neun Frauen, die sich in einem algerischen Hamam über ihre Erfahrungen mit Männern austauschen. Die Frauen sind unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft, doch eines haben sie gemeinsam: Alle erleben irgendeine Form von Missbrauch und Unterdrückung. Von der Islamistin über die Atheistin, die Masseurin und die Studentin bis zur professionellen Kupplerin haben wir es mit unterschiedlichen Sichtweisen zu tun. Gemeinsam diskutieren die Frauen über ihr Verhältnis zu Männern, über ihre Träume und Ent­täuschungen, über Liebe und Sexualität. Am Schluss wird ein so genannter Ehrenmord thema­tisiert. Eine der neun Frauen, die von Rayhana selbst gespielt wird, steht kurz vor der Entbindung. Sie ist nicht verheiratet und sucht im Hamam Zuflucht vor ihrem fundamentalistischen Bruder, der sie töten will. Die ganze Zeit hört man ihn gegen die Tür hämmern. Am Ende gelingt es ihm, hereinzukommen und einen Schuss ins Innere des Dampfsbads abzugeben. Er trifft allerdings nicht seine Schwester, sondern die einzige unter den neun Frauen, die erzählte, dass sie noch an die ganz große Liebe glaube.
Obwohl sich die Handlung und die Gespräche stark auf die Geschlechterverhältnisse in einer muslimisch geprägten Gesellschaft beziehen, möch­te Rayhana die Problematik des Stücks sehr viel universeller verstanden und keineswegs allein auf den Islam bezogen wissen. So betonte sie auf der Pressekonferenz nach dem Anschlag, nach wie vor sei etwa in Spanien häusliche und familiäre Gewalt die häufigste Todesursache für Frauen. Und sie erklärte auch, Französinnen oder Japanerinnen hätten ihr Stück gesehen und sich zu Tränen gerührt gezeigt, weil sie sich und ihre Geschichten in vielen Dialogen wiedererkennen konnten.

Das Stück bezieht sich aber auch auf Algeriens Geschichte und Gesellschaft. Die Handlung spielt Mitte der neunziger Jahre in der algerischen Hauptstadt, auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs. Missliebige Intellektuelle und Frauenrechtlerinnen fielen damals einer von bewaffneten Islamisten ausgehenden Welle terroristischer Gewalt zum Opfer. Rayhana selbst musste erleben, wie Az­zedin Medjoubi, der damalige Intendant des Staatstheaters, 1995 getötet wurde. Sie, die damals in der kommunistischen Partei aktiv und als Künstlerin und Feministin bekannt war, musste fliehen. Sie ließ sich in Nordfrankreich nieder und erhielt politisches Asyl.
Der Titel von Rayhanas Stück, »In meinem Alter verstecke ich mich noch, wenn ich rauche«, thematisiert einen weiteren Aspekt der algerischen Gesellschaft und ist von der Regisseurin durchaus autobiographisch gemeint. Sie selbst gibt zu, bis heute nicht in Gegenwart ihrer Eltern zu rauchen. In Algerien gelten rauchende Frauen noch heute als »unmoralisch«. Das vom rechten Flügel der regierenden Staatspartei Nationale Befreiungs­front 1984 eingeführte Familiengesetz – der »Code de la famille«, der von Kritikerinnen auch »Code de l’infamie« genannt wurde – behandelt Frauen lebenslänglich als Minderjährige, die unter der Vormundschaft zuerst des Vaters, dann des Ehemanns stehen. Erst Anfang dieses Jahrzehnts wur­de das Gesetz an diesem und anderen Punkten entschärft.
Ob hinter dem Anschlag auf Rayhana organisierte Islamisten stehen, ist noch ungeklärt, erscheint allerdings nicht unwahrscheinlich, denn ausgerechnet die Umgebung des Maison des Métallos in Belleville, dem Szeneviertel mit hohem Migrantenanteil, gilt als die einzige Hochburg der Islamisten in ganz Paris. Die französische Haupt­stadt kann man nicht mit London vergleichen, was die Aktivitäten von radikal islamistischen Gruppen angeht. Das hat Gründe, die in die Zeiten des algerischen Bürgerkriegs zurückreichen.
Mitte der neunziger Jahre war der rechte Hardliner Charles Pasqua Frankreichs Innenminister. Er stand kompromisslos hinter den algerischen Militärs, im Unterschied zu anderen Flügeln der französischen politischen Klasse, die auch die Beteiligung der Islamisten an der Führung Algeriens favorisierten. Pasqua und seine politischen Verbündeten interpretierten den Bürgerkrieg als Neuauflage des von 1954 bis 1962 von Frankreich in Algerien geführten Kriegs »zur Rettung der Zivilisation«. Daraus resultierte der teilweise rüde Umgang der französischen Regierung mit tatsächlichen, aber auch vermeintlichen Islamisten, insbesondere wenn sie einen algerischen Hintergrund hatten. Dabei wurden in manchen Fällen auch Menschenrechte verletzt. Auf diese Weise wurden die auch in Frankreich aktiven Netzwerke, die den algerischen bewaffneten Islamisten in den Bürgerkriegsjahren logistische Hilfe verschaf­fen sollten, erheblich geschwächt und haben sich seitdem nie wirklich erholt.

An der Ecke zwischen der Rue Jean-Pierre Thimbaud, wo das Maison des Métallos liegt, und dem Boulevard de Belleville hat sich allerdings in den vergangenen zehn Jahren ein Milieu islamistisch orientierter Buchläden etabliert. Auch eine Moschee in dem Viertel soll von Sympathisanten der Salafisten, der radikalsten islamistischen Strömung, die in Algerien aktiv ist, kontrolliert werden.
Das Attentat auf Rayhana hat zahlreiche Reaktionen in der Politik und in der Gesellschaft ausgelöst. Die französische KP und die Antirassismus­organisation MRAP äußerten sich umgehend in Pressemitteilungen und erklärten sich solidarisch mit dem Opfer. Die Frauenorganisation »Ni Putes Ni Soumises« organisierte mit der Internationalen Liga für Frauenrechte eine Solidaritätskundgebung, zu der mehrere hundert Men­schen kamen. Auch die konservative Regierungspartei UMP erklärte in einer Pressemitteilung ihre Solidarität mit der Künstlerin. Der Minister für Einwanderung und nationale Identität, Eric Besson, der we­gen der derzeitigen Debatte über die »nationale Identität« heftig umstritten ist, sowie die Staatssekretärin Nadine Morano wollten die Theatermacherin empfangen. Besson lud sie zum Mittag­essen, Morano zum Kaffeetrinken ein. Rayhana lehnte ab und erklärte, ihr Engagement bestehe in »den Worten, die sie auf der Bühne benutze«.