Das Abfahrtsrennen in Kitzbühel

Schicki-Micki mit Fangzäunen

Das Abfahrtsrennen auf der Kitzbüheler Streif ist das bekannteste der Welt. Und das schwierigste.

Fangen wir mal ganz oben an, in 1 665 Metern Höhe. Da, wo das, was gern als »der Wahnsinn« bezeichnet wird, beginnt und 3 312 Meter und knapp zwei Minuten später schon wieder vor­bei ist. Auf einer Höhe von 805 Me­tern. Hoch oben, also inmitten der Kitzbüheler Berge, wird Jahr für Jahr das rote Starterhäuschen aufgebaut. Am vergangenen Wochenende jährte sich das Abfahrts-Hahnenkammrennen, »die Streif«, wie es kurz genannt wird, zum 70. Mal. Es ist einer der letzten Sportmythen. Sicher auch, weil es das schwerste, brutalste Skiabfahrtsrennen der Welt ist – und noch viel mehr. So ist die Strecke vom Start bis zum Ziel komplett vereist. Das gibt es sonst bei keinem Skiren­nen auf der ganzen Welt. Zur Not, wenn das Eis zu dünn ist, wird mit ordentlich Wasser in der Nacht nachgeholfen, damit es so richtig dick gefriert. Wie eine in der Sonne eisig schimmernde Autobahn, so wirkt diese Strecke, und das soll sie wohl auch.
Am Anfang, wenn es aus dem Häuschen geht, beschleunigen die Abfahrer in acht Sekunden auf gut 130 Stundenkilometer. Von Null wohlgemerkt, und nicht im Auto, sondern auf zwei Skiern. Was danach folgt, sind ausnahmslos Schlüs­selstellen. Passagen mit für Flachlandtiroler lustigen Namen, doch sind es Strecken, die selbst den routiniertesten Profis Angst und Schrecken einjagen. Zunächst die Mausefalle, ein Teilstück der Streif, mit einem Gefälle von 85 (!) Prozent. Es folgen die Traverse, die Alte Schneise, der Brückenschuss, die Seidlalm, der Hausberg mit der Kante und schließlich, nach zwei Minuten oder weniger, der finale Zielsprung. 70 Meter weit fliegen da die Abfahrer in Richtung Ziellinie durch die Luft. Ein seit dem vergan­genen Jahr neu installiertes Richtungstor und eine blaue Linie markieren die optimale Ab­sprung­stelle. Es soll das Schlimmste verhindern. Denn die Abfahrer denken jetzt, wenn sie überhaupt noch denken können, sie springen direkt in den Ort Kitzbühel hinein, der sich da plötzlich vor ihnen ausbreitet. Spätestens zu diesem Zeitpunkt verlieren viele der Rennsportler die Konzentration. Die Beine sind schwer, der Kopf ist leer. Nicht wenige fliegen über das Ziel hinaus oder hinein oder schon vorher richtig hin. Sie stürzen schwer, tragen lebensgefährliche Verletzungen davon. Bei der Streif gehört das me­di­zinische Fachvokabular, Lungenquetschung, künstliches Koma, Schädel-Hirn-Trauma, längst zur Reportersprache. Und das trotz einer Fangzaundichte, die bei der Formel Eins kaum höher ist. Man hat sich also gut auf das vorberei­tet, was da auf einen zukommt. Denkt man. Der Schweizer Abfahrer Daniel Albrecht flog hier im vorigen Jahr ins Koma. Bis heute ist er kein Rennen mehr gefahren. Obwohl so etwas immer wieder passiert, äußern sich die Kitzbüheler, wenn man sie nach solchen Unfällen fragt, über­rascht, bedrückt und fast ein wenig beschämt. Das ist ehrlich gemeint und nicht gespielt wie das, was da sonst noch im Ort passiert.
»Die Streif ist das einzige Abfahrtsrennen, wo das Ziel mitten in der Stadt liegt. Das macht den Mythos aus«, versucht sich Hansi Hinterseer an einer Erklärung. Der ehemalige österreichische Skifahrer, geboren in Kitzbühel, setzte seine außergewöhnliche sportliche Karriere mit einer mindestens ebenso außergewöhnlichen Karriere als Volksmusiksänger fort. Er versucht sich Jahr für Jahr im Januar daran, den Mythos dieser Hochgeschwindigkeitspiste oberhalb von Kitzbühel in Tirol zu erklären. Ihn sportlich zu erfassen, die harte Strecke zu analysieren mit den Bodenwellen, den Schussfahrten, den uneinsichtigen Steilstücken, dem Fehlen von Gleitphasen zum Ausruhen, den Kurven und den mächtigen Sprüngen, immer und immer wieder in zwei endlosen Minuten. Berühmt-berüchtigt ist die Streif. Es gab immer wieder Tote, seitdem das Rennen 1931 erstmalig ausgetragen wurde. Wie viele es waren, wurde nicht dokumentiert.
Nur 13 Abfahrer haben es in der langen Geschichte überhaupt geschafft, die Streif mehr als einmal zu gewinnen. Der Österreicher Franz Klammer siegte immerhin viermal (1975, 1976, 1977, 1984). Dreimal gewannen sein Landsmann Karl Schranz und der Schweizer Pirmin Zurbriggen. Der kürzlich verstorbene Toni Sailer siegte auf der Streif zweimal. Wahrer Hahnenkammsieger ist übrigens der Gewinner der Kombinationswertung aus der Abfahrt am Samstag und dem Slalom auf dem Ganslernhang. Ein paar Zahlen noch: 1931, bei der Premiere, wurde der Österreicher Ferdl Friedensbacher Sieger in einer Zeit von 4:34,2 Minuten auf Holzskiern. Fritz Strobl aus Österreich raste 1997 in 1:51,58 Minuten die Streif hinunter. Das ist Rekord, bis heute. 1938, 1964, 1988, 1993, 2005 und 2007 fiel das Rennen wegen Schneemangels und warmen Wetters aus. Kein Eis auf der Rennpiste. Von 1932 bis 1962 fuhren auch Frauen in Kitzbühel das Abfahrtsrennen.
Doch die Streif wäre nicht zum Mythos gewor­den ohne den Ort Kitzbühel. »Kitzbühel, mein Heimatland, Juwel in Tirol«, so lautet der Refrain des Kitzbühellieds, das der Schlagerkomponist Jack White für Rosi, die singende Wirtin der Son­nenbergstub’n, geschrieben hat. 8 500 Menschen leben in dem schönen Ort in Tirol. In der Woche des Hahnenkammrennens treten sich weit über 100 000 Menschen auf die Füße. Die Hotels sind schon auf Jahre ausgebucht, die Wirte haben überall neue Preislisten drucken las­sen, es wird ausgelassen gefeiert. Kitzbühel ist zur Rennwoche eine Mischung aus Ballermann und Monte Carlo, Jet Set, Hoch- und Niederadel, Neureichen, schwergewichtigen Managern mit jungen Frauen, Kleinbürgern, die es mal so richtig krachen lassen wollen, edlen Boutiquen, Kir-Royal-Scheichs mit Entourage, kurz: Schicki-Micki-Overkill. Ein Ort in greller Hysterie, ein Jahr­markt der Eitelkeiten. Sehen und Gesehenwerden. Dazwischen, fast zur Kulisse degradiert, die Rennen, die Streif, der Super G und der Slalom.
Der Ort lebt von dem Mythos Streif. Das Hahnenkammrennen ist der Saisonhöhepunkt des Winters. Sportlich erst recht, wenn es keine Welt­meisterschaft oder Olympischen Winterspiele gibt, so wie im vergangenen Jahr. Und für den internationalen Jet Set sowieso. Ein perfekt inszeniertes »High-Society-Event« jagt das andere. Und sei es noch so profan wie ein Weißwurstessen beim »Stanglwirt« in Going, einem Nachbarort von Kitzbühel. Da sitzen sie dann, Thomas Gottschalk, Bernie Ecclestone, der Gastronom Gerd Käfer und andere Figuren aus Show, Sport, Wirtschaft und Politik. Jahr für Jahr. Die echten Skifans kommen lieber mit dem »Race and Rail«-Ticket der Österreichischen Staatsbahn für einen Renntag vorbei. Über 130 Sonderzüge setzen die Österreicher auf die Schiene. Letzte Station Kitzbühel. Am Abend, nach dem Rennen, reisen die Fans wie geduldete Tagestouristen wieder ab. Die Prominenten bleiben dann unter sich und wollen das auch. Dafür sorgen schon die Übernachtungspreise in den örtlichen Hotels, die sich in Kitzbühel zur Hahnenkammzeit kein Normalbürger leisten kann. Immerhin, gut 40 000 Menschen drängen sich zum Rennen an die Zäune und auf die Tribünen (bis 200 Euro das Tagesticket). Sie haben Kuhglocken dabei und machen ordentlich Lärm. Das gehört dazu. Wenn sie dann mal hinunterschauen tief ins Tal, sehen sie sicher ein paar Pferdeschlitten durch den wundersam intakten Ortskern fahren. Vielleicht sitzt ein Liebespaar darin und singt ein Lied oder pfeift es heimlich. »Zwei paar Ski und du und I, Schnee und Sonnenschein und wir allein, mehr braucht man nicht zum Glücklichsein«. Das Original stammt von Hansi Hinterseer aus Kitzbühel.