Die Debatte über ALG II und die Realität

Überwachen und Sparen

In den politischen Debatten um das Arbeits­losengeld II geht es derzeit hauptsächlich um Verbesserungen. Die Lebensrealität der Bezieher von ALG II wird dabei jedoch ausgeblendet.

Politisch gesehen, waren die Zeiten für die Bezieher von Hartz IV schon schlechter: Das Schonvermögen steigt auf 750 Euro pro Lebensjahr, die Möglichkeiten, etwas hinzuzuverdienen, sollen sich verbessern, auf die Erhöhung der Sätze für Kinder kann gehofft werden, und aus der Politik kam zuletzt kaum ein schlechtes Wort über sie. Die oppositionellen Grünen wollen auf die Sätze des Arbeitslosengeldes II ein paar Euro drauflegen und die »Linke« sogar noch etwas mehr, sie fordert einen monatlichen Regelsatz von 500 Euro.

Der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) meinte hingegen, dass jedem, der Leistungen beziehe, abverlangt werden müsse, einer Beschäftigung nachzugehen – auch einer »nieder­wertigen Arbeit, im Zweifel in einer öffentlichen Beschäftigung«. Wer Stütze kriegt, soll Laub aufspießen. Die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) wird innerhalb der Regierung jenen zugerechnet, die angeblich ein soziales Gewissen hätten, weil sie mahnt, die Arbeitslosen nicht zu beschimpfen. Aber »angemessen« findet sie die Höhe der Hartz-IV-Bezüge schon und insistiert: »Auch eine Arbeit, mit der man nicht ganz zufrieden ist, ist immer besser als Arbeitslosigkeit.« Der dem Arbeitnehmerflügel nahestehende CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, versteht unter einer »Grundrevision« des ALG II zum Beispiel: »Wenn jemand lange einzahlt in die Arbeitslosenversicherung, muss er mehr bekommen als der, der nur kurze Zeit ein­gezahlt hat.« Der hessische SPD-Generalsekretär Michael Roth sagt als Mitglied der Opposition: »Jemand, der jahrzehntelang in die Sozialversicherung eingezahlt hat, hat einen Anspruch darauf, anders behandelt zu werden als der, der noch nicht in diesen Sozialstaat eingezahlt hat. (…) Die SPD ist immer eine Leistungspartei gewesen.« Derzeit werden zwar die wachsenden Gegensätze zwischen Arm und Reich problematisiert. Über die Armen wird aber weiterhin gesprochen, als seien sie eine Manövriermasse.
Stefan Mappus, der designierte CDU-Ministerprä­sident von Baden-Württemberg, denkt schon einmal an die Haushaltssanierung: »Wenn man sich die großen Blöcke des Bundeshaushalts anschaut, kommt man an Hartz IV mit einem Umfang von 40 Milliarden Euro nicht vorbei.« Und Roland Koch gibt noch etwas zu bedenken: Wenn Millionen von Bürgern, die jeden Tag hart arbeiteten, sehen wür­den, dass andere ohne Anstrengung annähernd das Gleiche erhielten, sei das eine »Perversion des Sozialstaatsgedankens«. Da könnte es interessant werden, zu beobachten, wie sich die »Leistungspar­tei« SPD von der Sozialneiddebatte abgrenzen wird.

Von den Betroffenen sind diese Debatten weit ent­fernt. Als die Hartz-Reformen in Kraft traten, veränderte sich die Sozialstruktur im unteren Drit­tel der deutschen Gesellschaft. Der grundsätzliche Anspruch auf ALG II, ohne vorher Beiträge in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt zu haben, erleichterte es vielen Erwerbslosen, an staatliche Leistungen zu kommen. Trotzdem sind auch heute viele Arme der »Verfolgungsbetreuung« im ALG-II-Regime nicht gewachsen und fallen durch das soziale Netz. Eine große Zahl derjenigen, die früher Arbeitslosenhilfe bezogen, erfuhr mit der Einführung des ALG II eine Kürzung der Bezüge und zum Teil die Anrechnung ihrer Vermögen. Es vergrößerte sich der Niedriglohnsektor, in dem am und unter dem Existenzminimum gearbeitet und ergänzendes ALG II bezogen wird.
Schon lange hat der Mangel auch jene erreicht, die zu Beginn der Hartz-Reformen noch einen neuwertigen Computer oder ein brauchbares Auto besaßen. Wer länger von Hartz IV lebt, ist finan­ziell auf Null, und wenn ein neues Fahrrad gebraucht wird, ist das für manche ein ernstes Problem. Der Alltag von Hartz-IV-Empfängern ist von fortwährenden Demütigungen gekennzeichnet. Dazu gehört die Angst vor dem Verlust von essentiellen Dingen, wie beispielsweise der Wasch­maschine. Oder die Versagung von kleinen Freuden wie der Currywurst beim Gang durch das Quar­tier oder dem abendlichen Kinobesuch. Die Erfahrung von Isolation gehört ebenso zu dieser Realität, weil die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben Geld kostet. All das ist die zeitgenössische Ausprägung der Armut. Das heißt allerdings nicht, dass man sich die Bezieher von ALG II als niedergeschlagene Elendsgestalten vorstellen kann. Aber der Druck in den geschilderten Lebens­verhältnissen ist strukturell vorhanden, auch wenn ihm widerstanden oder das Geldproblem kreativ gelöst wird. Die politische Debatte ist von solchen Fragen ziemlich frei.
Während die Empfänger von ALG II zur Suche nach nicht vorhandenen Jobs genötigt werden, un­terliegen sie einer Art Residenzpflicht. Unter der Woche dürfen sie wegen der so genannten Verfüg­barkeit ihren Wohnsitz nicht verlassen. Alleine, was das Wohnen angeht, gibt es ein Sortiment von Restriktionen, die einem selbstbestimmten Leben Hohn sprechen. Erwerbslose unter 25 Jahren, die eine Wohnung beziehen möchten, brauchen die Zustimmung der Arbeitsgemeinschaft (Arge), die für die Arbeitsvermittlung und die Bewilligung des ALG II zuständig ist. Dieser muss dargelegt wer­den, warum man nicht mehr bei den Eltern woh­nen kann. Wenn die Arge bei Erwerbslosen fest­stellt, dass ihre Miete über der festgesetzten Obergrenze liegt, werden sie zum Umzug genötigt. Aber auch jeder erwachsene Erwerbslose, der aus eigenen Motiven umzieht, benötigt die Zustimmung der Arge, vor allem, wenn dabei die Miete steigt. Das Ersuchen wird gerne abgelehnt – auch wenn die Miete weiter unter der kommunalen Ober­grenze liegt. Wer mit einem Partner zu­sam­men­ziehen möchte, darf das zwar tun. Allerdings hat das eine Kürzung der Leistungen zur Folge, weil man eine Bedarfsgemeinschaft eingeht. Das kann überprüft werden.
Der ALG-II-Empfänger lebt in dem Wissen, dass es jederzeit an der Tür klingeln könnte und zwei Sozialdetektive die Privatsphäre durchforsten könn­ten. Die alltägliche Durchdringung des Lebens der Betroffenen von diesem Kontrollregime ist viel eher bemerkenswert, als einzelne me­dien­wirksame Skandale es sind. Die politische Debatte sieht geradezu nach Gutsherrenart daran vorbei.

Man kann sich die Welt der Arbeitsagenturen als Parallelgesellschaft vorstellen, die sich nicht nur mit abseitigen Praktiken, sondern auch mittels einer bizarren Sprache abhebt. Ein prägnantes Beispiel dafür sind die Briefe, die von der Arge ver­schickt werden, mit Inhalten wie diesen: »Bis zur endgültigen Entscheidung werden Ihre Kinder bei den Berechnungen Ihrer Leistungen vorläufig nicht berücksichtigt. Die aufgrund der vorläufigen Entscheidungen erbrachten Leistungen sind nach vollständiger Klärung der Sach- und Rechtslage auf Ihre zustehenden Leistungen anzurechnen (§328 Abs. 3 Satz 1 SGB III). Soweit mit der abschlie­ßen­den Entscheidung ein Leistungsanspruch nicht oder nur in geringer Höhe zuerkannt wird, sind die Leistungen zu erstatten (§328 Abs.3 Satz 2 SGBIII). Wird diese vorläufige Entscheidung nicht aufgeho­ben oder geändert, erfolgt die endgültige Erklärung nur auf Antrag des Betroffenen (§328 Abs.2 SGB III).«
Die politische Debatte ist frei von einem Einblick in diese Welt. Die Empfänger von Hartz IV werden weiter versachlicht, als Defizitgestalten oder als Feindbilder dargestellt. Wenn Akteure auf gleicher Augenhöhe über Verteilungsfragen diskutieren wür­den, sähe das anders aus. Mit Hartz IV sollte So­zialpolitik nie abgeschafft, sondern aktualisiert werden. Die Debatte zeigt durchaus, dass die kostengünstige Befriedung der Armen weiterhin als ei­ne wichtige Aufgabe des Staates betrachtet wird, um den sozialen Frieden zu gewährleisten. Gut ge­hen darf es den nicht arbeitenden Beziehern von Hartz IV aber weiterhin nicht. Das ist eine Erwartung, die gesellschaftlich auf ihnen lastet. Die Sozialpolitik und die Debatten, die in ihrem Namen ge­führt werden, tun das ihre, um diese Erwartung zu erfüllen.