Weibliche Genitalverstümmelung ist nicht nur ein »afrikanisches Problem«

Jenseits von Afrika

Die weibliche Genitalverstümmelung ist kein »afrikanisches Problem«. Es häufen sich die Belege dafür, dass diese Praxis auch im Nahen Osten und in Südasien verbreitet ist.

Wenn am 6. Februar zum »Tag gegen weibliche Geni­talverstümmelung« in aller Welt Ver­an­stal­tun­gen mit Repräsentanten der Uno und zahlreicher NGO stattfinden, können einige Erfolge gefeiert wer­den. In vielen afrikanischen Staaten wurden Gesetze gegen Genitalverstümmelung erlassen oder verschärft, vor allem aber gelang es mit Kam­pagnen, vielen Mädchen die Verstümmelung zu ersparen. Es stellte sich jedoch auch heraus, dass diese Praxis weiter verbreitet ist, als früher vermutet wurde, und noch immer von vielen NGO-Mitarbeitern geglaubt wird. So ist die »Frauenbeschneidung« kein fast ausschließlich »afrikanisches« Phänomen. In Frage gestellt wird in neueren Studien auch die etwa auf der Website von Uni­cef Deutschland progagierte These, die Ver­stüm­melung sei ein »archaischer« Brauch vor­isla­mischen und vorchristlichen Ursprungs, bei dessen Rechtfertigung religiöse Vorstellungen eine untergeordnete Rolle spielten.
In der Stadt Arbil im kurdischen Nordirak wird am 6. Februar eine Studie über weibliche Genitalverstümmelung in der Region vorgestellt. Die Untersuchung wurde von der Hilfsorganisation Wadi erstellt, deren Mitarbeiter im Jahr 2004 erstmals bemerkten, dass in den Dörfern, in denen sie medizinische Beratung gaben, die Verstümmelung offenbar weit verbreitet war. Diese Entdeckung war auch für die einheimische Ärztin des mobilen Teams eine Überraschung. Bei der bislang umfangreichsten Erhebung in dieser Region wurden etwa 1 500 Menschen in rund 500 Dörfern sowie der Regionalhauptstadt Arbil befragt. Es sollte auch festgestellt werden, welche Rolle der Bildungsstand, die Religionszugehörigkeit und andere Faktoren spielen und welche Begründungen diese Praxis rechtfertigen sollen.

Obwohl das Problem seit mehreren Jahren bekannt ist, hat das kurdische Regionalparlament noch kein Gesetz verabschiedet, das die Verstümmelung von Mädchen und Frauen verbietet. Inter­nationaler Druck könnte dazu beitragen, dass sich das ändert. Seit das Problem im Nordirak der Öffentlichkeit bekannt ist und diskutiert wird, hat sich vieles geändert. In der Region wächst das Bewusstsein dafür, dass es sich um eine Menschenrechtsverletzung und eine gesundheitliche und soziale Katastrophe handelt. Es gibt Aufklärungskampagnen, und inzwischen diskutiert man sogar in Talkshowrunden im regionalen Fern­sehen darüber. Das Tabu ist gebrochen, und auch Männer, die sich offenbar schon lange wunderten, warum ihre Ehefrauen nie Lust auf Sex hatten, sollen sich des Themas inzwischen angenommen haben. Sie sehen sich zunehmend ebenfalls als Opfer.
Diese Wahrnehmung mag zunächst etwas merk­würdig klingen. Die Erfahrungen mit Kampagnen in Afrika deuten jedoch darauf hin, dass es nützlich ist, wenn auch die Männer den Eindruck gewinnen, sie würden von einem Verzicht auf die Ver­stümmelung der Mädchen und Frauen profitieren. Eine gängige Begründung der »Beschneidung« lautet, dass durch sie vor- und außereheliche sexuelle Aktivitäten verhindert werden könnten. Ansonsten ist die Vorstellung, es handele sich um eine religiöse Vorschrift, die wichtigste Rechtfertigung für die »Beschneidung«.
Die Opfer allerdings sind selbstverständlich jene Mädchen, die zumeist im Alter zwischen vier und acht Jahren von ihrer Mutter oder deren Schwiegermutter einer professionellen »Beschneiderin« übergeben werden. Häufig werden dabei mehrere Mädchen hintereinander dieser etwa viertelstündigen Tortur ausgesetzt, bei der oft mit ein und derselben unsterilen Rasierklinge ohne jegliche Betäubung Teile der Klitoris und gelegentlich Teile der Schamlippen amputiert werden. In manchen Fällen ist die Mutter anwesend.

Wie viele Mädchen an den Folgen sterben, ist unbekannt. Keine der befragten Mütter gab an, dass eines ihrer Kinder an den Folgen der »Beschneidung« gestorben sei. Angesichts vergleichbarer Erkenntnisse aus afrikanischen Ländern sind hier Zweifel angebracht. Ferner ist aus Afrika bekannt, dass überlebende Opfer ihr Leben lang unter schweren psychischen und gesundheitlichen Folgen leiden. Auch dies verneinte die überwiegende Mehrheit der Befragten.
Die Studie stellt einerseits eine erschreckend hohe Beschneidungsrate in den untersuchten Gebieten fest, zeigt aber auch positive Trends. So nimmt die Verstümmelungsrate ab, unter den 15- bis 19jährigen liegt sie bei 33 Prozent, bei jüngeren Mädchen ist sie noch niedriger, während bei den über 70jährigen die Rate nahezu 100 Prozent beträgt. Zudem steigt die Chance der Mädchen, der Verstümmelung zu entgehen, wenn die Eltern gebildet und die Frauen berufstätig sind. In den ver­gangenen zehn Jahren wurden insbesondere bei der Alphabetisierung Erfolge erzielt. Doch die Studie geht davon aus, dass neben einer Verbesserung der Bildung und der bereits praktizierten Aufklärungsarbeit auch klassische Programme des Gender Mainstreaming verstärkt angewandt werden müssen.

Bei Unicef Deutschland scheint man hingegen ahnungslos zu sein. Der Pressesprecher Rudi Tarneden weiß von seinen Besuchen bei offenbar sehr erfolgreichen Projekten im Senegal zu berich­ten. »Von weiblicher Genitalverstümmelung nörd­lich des Jemen habe ich allerdings noch nie etwas gehört.« Die Praxis sei dagegen leider sehr verbreitet in 28 oder 29 afrikanischen Staaten und dem Jemen. Was der Grund dafür sei, ist für Tarneden »die große Frage«. Sehr hohe Verbreitungsraten finde man in Ägypten, wo bis zu 90 Prozent der Frauen »beschnitten« seien, aber auch im Sudan, in Somalia und Guinea. Der Islam, die in diesen Staaten vorherrschende Religion, ist nach Ansicht Tarnedens kein wichtiger Faktor. »Religion spielt sicherlich auch eine Rolle, allerdings gibt es für die ›Beschneidung‹ von Frauen im Koran keine Vorschriften.« Der höchste sunnitische Geistliche an der al-Azhar-Universität in Kairo habe den Brauch auch ausdrücklich in einer Fatwa verboten.
Doch genießen die vom ägyptischen Regime besoldeten Geistlichen nur geringes Ansehen, und nicht vom Staat kontrollierte Imame rechtfertigen die »Beschneidung«. Weibliche Genitalverstümmelung gab es in Ägypten zwar schon zur Zeit der Pharaonen, aber der Islam spielt bei der Konservierung und sogar Verbreitung eine wichtige Rolle. Dies wird offenbar aus Rücksicht auf religiöse Gefühle geleugnet.
Im Koran wird die »Frauenbeschneidung« nicht erwähnt, es gibt jedoch einen in unterschiedlichen Versionen überlieferten Hadith, also einen Ausspruch des Propheten, der besagt, man solle bei Mädchen »ein wenig abschneiden, aber nicht zu viel«. Der Hadith muss nicht als Gebot verstanden, kann aber so interpretiert werden. Er gilt insbesondere für die sunnitische Schafi-Rechtsschule als Beleg für die Verpflichtung, Jungen und Mädchen zu beschneiden, da sie sonst unrein seien. Die Schafi-Rechtsschule ist vorherrschend in Ägypten, im Sudan, in Somalia und den kurdischen Gebieten im Irak und Iran, aber auch im bevölkerungsreichen Indonesien.
Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass es noch weitere Gebiete im Nahen Osten und in Südasien gibt, in denen die weibliche Genitalverstümmelung verbreitet ist, und dass die Schätzung, der zufolge jährlich etwa drei Millionen Mäd­chen und Frauen der Prozedur unterzogen werden, zu niedrig liegt. Den vergleichsweise demokratischen Zuständen in den irakischen Kurdengebieten ist es zu verdanken, dass eine Untersuchung überhaupt möglich war. Unter den autoritären Re­gimes in Saudi-Arabien, Syrien oder im Iran wäre dies undenkbar.
Dass es Genitalverstümmelung im Iran gegeben hat, ist unter Historikern bekannt. Sie sei von den arabischen Eroberern ins Land gebracht worden, sagt die iranische Frauenrechtlerin Parvin Zabihi. Aktuelle Daten liegen nicht vor, Zabihi zufolge ist die weibliche Genitalverstümmelung jedoch zumindest unter den sunnitischen Kurden Irans verbreitet.
Die Erkenntnis, dass die weibliche Genitalverstümmelung kein ausschließlich »afrikanisches Problem« ist, wird nun von einigen internationalen NGO thematisiert, unter anderem von Human Rights Watch. Die Menschenrechtsorganisation stellte auch fest, dass im Nordirak medizinisches Personal der Regierung an Verstümmelungen beteiligt ist oder sie als »harmlos« darstellt. Diese angeblich archaische Praxis verschwindet nicht einfach mit der Modernisierung. Um sie zu beenden, ist ein langwieriger gesellschaftlicher Kampf notwendig, der nur beginnen kann, wenn die unbequemen Tatsachen öffentlich benannt und bekannt werden.