Der Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Heinrich Boere

Stete Arbeit für den Feind

Im Aachener Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Heinrich Boere haben die Anwälte der Nebenkläger eine neue Strafanzeige gestellt. Boere soll für sieben weitere Morde mitverantwortlich sein.

Für den niederländischen ehemaligen SS-Mann, der seit dem 28. Oktober vor dem Aachener Landgericht steht, tritt der Prozess in die entscheidende Phase. Heinrich Boere, der als Angehöriger einer SS-Todesschwadron (Codewort Silbertanne) zur Vergeltung von Aktionen des niederländischen Widerstandes im Sommer 1944 mindestens drei unbewaffnete Zivilisten erschoss, hatte sich bislang mit Hilfe seiner Anwälte vor Gericht als kleiner Befehlsempfänger ausgegeben, der nicht für seine Taten verantwortlich gewesen sei. Boere hatte im Prozess die Morde erneut gestanden, sich gleichzeitig aber auf den sogenannten Befehlsnotstand berufen. Mit dieser Begründung versucht er – wie vor ihm etliche NS-Täter in Deutsch­land –, straffrei aus dem Prozess zu kommen.

Das könnte vielleicht misslingen. Den Prozesstag am 28.Januar eröffneten die Anwälte Detlef Hartmann und Wolfgang Heiermann, die die Angehörigen der ermordeten Niederländer bei der Nebenklage vertreten, mit großen Neuigkeiten. Nach Recherchen in niederländischen Archiven stellten sie eine neue Strafanzeige gegen Boere wegen Mordes in sieben weiteren Fällen bei der zuständigen Zentralstelle für die Bearbeitung von Nationalsozialistischen Massenverbrechen bei der Staatsanwaltschaft Dortmund.
Die Anwälte stützen ihre Annahme der Mittäterschaft Boeres auf Polizeidokumente aus dem Jahr 1946, die die Folgen einer Razzia des Sicherheitsdienstes (SD) aus Maastricht am 17. Mai 1944 in dem Städtchen Helden-Panningen belegen. In den Dokumenten finden sich Aussagen von Boere, der seine tatkräftige Mitwirkung an einer Undercover-Aktion des SD Maastricht einräumt. Offenbar hatte sich Boere bereits drei Monate vor den ihm vorgeworfenen »Silbertannen-Morden« bei niederländischen Bauernfamilien als hilfsbedürftiger Flüchtling ausgegeben und anschließend seine Obdachgeber bei der deutschen Sicherheitspolizei verraten. 52 Personen wurden festgenommen, mindestens sieben von ihnen kamen nicht mehr zurück und starben in deutschen Konzentrationslagern.
Nach den jetzt ausgewerteten Dokumenten zufolge kann Boere auf eine kontinuierliche verbrecherische Karriere zurückblicken: Im Mai 1944 bekam er als Angehöriger der Germanischen SS und als »Landwächter« den Auftrag vom SD in Maas­tricht, die Widerstandsstrukturen im Raum Helden-Panningen zu infiltrieren. Diese katholisch und ländlich geprägte Grenzregion um die Stadt Venlo – und das ist in Deutschland bisher unbekannt – war eine Hochburg des katholischen Widerstandes, der hauptsächlich von jungen Kaplanen, Dorfschullehrern, Ortspolizisten und Bauernfamilien getragen wurde. Boere und zwei weitere niederländische Nationalsozialisten versuchten, als Zivilisten getarnt, Kontakt zu Widerstandskreisen aufzunehmen. Boere und seine Kollegen gaben sich als ehemalige SS-Leute aus, die aus dem Dienst geflohen seien und von den Deutschen gesucht würden.
Schon im ersten Bauernhaus wurden sie für eine Nacht aufgenommen und versorgt. Am nächs­ten Tag wurden sie von der hilfsbereiten, aber ahnungs­losen Bauernfamilie an zwei Nachbarfamilien weitergereicht, die noch Platz in der Scheu­ne für so genannte onderduiker (Untergetauchte) hatten. Nach zwei Tagen hatten Boere und seine Kameraden genug Informationen gesammelt und kehrten unter einem Vorwand nach Maastricht zurück. Beim SD verrieten sie die Namen der Bauern und der Untergetauchten und erhielten für den Verrat jeweils 75 Gulden als »Unkostenerstattung«. Zwei Tage später überfiel der SD mit seinen niederländischen Hilfstruppen und Wehr­macht­soldaten Helden-Panningen und verhaftete 52 Verdächtige. Boere und seine Kameraden traten wieder in der Uniform der Germanischen SS auf und verrieten die Verstecke der Untergetauchten.

»Es existierte eine unglaubliche Hilfsbereitschaft«, erinnert sich der 90jährige ehemalige Widerstandskämpfer Peter von Ophoven. In fast jedem Bauernhaus lebten onderduiker und wurden von den Bauern versorgt. Gleich nach der deutschen Besetzung im Mai 1940 verliefen die Fluchtrouten für Flüchtlinge und Kriegsgefangene durch die Region Limburg. Ab 1943 konnten zahlreiche jüdische Flüchtlinge und Arbeitsverweigerer bei den Bauern der Region untertauchen. Während in vielen Regionen und Städten der Niederlande fast alle Juden dem nationalsozialistischen Völkermord zum Opfer fielen, überlebten in der Region Limburg immerhin 30 Prozent der relativ kleinen jüdischen Minderheit.
Eine besondere Spezialität der katholischen Widerstandsgruppen war die Unterstützung notgelandeter alliierter Piloten, die bis 1943 auf organisierten Fluchtwegen zur Kanalküste und von dort wieder nach Großbritannien zum Einsatz gebracht wurden.
Auch die guten Kontakte zu den Honoratioren der Dörfer zahlten sich aus: Der Bürgermeister und der Ortspolizist sorgten mit dafür, das die Un­tergetauchten mit Pässen und gefälschten Lebensmittelmarken versorgt wurden. Darüber hinaus wurden Passämter überfallen und Lebens­mittelkarten aus den Büros gestohlen oder nachgedruckt. Ab Sommer 1944 formierte sich sogar eine kleine Partisaneneinheit, die in den Wäldern von Venlo in Bunkern lebte und mit kleineren Aktionen die Eisenbahnverbindungen sabotierte.
Dies alles blieb den Nationalsozialisten nicht verborgen. Die Razzia vom 17. Mai 1944 war nur der Auftakt einer wirksamen Repressionswelle. Widerstandskämpfer wurden füsiliert oder auf offener Straße erschossen. Den Schlusspunkt setzten kurz vor der Befreiung der Niederlande Truppen der Wehrmacht, die im Oktober und November 1944 die Kirchen in der Region Limburg während der Gottesdienste umstellten und Hunderte von Kindern, Jugendlichen und Männern zur Zwangsarbeit nach Deutschland entführten.
Auf die neuen Vorwürfe gab es von Boere bisher keine sichtbaren Reaktionen. In einer Erklärung bestritt er kürzlich, dass er kontinuierlich in verschiedenen bewaffneten nationalsozialistischen Formationen und bei der niederländischen Nazipartei NSB tätig gewesen sei: »Ich bin mir heute noch ziemlich sicher, dass ich zu keinem Zeitpunkt Dienst bei der Landwacht in den Niederlanden getan habe. Das war der bewaffnete Teil der NSB, und mit denen hatte ich nichts zu tun. Die NSBler wollten doch alle nicht kämpfen, und auch später im Kommando Feldmeijer haben wir Ostfrontkämpfer der Waffen-SS die immer verachtet.«
Die aufgefundenen Dokumente – Gehaltsabrechnungen für SS und Landwacht mit Mitgliedsnummern der NSB usw. – beweisen das Gegenteil. Offenbar trat Boere, direkt nachdem er aus ge­sundheitlichen Gründen aus der Waffen-SS ausgeschieden war, Anfang 1943 in die NSB ein. »Auf eigenen Wunsch« absolvierte er eine Spezialausbildung in der berüchtigten Polizeiakademie Schalk­haar und in der SS-Polizeischule in Avengor. Beide Einrichtungen waren Kaderschmieden der Germanischen SS für das »Fußvolk der Endlösung« und der Partisanenbekämpfung.

Übrigens, die nunmehr in Deutschland angezeigten Morde sind keineswegs neu entdeckt worden. Sie wurden bereits 1949 im Verfahren gegen Hein­rich Boere vor dem Sondergericht in Amsterdam, in Abwesenheit des Angeklagten, »als Arbeit für den Feind« erwähnt. Boere entging damals der Strafverfolgung, weil er sich rechtzeitig nach Deutschland abgesetzt hatte.
Erstaunlicherweise hat die Dortmunder Staatsanwaltschaft diese gravierenden Verbrechen bei der Neuformulierung der Anklage und bislang auch bei der Beweisführung im laufenden Prozess nicht erwähnt, obwohl sie doch über die »Täterpersönlichkeit« von Boere Aufschluss geben. Das Resumee der Nebenklage ist eindeutig: Boere war kein einfacher Befehlsempfänger, sondern »ein eifriger und überzeugter Nationalsozialist, heimtückisch und widerwärtig«.
Die neue Strafanzeige dürfte aber nach den bisherigen Erfahrungen mit der Justiz in Deutschland nicht zu einem richtigen Gerichtsverfahren führen. Wer die Schützen der Einsatzkommandos, die Fahrer der Gaswagen oder die Organisatoren der Vernichtungslager in Sobibor und Belzec straffrei lässt, wird die Mitschuld von Boere am Leiden der Deportierten und Gefolterten, am Sterben der niederländischen Widerstandskämpfer in Sachsenhausen und Bergen-Belsen kaum verfolgen wollen.
Trotzdem hat sich die Intervention der Anwälte bereits gelohnt, denn über den katholischen Widerstand der Limburger ist in Deutschland einiges bekannt geworden. »Das Ziel der Nationalsozialisten, gewachsene soziale und religiöse Zusammenhänge zu zerstören, um die Verfügung über die dem Terror isoliert ausgelieferten Menschen zu gewinnen, das Gute im Menschen auszumerzen, die Fähigkeit zu Mitgefühl, Empathie und Solidarität, um die vereinzelten Menschen als verflüssigtes und homogenes Material für die nationalsozialistische Gestaltung des Großraums Europa zuzurichten, ist ihnen nicht gelungen«, be­tonte Detlef Hartmann in seiner Erklärung. »Der Widerstand wurde stärker und behauptete seine Werte gegen den Terror. In den bäuerlich geprägten Gebieten Limburgs war es schließlich fast jede Familie, die ihren Beitrag zu den Hilfsnetzwerken leistete. Sie sind es, nicht die juristische Aufarbeitung nach all den Jahren der Bewältigungsjustiz mit ihren nicht nachvollziehbaren Einstellungen von Verfahren und Blindheiten für die eigentlichen Schreibtischtäter aus den deutschen Eliten, auf die die Erwartung von Gerechtigkeit sich zu gründen vermag.«
Man darf gespannt sein, was die Verteidiger Boeres dem Antrag der Nebenklage diese Woche entgegensetzen können. Helden-Panningen jedenfalls schaut nach 66 Jahren wieder sehr aufmerksam nach Deutschland.