Von Wanzen und Menschen

Die Welt der Wanze

Weltweit vergrößert sich seit einigen Jahren die Population der Bettwanzen exponentiell. Vor den am Freitag in Vancouver beginnenden olympischen Winterspielen beherrschte vor allem ein Thema die Medien: Die »Wanzenplage« in den Hotels. Interessant ist die Bettwanze selbst, aber auch der Blick des Menschen auf das kleine Tier.

Die Bettwanze ist zurück. Cimex lectularius, wie sie wissenschaftlich heißt, ist wieder zur häufigsten Wanzenart in Europa geworden. Auch in Berlin, wo der Schädlingsbekämpferverband seit 2007 die Verwanzungen registriert, nimmt ihre Zahl stetig zu. In Hotelzimmern, Appartementhäusern mit häufig wechselnden Gästen oder auch in den Wohnungen vielreisender Einwohner finden sie optimale Lebensbedingungen. Moderne, wohltemperierte Zimmer bieten den nur um die fünf Millimeter langen Tieren ein angenehmes, meist gleichbleibendes Klima und ausreichend Möglichkeiten, sich zu verstecken.

In feinen Ritzen in Bilderrahmen, an Tapetenrändern oder direkt im Bett finden sie genügend Verstecke, in denen sie lauernd den Tag verbringen können. Dabei können sie eine sehr lange Zeit ohne jede Tätigkeit auf der Lauer liegen. 40 Wochen schaffen sie es, ohne Nahrung zu überleben. Wer einmal, wie der Autor dieser Zeilen, gesehen hat, wie sie dann allerdings aus ihren Ritzen kommen, wenn sich zum Beispiel drei Leute auf einer Bank in einem Ferienhaus niedergelassen haben, um die Wohnung zu begutachten, versteht den Ekel vor den Tieren. Wie eine Armada kamen sie in nicht enden wollender Reihe hinter der Fußbodenleiste hervorgekrochen und bewegten sich, dunkel vorwärtsdrängend, die weiße Wand hoch. Bei einer Geschwindigkeit von etwa einem Meter in der Minute hatten sie bald die halbe Wand auf ihrem Weg zur Decke gebräunt.
Die weitere Wanderung wurde in diesem Fall nicht mehr verfolgt und ein anderes Haus zur Miete gesucht. Der Weg der Wanzen mit ihrem stark abgeplatteten Köper ist aber bekannt: Wenn ihre Opfer, im Fall der Bettwanzen ausschließlich warmblütige Vögel und Säugetiere, vor allem Menschen, im Raum bleiben, klettern sie unter die Decke und lassen sich von dort herunterfallen. Auf ihren Opfern suchen sie unbedeckte Körperstellen, die sie mit ihrer Rüsselspitze nach geeigneten Einstichstellen abtasten. Wenn sie eine Stelle gefunden haben, die sich zu lohnen scheint, schieben sie ihre Stechborsten durch die Haut. Während des Stiches leiten sie gleichzeitig Speichel in ihre Nahrungsquelle. Der eingeleitete Speichel hat den Zweck, bei ihren Opfern die Blutgerinnung zu verhindern. Normalerweise sind die juckenden, roten Quaddeln, die sich um die Einstiche bilden, die einzige sichtbare Spur, die Bettwanzen hinterlassen.

Da sie tagsüber ruhen und erst nachts aktiv werden, überfallen sie in der Regel nur Schlafende, und die spüren den Moment des Stiches nicht. Nachdem sie sich mehrere Minuten lang vollgesogen haben, ziehen sie sich in ihre Verstecke zurück und verdauen sehr langsam nur nach Bedarf, da sie das Menschenblut in ihrem Darm speichern können. In ihren Verstecken bleiben sie aber selten allein. Aus den nicht verschließbaren Mündungen ihrer Stinkdrüsen treten ständig Sekrete aus, die den typischen Wanzengeruch erzeugen und Kennern ihre Anwesenheit verraten, auch wenn man sie nicht sieht. Der Geruch dient den Tieren aber auch dazu, sich zur Paarung zu finden. Diese vollziehen Bettwanzen auf eine eigenartige Weise. Das kleinere Männchen besteigt das Weibchen an der rechten Körperseite und führt sein Glied nicht in die Geschlechtsöffnung ein, sondern durchbohrt die rechte Körperseite des Weibchens, was einen Teil des Spermas direkt in die Leibeshöhle eindringen lässt. Überschüs­siges Sperma kann so als Nährstoff gespeichert werden und die Zählebigkeit der Weibchen fördern. In ihrem etwa einjährigen Leben legen die Weibchen mehrere hundert Eier, die sie in kleinen Gruppen an allen möglichen Plätzen in ihren Verstecken ablegen, wobei sie aber eine Vorliebe für getragene Kleidungsstücke haben.
Aus den Eiern schlüpfen bei günstigen Bedingungen nach zwei Wochen die Larven, die über mehrere Entwicklungsschritte in einem Zeitraum von sechs bis acht Wochen zu erwachsenen Geschlechtstieren werden. Von den mehr als 40 000 Arten der Ordnung der Wanzen (wiss.: Heteroptera) gehören nur um die 90 Arten, also lediglich 0,23 Prozent, zur Familie der Plattwanzen (Cimi­cidae), die Blutsauger sind.

Die Wahrnehmung der klassischen Parasiten in neuerer Zeit hat ihren Ausgangspunkt aber nicht im Reich menschlichen Ekels genommen, sondern bei einem der Begründer der modernen Ökologie, bei Jakob Johann von Uexküll. Seit Uexküll in seinen 1934 erschienenen »Streifzügen durch die Umwelten von Tieren und Menschen« das Leben der Zecke auf sehr einfachen Bedeutungsregeln (oben-unten, warm-kalt, Buttersäure ja-nein) beruhend beschrieben hatte, haben Parasiten eine erstaunliche Karriere gemacht. Für den Philosophen Gilles Deleuze sind sie die philosophischen Tiere schlechthin. Der Rhythmus der Zecke, bestimmt durch das unbeweglich lauernde Warten auf der Spitze eines Astes, bis ein Säugetier unter ihr vorbeiläuft, der Duft der Buttersäure des Schweißes sie weckt und sie sich fallen lässt, um an der Beute Blut zu saugen, wird zum Musterbeispiel eines Tieres, das eine Welt hat.
Astspitze, Schweiß, Blut – eine drastisch einfache Antwort auf die komplexe Frage des großen Philosophen Baruch de Spinoza danach, was einen Körper bewegt. Eine Antwort, die natürlich nur für Zecken, Läuse und Wanzen gilt. Diese Tiere werden so für Uexküll und Deleuze zu Lebewesen, die sich jeder Anthropomorphisierung entziehen und einen neuen Blick auf Lebewesen und ihre von unserer Weltsicht komplett verschiedenen Umwelten in ihrer reduziertesten Form ermöglichen. Parasiten werden in diesem Zusammenhang zu Paradebeispielen einer evolutionären Entfaltungsmöglichkeit, die jedes Fortschritts­paradigma der natürlichen Entwicklung konterkariert. Die Sinne der Parasiten streben nicht nach höherer Komplexität, sondern nach radikaler Komplexitätsreduktion: Hören und Sehen werden zugunsten des Geruchssinns eingestellt oder eingeschränkt, das Leben wird auf drei, vier Bedeutungsmuster zusammengeschrumpft. »Die Theorie des Parasiten führt uns zu ultra-feinen Bewertungen von Zustandsänderungen«, schreibt der Wissenschaftsphilosoph Michel Serres in »Der Parasit«, seinem hierzulande bekanntesten Werk.
Man kann die Rückkehr der Bettwanze wie im übrigen auch die mittlerweile fast in jedem städtischen Kinderladen oder in Grundschulen zum Normalfall gewordenen Kopfläuse in einen Zusammenhang mit dem Denken von Uexküll, Deleuze und Serres sehen: Die Ökologisierung des Denkens, für die die drei auf verschiedene Weisen stehen, hat den Zecken, Läusen und Wanzen ihr Leben erleichtert. Beziehungsweise, vom Menschen aus gesprochen, das Leben mit ihnen aus der Schmuddelecke der Armut herausgeführt. Während noch die Urania-Tierreich-Enzyklopädie im Band »Insekten« in der Auflage aus dem Jahr 2000 behauptet, »nur in schlecht gepflegten, unsauberen Wohnungen können sich Wanzen längere Zeit halten, so dass Verwanzung fast immer auf Unsauberkeit der Bewohner schließen lässt«, ist davon gegenwärtig nirgendwo mehr die Rede. Im Gegenteil: Vom Medizinratgeber bis zu den Mitteilungen der Deutschen Schädlingsbekämpfer wird betont, dass Bettwanzenbefall nichts mehr mit der sozialen Stellung zu tun habe.
Wanzen können überall auftauchen, und zurzeit tun sie es bevorzugt in mittleren bis höheren sozialen Milieus. Das hängt mit der Zunahme von Reisen auch in asiatische Länder zusammen, und diese werden oft von Handlungsreisenden und Geschäftsleuten unternommen. Der eingangs geschilderte Fall einer Wanzenwanderung in einem Haus ereignete sich in Indonesien, und es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich dabei ein unauffälligeres Weibchen vorzustellen, das in einem Hotelzimmer seine Eier in einen Koffer legt, der dann nach New York, Berlin oder Paris reist.

Bettwanzen gelten daher als Globalisierungsgewinner. Das ist allerdings nur ein Teil der Wahrheit. Dass sie hierzulande und in den USA heranwachsen und sich immer weiter ausbreiten, hat auch mit Veränderungen im Gifthaushalt der entwickelten Länder zu tun. Dass die Bettwanze im westlichen Europa als ausgerottet galt und ganze ab den fünfziger Jahren aufwachsende Generationen ohne Kontakt zu Wanzen und Kopfläusen blieben, hing auch mit dem hemmungslosen Einsatz breit wirkender Insektenbekämpfungsmittel wie DDT zusammen. Als Kontakt- und Fraßgift war DDT im Kampf gegen Insekten so erfolgreich wie kein anderes Mittel vor- und nachher. Da es sich aber im Körper von Insektenfressern und deren Vertilgern anreicherte, ohne abgebaut zu werden, entfaltete es Nebenwirkungen, wie Unfruchtbarkeit bei Greifvögeln und Krebsgeschwüre bei Säugetieren, was schließlich 2004 dazu führte, dass fast kein DDT mehr verwendet wurde. Ausgenommen vom DDT-Verbot ist nur noch die Bekämpfung von Insekten, die den Malaria-Erreger weitergeben.
Der in der Folge der DDT-Auswirkungen geschärfte Blick für Zustandsänderungen in den Verhältnissen zwischen Tieren und Menschen findet selbst in journalistischen Texten seinen Ausdruck. Fast nirgends nämlich wird der Wanzenbiss mit seinen juckenden Quaddeln alarmistisch in einen Zusammenhang mit der Übertragung von Krankheiten gebracht. Was man angesichts der Tatsache, dass in Wanzen bereits 28 gefähr­liche Krankheitserreger gefunden wurden und darunter auch Hepatitis- und HI-Viren waren, als überraschend rational bezeichnen kann. Schließlich gab es, obwohl theoretisch sehr wohl denkbar, bisher keinen einzigen Fall einer nachgewiesenen Übertragung.
Trotzdem bleibt natürlich ein von Wanzen zerbissenes Bein unangenehm. Zudem kann zumindest in den USA der Wanzenbiss für Hotels teuer werden. Eine in einem New Yorker Hotel in einer Nacht von 500 Wanzenbissen malträtierte Frau verklagte das Hotel auf 20 Millionen Dollar Schmerzensgeld. Hotelbewertungsportale im Internet sind voll von Berichten über zerstochene Nächte, weltweit, von Manila über Paris bis Mauritius. Die großen Hotels selber sollen, so berichtete bereits 2007 die Süddeutsche Zeitung, dazu übergegangen sein, ihr Personal in der Biologie der Wanzen zu schulen, es soll eine Aufmerksamkeit für die potentiellen Verstecke entwickeln, einen Blick für die kleinen Kothaufen der Tiere und eine Nase für den Geruch der Stinkdrüsensekrete.
Das ist, um mit Gilles Deleuze zu sprechen, tatsächlich eine wiederkehrende Zuwendung zu den Umwelten der Tiere, die nichts Schlechtes mit sich bringt. Denn ganz los werden wird man weder Bettwanzen noch Kopfläuse. In der Konkurrenz mit der Chemie werden die Parasiten immer einen Platz finden, an dem sie sich entziehen können, und sei es, dass dieser Platz im Kaukasus liegt, wo man traditionell ein pragmatisches Verhältnis zu Wanzen pflegt: Wenn man eine sieht, zerquetscht man sie halt. Sozial stigmatisiert sind dadurch weder Privatleute noch Restaurants. Was bei uns aber noch entschieden anders ist. Es wird aber auch hier kein Weg an der sich dem Verhalten der Tiere zuwendenden Betrachtung vorbeiführen. Mehr als die Tiere ausfindig zu machen und dann einen Fachmann kommen zu lassen, der sie lokal beseitigt, ohne dabei auf völlige Vernichtung zu setzen, wird nicht gehen. In den USA sind die Wanzen nämlich bereits gegen einige häufig eingesetzte Insektenbeseitigungsmittel resistent geworden. Die kurze Generationenfolge ermöglicht eine relativ hohe Mutationsrate, die durch Chemikalieneinsatz zusätzlich erhöht werden kann.
Die Parasiten erzwingen sozusagen von sich aus feinere Wahrnehmungen von Tieren und ihren Umwelten in unserem Lebensumfeld. Das kann man als erkenntnisfördernd bezeichnen.