Gespräch mit Schokufeh Montazeri über Repression und Protest

»Ich mache mir riesige Sorgen«

Schokufeh Montazeri (26) kommt aus dem Iran und lebt und studiert seit fünf Jahren in Deutschland. Sie arbeitet als Radio- und Onlinejournalistin. Ihre Mutter, ihr Bruder und weitere Verwandte wurden im Iran kurz nach den Protestdemonstrationen von Oppositionellen am Ashura-Fest von Sicherheitskräften festgenommen und ins berüchtigte Evin-Gefängnis gebracht. Ihre Mutter soll kurz nachdem dieses Interview aufgezeichnet wurde, freigelassen worden sein. Ihr Bruder und weitere Verwandte befinden sich noch in Haft.

Nach den Demonstrationen an Ashura wurde Ihre Mutter, Mahin Fahimi, und Ihr Bruder, Omid Montazeri, verhaftet. Wie kam es dazu?
In der Nacht zum 28. Dezember, direkt nach den Krawallen, sind Sicherheitskräfte nachts in unser Haus eingedrungen und haben meine Mutter und drei weitere Verwandte festgenommen. Mein Bruder Omid war nicht da. Sie haben ihm eine Nachricht hinterlassen, er solle sich im Geheimdienstbüro melden. Das hat er am nächsten Tag auch gemacht, er wurde sofort verhaftet.
Eine der Verwandten ist jetzt zwar wieder frei, zwei sind aber noch im öffentlichen Saal des Gefängnisses, meine Mutter und mein Bruder sind dagegen in Isolationshaft in der berüchtigten Abteilung 209 des Evin-Gefängnisses, das als Folterzentrum für politische Gefangene gilt, dort, wo auch die iranisch-kanadische Journalistin Zahra Kazemi 2003 ermordet wurde. Seit sie dort sind, hat sie keiner besuchen dürfen, geschweige denn, dass sie einen Anwalt sehen durften. Meine Mutter hat lediglich zweimal mit meiner Tante eine Minute lang telefonieren dürfen. Auch die hygienischen Bedingungen dort sind furchtbar. Meine Mutter ist 54 und sehr krank, sie leidet unter Herz- und Nierenproblemen.
Wissen Sie, was ihnen vorgeworfen wird?
Das ist alles sehr undurchsichtig. Am 30. Januar meldete die staatliche Nachrichtenagentur ISNA, dass 16 Personen vor Gericht erscheinen werden. Fünf wurden bereits vorgeführt, einer davon war Omid. Wir haben nichts Schriftliches darüber, was ihm eigentlich vorgeworfen wird, nur sein Verteidigungsplädoyer. Darin sagt er, dass er keine Kontakte zur Opposition im Ausland hat. Er hat aber auch viel gesagt, das ihn schwer belastet. Er hat sich zum Beispiel dafür entschuldigt, dass er die »rote Line der Islamischen Republik« überschritten hat, dass er respektlos gegenüber dem Gesetz war. Das ist schlimm, denn schon damit droht ihm die mit der Todesstrafe geahndete Verurteilung zum »Mohareb« – zum »Feind Gottes«. Ich mache mir riesige Sorgen und gehe davon aus, dass diese Aussagen erzwungen worden sind – für einen Schauprozess, der die Opposition zugleich einschüchtern und öffentlich diskreditieren soll.
Gibt es politische Gründe, warum ausgerechnet Ihre Familie im Schauprozess vorgeführt werden soll?
Das hat alles mit unseren politischen Aktivitäten und unserer Familiengeschichte zu tun. Mein Vater, Hamid Montazeri, war schon in der Opposition gegen den Schah aktiv. Schon damals saß er als politischer Gefangener im Evin-Gefängnis. Er wurde durch die Revolution 1979 befreit, aber schon 1985 unter der neuen islamischen Regierung wieder inhaftiert, weil er ein hoher Funkti­onär einer linken Partei, der Fedajin-Mehrheit, war. Auch meine Mutter kam damals ins Gefängnis, sie war schwanger mit Omid, wurde aber wieder freigelassen. Mein Vater wurde dann beim Gefängnismassaker vom August 1988 umgebracht. Damals starben laut Amnesty International ungefähr 4 000 politische Häftlinge, wir gehen aber eher von 8 000 aus. Genau weiß das keiner. Meine Mutter und andere Angehörige der Ermordeten organisieren seitdem zweimal im Jahr Gedenkveranstaltungen am anonymen Massengrab, in dem die Regierung die Leichen damals vergrub. Meine Mutter war auch in den letzten Jahren bei „Mütter für den Frieden“ aktiv, das ist ein neu ins Leben gerufenes soziales Forum von Frauen, die sich gegen Gewalt, insbesondere gegen Kinderexekution und Krieg einsetzen.Meine Mutter wurde schon zwei Wochen vor ihrer Verhaftung vom Geheimdienstministerium zum Verhör vorgeladen. Das macht man häufig bei politischen Aktivisten im Iran, um sie einzuschüchtern. Man gibt ihnen zu verstehen, dass man genau über sie Bescheid weiß.
Wissen Sie, worum es bei diesem Verhör ging?
Ja, schließlich habe ich bis zu ihrer Verhaftung alle zwei Tage mit ihr und Omid telefoniert. Unsere Familie ist seit dem Tod meines Vaters sehr klein geworden, da hält man besonders fest zusammen. Meiner Mutter wurde beim Verhör vorgeworfen, sie habe Kontakte zur illegalen Opposition im Ausland, auch darauf steht die Todesstrafe. Außerdem wurde ihr gedroht: »Wir wissen über die Aktivitäten deiner Tochter in Deutschland Bescheid!« Seit ich vor fünf Jahren zum Studieren nach Deutschland kam, beschäftige ich mich mit dem Mord an meinem Vater. Ich wollte seinen Fall vor europäische Gerichte bringen, das hat aber bisher alles nicht funktioniert.
Und Ihr Bruder Omid?
Omid ist Journalist und hat viele Artikel auf verschiedenen Internetseiten veröffentlicht, auch in einer Zeitschrift namens Sarpich. Deren Website wurde kurz nach der Wahl blockiert. Dagegen kann man die Internetseite rokhdaad.com, für die er schrieb, noch einsehen. Er hat auch für die reformorientierte Zeitung Shargh geschrieben, ich denke, die ist jetzt auch verboten. Meine Mutter hat uns von Anfang an dazu gebracht, viele Bücher zu lesen. Wir haben Geschenke bekommen für jedes Buch, das wir gelesen haben. Das und unsere Familiengeschichte hat uns früh für unsere politische Umwelt sensibilisiert.
Als Kind, bevor mein Vater ermordet wurde, habe ich ihn alle zwei Wochen besucht und später auch Omid mitgenommen. Der hatte immer große Angst vor den bärtigen Revolutionsgardisten und weinte, ich musste ihn in den Arm nehmen. Ich selbst habe erst drei Jahre nach dem Massaker erfahren, was mit unserem Vater passiert ist. Mit zwölf Jahren war ich dann zum ersten Mal auf einer der Gedenkveranstaltungen. Etwa um diese Zeit habe ich dann auch Omid beiseite genommen, um ihn über die Ermordung unseres Vaters aufzuklären. Das war merkwürdig, denn er wusste alles irgendwie schon. Er hat es offenbar schon mitbekommen, als ich selber noch keine Ahnung davon hatte, und er wusste auch, dass es eigentlich vor ihm hätte geheim gehalten werden sollen.
Wie geht man heute mit dem Thema »Gefangenenmassaker« im Iran um?
Für alle Fraktionen innerhalb der politischen Elite der Islamischen Republik, ob sie nun Hardliner oder Reformisten sind, ist dieses Thema ein Tabu, niemand spricht davon. Die Massenhinrichtungen fanden im August statt, im Herbst haben die sogenannten Komitees, die von den Pasdaran kontrollierten Gemeindeorganisationen, den Familien Bescheid gesagt, dass sie sich bei den Komitees melden sollten. Viele dachten, ihnen würde dort gesagt, dass ihre Familienmitglieder freigelassen werden sollen, aber sie haben nur gesagt bekommen, dass ihre Familienmitglieder tot seien. Sie haben nicht einmal gesagt, dass sie hingerichtet wurden, geschweige denn warum. Die Regierung und die staatlichen Institutionen haben bis heute nicht zugegeben, dass es dieses Massaker gab. Sogar Mir Hossein Mou-savi, der sogenannte Oppositionsführer, hat sich im Wahlkampf dazu nicht geäußert. Er war ja zur Zeit des Massakers Premierminister. Als Studenten an der Universität Babol ihn dazu befragt haben, hat er die Fragen schlicht ignoriert und dann sogar gesagt: »Solche Fragen beantworte ich nicht.«
Wie ist das Verhältnis zwischen den reform­orientierten politischen Eliten, von Leuten wie Mousavi oder Karoubi, und der Protestbewegung?
Ich würde es als ein dialektisches Verhältnis bezeichnen. Am Anfang war es so, dass Mousavi Leute aufgerufen hat, auf die Straße zu gehen, und die Leute sind gekommen. Später hat Mousavi manchmal gar nicht zu Protesten aufgerufen, die Leute sind aber trotzdem auf die Straße gegangen. Mousavi hat dann eine Erklärung gegeben, er musste nachziehen. Er muss stets aufpassen, dass er mit der Bewegung Schritt hält und nicht abgehängt wird. Auch zu Ashura hat Mou­savi nicht aufgerufen, aber die Leute sind auf die Straße gegangen und haben sogar »Tod dem religiösen Führer Khamenei« gerufen. Menschen wie etwa Mousavi können da viel erzählen, dass es an den Ashura-Protesten nicht nach ihren Prinzipien abgelaufen sei, und sich über die Gewalt beschweren. Aber gerade in dieser Hinsicht ist Mousavi eben kein Führer der Bewegung. Alle wissen, dass Mousavi im Rahmen der Islamischen Republik ein paar Lockerungen hier, ein paar kleine Freiheiten dort versprochen hat, aber eben alles im Rahmen der Verfassung der Islamischen Republik. Ich glaube, so funktioniert das nicht.
Die Bewegung hat sich immer mehr radikalisiert. Und sie wird sich noch mehr radikalisieren und die Radikalisierung der unterschiedlichen sozialen Bewegungen, wie etwa der Frauenbewegung, der Gewerkschaftsbewegung und der Jugendbewegung, aufnehmen. Solche Bewegungen kann man nicht mit ein paar kleinen Reformen abspeisen, das reicht ihnen dann nicht mehr.
Man kann das an den Parolen sehen. Erst hieß es: »Wo ist meine Stimme?« Inzwischen heißt es: »Freiheit für die politischen Gefangenen«. Es gab vor den Wahlen im öffentlichen Bewusstsein keine politischen Gefangenen im Iran. Dann kam die Parole »Stoppt Vergewaltigung« – gemeint war die systematische Vergewaltigung von verhafteten Demonstranten in den Gefängnissen. Vergewaltigung ist in unserer Tradition ein Tabu, Vergewaltigungsopfer gelten als »schmutzig«, d.h. im religiösen Sinn als »unrein«. Das ist ein ganz schweres Stigma. Und jetzt solidarisiert sich die Bewegung mit den Vergewaltigungsopfern. Da geschehen Dinge, die waren vorher undenkbar. Das zeigt, welches Potential diese Bewegung in sich trägt.
Heißt das, die Bewegung weist inzwischen über die Idee der Reform hinaus?
Nein, das wäre natürlich mein Ideal, aber das kann man so zumindest heute noch nicht sagen.
Sie haben viele Tabus erwähnt und auch die sogenannte rote Linie, die das, was in der Islamischen Republik als politisch artikulierbar und diskutierbar gilt, markiert. Werden diese Tabus gerade in Frage gestellt?
Zum Teil. Ich würde da zwischen politischen und sozialen Tabus unterscheiden. Die politischen betreffen das System der Islamischen Republik, sie sind sozusagen verordnete Tabus. Zum Beispiel, dass man den Führer nicht kritisieren darf. Oder nicht über die Massaker sprechen darf. Dazu gehört auch die Zwangsverschleierung, der obligatorische Hijab. Ohne Hijab wäre die Islamische Republik nicht mehr islamisch, sie wäre nur noch eine Republik. Die Zwangsverschleierung war eines der ersten Dinge, die Khomeini nach der Revolution angeordnet hat, noch bevor es überhaupt eine Verfassung gab. Als der verhaftete Studentenaktivist Majid Tavakoli von den Behörden im Tschador vorgeführt wurde, da haben ganz viele Männer im Iran und im Ausland eine Kampagne gemacht, in der sie sich auch im Tschador oder mit Kopftuch haben fotografieren lassen und gesagt haben: »Ich bin Majid Tavakoli!« Und dadurch begann auch eine Kam­pagne gegen den Hijab. Das war davor auch für die iranische Frauenbewegung weitgehend tabu. Die Kampagne »Eine Million Unterschriften« von 2008 hat sich gegen viele diskriminierende Gesetze gerichtet, aber nicht gegen den Hijab.
Im Vergleich sind die sozialen Tabus viel tiefer in unserer Kultur verankert. Immer noch kann im Iran nicht über Homosexualität geredet werden. Ich könnte zum Beispiel auch unter den Demons­tranten nie sagen, dass ich lesbisch bin. Ich bin »schmutzig« für sie. Ein paar Iraner im Exil haben mich im übrigen auch angerufen und gesagt: »Hey, auf Facebook sind Fotos von dir, auf denen du deine Freundin küsst.« Sie sagen mir, das sei gefährlich, das würde der iranische Geheimdienst auch gegen meine Mutter verwenden. Aber was soll ich sagen, das ist doch mein Leben.