White Trash und Magie. Ein Besuch in Coney Island

Shoot the Freak

Coney Island war einst eines der größten Vergnügungsviertel der Welt. Heute ist es eine Vergnügungsnische für die US-amerikanische Unterschicht. Ist es in dieser seltsam anmutenden Welt zwischen stillgelegten Achterbahnen und White Trash noch möglich, den »magischen Moment« zu erleben?

An einem windigen Wintertag könnte man die Gegend zwischen der Surf Avenue, dem Vergnügnungspark »Deno’s Wonderwheel Amusement Park« und dem Riegelmann Boardwalk – so heißt die lang gestreckte Sandpromenade von Coney Island – für eine eingeschneite Geisterstadt halten.
Alles ist zu: die Fressbuden, die Burgerläden, der Autoscooter und die Geisterbahnen. Das Riesenrad steht still, die Karussells sind verpackt, und man könnte sich fragen, ob das Coney Island Museum wohl je wieder eröffnen wird oder ob die Betreiber einfach vergessen haben, Bretter vor die Fenster zu nageln. Hinter den Fenstern zeichnen sich eine Bar und eine Bühne ab. Hier gibt es während der Saison eine klassische Circus-Sideshow, mit Burlesque- und Freakshows, Varieté-Theater, Klein- und Zauberkunst. Die Welt der Sideshow-Künstler hütet hier, fernab von Broadway und Off-Broadway, das Erbe jenes »dialektischen Dramatikers« William Shakespeare, dem Adorno attestierte, »weniger aus der Per­spektive des Fortschritts als der seiner Opfer aufs theatrum mundi« zu blicken. An Coney Island ist der Fortschritt vorbeigezogen. Wem es auch so geht, der sucht hier seinen Sommernachtstraum.

Shakespeare war deshalb der brillanteste Dramatiker, den es je gab, weil er in dem Moment, als das elisabethanische England sich anschickte, die Welt einer noch nicht auf den Begriff gebrachten Trinität von Wissenschaftlichkeit, warenförmiger Vergesellschaftung und der Herrschaft von Gesetzen zu unterwerfen – später erst sollte man diese Ordnung Kapitalismus nennen, intuitiv den Zusammenhang von Romantik und Magie begriff und diesen in seinen unsterblichen Dramen festhielt. In dem Moment, als der eben zum Ritter geschlagene Pirat Francis Drake dem politischen Katholizismus einen Hieb verpasste, von dem er sich in seiner ganzen Geschichte nie erholen würde, verspürte der Dramatiker aus der Gosse Londons, dass in der Zukunft die Magie und die Romantik ein unheroisches Nischendasein fristen würden, und schuf eine solche Nische auf der Bühne. Wo hätte einer das deutlicher spüren können als im post-paganen England, wo sich einst Trolle und Druiden vor den christlichen Missionaren in Höhlen, Haine und Steine hatten flüchten müssen?

An der Promenade steht die verlassene Schießanlage »Shoot the Freak«. Ein handgeschriebenes Reklameschild wirbt damit, dass man hier auf ein live human target schießen darf. Aber es ist weit und breit kein lebender Mensch zu sehen. Nur schwer kann man sich heute vorstellen, wie in den Sommertagen der zwanziger Jahre täglich eine Million Besucher aus der achtspurigen Stillwell Avenue, der Endstation der Metro, ins Vergnügungsviertel strömten. Die guten alten Zeiten sind vorbei, wie auch die Fahrpreise von fünf Cent, die dieser Gegend damals den Spitznamen Nickel empire einbrachten, der Vergangenheit angehören. Vom ehemals größten Vergnügungspark der Welt sind ein eklektisches Sammelsurium von Reminiszenzen und nostalgische Low-budget-Remakes aus einer mehr als hundertjährigen Geschichte übrig geblieben.
Zuletzt hat der Vergnügungspark »Astroland« mit der legendären Achterbahn »Cyclone« dicht gemacht. Die Achterbahn wirkt heute so trostlos wie die Fabrikruinen, die man im sogenannten Rostgürtel zwischen Washington, D.C., und New York City aus dem Fernbus bestaunen kann. Diese Ruinen sind Zeugen einer Zeit, als das amerikanische Proletariat noch aus Industriearbeitern bestand, die am Wochenende mit ihren Familien nach Coney Island fuhren, um sich eine Auszeit vom Arbeiteralltag zu gönnen. Wer heute nach Coney Island fährt, tut dies auch auf der Suche nach einem verschwundenen Amerika, jenseits von Starbucks und Subprime-Krise.
Trotzig hält sich noch »Deno’s Wonderwheel Amusement Park«, wo sich Schießbuden, Geisterbahnen, Karussells und skurrile Geräte, an denen man seine Männlichkeit durch Muskelkraft unter Beweis stellen kann, schützend um das Riesenrad stellen.

Während die Zauberwesen aus der Welt der Erwachsenen verschwanden, rettete Shakespeare die Magie, indem er sie eintrittskartenförmig jedem, der zahlen wollte und konnte, erfahrbar machte. Er rettete sie in der einzigen Form, in der die neue Ordnung sie dulden konnte: als Kunst. So nennt man auch die herkömmlichen Zauberfetische, die Skulpturen und Gemälde, die man, statt sie anzubeten, in Museen ausstellt, in Hochglanzbildbänden diskutiert und mit Fußnoten versieht. Doch diese profanierte Magie und Romantik täuschen leider nicht einmal in ihrer besten Inszenierung darüber hinweg, dass sie letztlich nur gespielt sind. Und das ist die Erfahrung, die nach jeder Bühnendarstellung, egal ob Oper oder Pornokino, letztlich bleibt. Der gekaufte Eskapismus von der verwalteten Welt ist nunmal wie Sex ohne Orgasmus.

Coney Island wirkt heute einfach nur ein wenig heruntergekommen und irgendwie ab vom Schuss. Während der Woche fährt ein Expresszug nach Manhattan, aber am Wochenende braucht die Bahn von dort mindestens eine Stunde – selbst während der Saison, zwischen April und Oktober, wenn Coney Island sich bemüht, einen Hauch seines alten Glanzes wieder auszustrahlen.
Und plötzlich ist sie wieder da, die Erinnerung an einen Freitagnachmittag im August, als ich vor der Hitze der Stadt nach Coney Island flüchtete, in der Hoffnung auf etwas Abwechslung.
Dabei ist es in New York eigentlich nicht einmal so unwahrscheinlich, etwas Spannendes zu erleben. Hier fühlen sich die Leute häufig so einsam und verzweifelt, dass jedes zufällige Gespräch in der U-Bahn als Chance zum Geschlechtsverkehr wahrgenommen wird. Um Ungewöhnliches zu erleben, muss man in der Regel aber zuerst etwas Ungewöhnliches tun. Jemanden völlig fremdes in der Metro nach etwas anderem als der Uhrzeit fragen, zum Beispiel.

Magisch ist der Moment, der die Fähigkeit hat, das post-magische Rationalisierungsmuster zu überrumpeln. Aber verdammt: Der Betrieb des modernen Kapitalismus tendiert dazu, solche Momente in den Bereich des Unmöglichen abzudrängen, weil er die magische Erfahrung wissenschaftlich fasst, durch die Warenförmigkeit banalisiert oder schlicht für irre erklärt.

Die Infokabine am Ausgang der Metrostation Stillwell Avenue ist nicht einmal besetzt. Die restlichen Fahrgäste, die hier ausgestiegen sind, haben auch keine Ahnung, wann der letzte Zug zurück nach Downtown Brooklyn fahren wird. Verwirrt gehe ich in einen ranzigen Burgerladen auf der anderen Straßenseite. Es ist nicht »Nathan’s World Famous Frankfurters«, das legendäre Original von 1916, aus dem eine gleichnamige, in Europa völlig unbekannte Fastfood-Kette hervorging. »Nathan’s« liegt weiter unten an der Surf Avenue.
Dafür sitzt hier vor einer fettigen Portion Pommes ein Postbote in den Mittvierzigern. Er unterhält sich laut mit der gemütlich dreinblickenden Frau hinter der Theke, deren Tonfall unwillkürlich Lust auf southern soulfood macht, nur gibt es die typischen afroamerikanischen Gerichte aus den Südstaaten hier leider nicht. »Guten Abend allerseits!« ruft ein Mann mit zerzausten Haaren, der eine Jacke der New York Yankees trägt und eine Hose, die irgendwie zu kurz wirkt. »Lange nicht gesehen, Mann. Hat deine Frau den Richter nicht darum gebeten, dich noch zwei Jahre im Bau zu behalten?« entgegnet der Postmann mit gespieltem Erstaunen. »Ach, die ist weg, hat sich scheiden lassen, und vorher mein Auto zu Schrott gefahren.« Der Postbote schüttelt den Kopf. »Eine verfluchte Schande ist das.« Die Frau hinter der Theke lacht, die Fettröllchen unter der Küchenschürze wackeln. »Hey, Mann, aber war das nicht eigentlich ihr Auto?« »Ja, stimmt schon«, winkt der Zerzauste ab, »Frauen, Anwälte, die Bank – alle nur drauf aus, einen fertig zu machen. Ich nehm’ mir ’ne Cola, ja?«

Aber magische Momente? Wenn wir meinen, aus der verwalteten Welt auszubrechen. Wenn der nächtliche Winterspaziergang in eine Schneeballschlacht ausartet. Wenn man sich aus einer romantischen Laune heraus zu einer Fahrt auf dem Dach eines Güterwaggons entlang der Pazifikküste Kaliforniens bequatschen lässt. Oder wenn man sich durch das heimliche Einschleichen in ein nobles Luxusressort einen unverdienten Riesenspaß gönnt. Magisch sind die unbezahlten und unbezahlbaren Glückshormone. Aber die käuflichen Surrogate? Die beweisen immer wieder, wie pervers diese Gesellschaft sein kann.

Bei »Shoot the Freak« drängen sich die Schaulustigen. Fünf blonde Stiernacken schießen aus Paintball-Gewehren, während vor ihnen am Ende einer etwa tennisplatzgroßen Grube ein Afroamerikaner mit Skibrille und Motocross-Helm versucht, den Geschossen zu entgehen.
Dann ist zufällig Waffenstillstand im postapokalyptischen Rassenkrieg. »Treten Sie vor, 15 Schuss nur fünf Dollar«, brüllt ein Mann mit Glatze, der ein XXXL-Unterhemd trägt. Er sitzt breitbeinig neben dem Schießstand und verkauft die kleinen bunten Farbpatronen für die bereitliegenden Gewehre. Unten in der Grube hat sich die lebende Zielscheibe den Helm abgenommen und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Ihr Overall war ursprünglich wohl grau, sieht inzwischen aber aus wie eine Malerpalette.
»Hey, fotografieren kostet zehn Dollar!« brüllt der Dicke. Sein Kollege lacht höhnisch. Na super. Ich komme mir vor wie ein Student auf der Baustelle. »Ihr seid die verdammten Freaks!« denke ich mir. »Äh … das ist ja ein echt gutes Angebot, Jungs!« stammele ich, um nicht nur dumm dazustehen. Das klingt weder souverän noch witzig, sondern einfach nur blöd – jetzt lachen auch noch einige aus der Menge über meine mangelnde Schlagfertigkeit. Ich gehe, bevor alles noch peinlicher wird. Von wegen Romantik und Zauber des Augenblicks. Shakespeare ist schuld.

Die Zauberer, die in grauer Vorzeit von den Menschen gefürchtet, verehrt und in Pyramiden begraben wurden, sind zu Unterhaltungskünstlern in Zirkusveranstaltungen mutiert, die mal mehr, mal weniger erfolgreich Zauberei als Ware verkaufen. Wenn die gesellschaftliche Krise wie eine unvorhergesehene Naturkatastrophe über die verwaltete Welt hereinbricht und die Dämme der herrschenden Ordnung an allen Ecken bersten und krachen , dann schlägt die Stunde jener Taschenspieler, die sich als Demagogen neu erfinden und die Sehnsucht nach der Magie zur faschistischen Massenbewegung mobilisieren. Naja. Das ist der Alptraum der Freud lesenden Adorno-Antifa, die reflexartig jegliche Zauberei mit der kritischen Kritik exorziert. Aber übertreibt sie nicht vielleicht ein wenig?

An der Treppe zur Strandpromenade treffe ich die Frau wieder, die mir vor einer Stunde ein ermäßigtes Eintrittsticket für die Varieté-Show im Coney Island Museum verkauft hat, obwohl ich weder Armeeveteran noch »senior citizen« bin, wie man in den Staaten ältere Menschen politisch korrekt nennt. Sie winkt mir zu. »Hey, was machst du?« Ich erkläre, dass ich mich von einem kleinen Schock erholen muss. Erst jetzt stellt sich heraus, dass sie mich mit dem Bekannten einer Kollegin verwechselt hat.
»Macht nichts, wenn du willst, lasse ich dich umsonst in unser Kino, es läuft ein Vampirfilm.« Wir laufen zurück zum Museum, wo Aileen – so heißt sie – wieder Eintritt nehmen muss. Nebenbei erfahre ich, dass es in dem Museum auch eine Sideshow-Schule gibt; dort kann man Feuerspeien, Schwertschlucken und Striptease-Tanz lernen, oder auch, wie man sich zentnerschwere Gewichte an Genital- und Zungenpiercings hängt, ohne sich dabei ernsthaft zu verletzen.

Die bürgerliche Gesellschaft und ihre Verfallsformen dulden die Magie, solange sie irgendwie Geld macht. Da gibt es die Extremfälle, wie die Albinojäger in Afrika, die das Blut und die Körperteile von Menschen mit einem fehlenden Hautpigment für viel Geld an sogenannte »traditionelle Heiler« verkaufen. Aber solche Fälle stellen eigentlich eher die Ausnahme dar – die selbstverständlich die besseren Schlagzeilen macht als die Norm –, in der Regel sucht sich die Magie aber wesentlich harmlosere Nischen.

Die Sideshow-Truppe im Coney Island Museum erinnert ein wenig an die Krustenpunks der neunziger Jahre. Etwas weniger schmuddelig vielleicht, mit Pomadetollen statt Dreadlocks, aber genau so großflächig tätowiert. Auch diese Gemeinschaft bildet in ihrer kleinen Welt der Burlesque- und Trash-Kultur der working class eine kleine Gegenrealität mit ihren eigenen Initiationsriten, wie das auch in besetzten Häusern in Brixton, Prenzlauer Berg oder der Lower East Side üblich war.
Hier fühlen sich Aileen, die Schwertschluckerin Heather Holiday oder der »Skorpionmann« mit angeborener Ektrodaktylie (in Amerika wird das umgangssprachlich »Hummerhände« genannt, es betrifft aber auch die Füße) viel wohler als in jedem konventionelleren Dienstleistungsjob. »Ich hatte früher einen richtigen Nine-to-five-Job«, meint Jack, dessen Show daraus besteht, Eisenstangen hinter seinem breiten Nacken zu verbiegen. »Aber zurück in die Autowerkstatt in Grand Rapids, Michigan? Vergiss es, nur über meine Leiche!« Die Kleinkünstler, die zwischen ihren Auftritten auf der Straße um potentielle Zuschauer werben müssen, sind sich offenbar alle einig, warum sie diesen prekären Lebensstil lieben. »Klar, es ist letztlich auch nur ein Job«, sagt Aileen, »aber einer, in dem die Leute mich respektieren für das, was ich bin.« Zum Studieren habe sie schließlich kein Geld.
Und wer weiß, wie lange das raue Idyll bestehen bleibt. Denn es gibt bereits Pläne, die ganze Gegend nach historischem Vorbild neu zu gestalten. Das Ergebnis möchte sich Heather Holiday besser gar nicht so genau vorstellen. »Diese Anlage wird dann zu einer Art Szeneviertel aus der Retorte werden und so originell wie eine Shopping-Mall sein, so viel ist sicher«, meint sie. Für das kleine Museum wäre dann Schluss mit der Punkrock-Zaubernische.

Übrigens: Freud und Adorno waren Bürger. Was wussten die schon von Punkrock?

Das einzig wirklich Magische an dieser kleinen Nische ist nämlich, dass alle sich hier, zumindest für einen Moment, glücklich fühlen. So wie ich, als ich zwei Dosen Bier an Aileen vorbei in die Kinovorstellung im ersten Stock schmuggele. Es kann oder will sich ja auch nicht jeder ein Bier für neun Dollar unten an der Bar leisten.