Journalisten, nicht nur nach Balzac

Gerade lese ich Honoré de Balzacs Roman »Verlorene Illusionen«. Ich lese ihn zum ersten Mal, weil ich gewöhnlich einen Bogen um das 19., das bürgerliche Jahrhundert mache.
Doch kann einem niemand die Bürger so gut erklären wie ein Bürger. Und weil das Bürgertum mit dem Kapitalismus groß wurde, kennt es auch den Kapitalismus genauer als andere Klassen. Der Bürger kennt den Kapitalismus oft von unten und von oben, als Aufsteiger und als Arrivierter. Balzac war ein Bürger, der besonders lange zum Aufstieg brauchte und ihn nicht lange genießen konnte; kein Verräter seiner Klasse war er, aber einer, der ihre Wahrheit besonders unbarmherzig aussprach. Er kannte freilich nur ihre Wahrheit; die tugendhafte Bo-hème, die er rühmt, hat es wohl nie gegeben. Dagegen ist seine Darstellung des Emporkömmlings, des Unternehmers samt Mätresse oder des Journalisten von großer Luzidität.
Nehmen wir nur das Schreckenskabinett seiner Journalisten, dieser mürrischen, unterbezahlten, ausgehungerten, ressentimentgeladenen, mitunter auch erschreckend einfallsreichen Lohnschreiber und verhinderten Dichter. Sie sind nicht bloß Romanfiguren, denn ich habe sie alle gekannt: den Polemiker, der seine Kolumne nutzt, um Privatfehden auszutragen; den Verleumder, der andere zu Treibjagden anstiftet; den Rezensenten, der ein Buch verreißt oder lobt, ohne mehr als fünf Seiten darin gelesen zu haben; den schnellfertigen Abschreiber; den Opportunisten, der heute links, morgen rechts ist, manchmal auch umgekehrt (man denke an die FAS, die in der Finanzkrise den »Sozialismus« entdeckte und den Begriff nun doch wieder als Schlagstock gegen Linke einsetzt). Und in dem eitlen Journalisten, der »den leichten Triumph der Epigramme« nicht verschmäht, habe ich mich selbst porträtiert gefühlt.
Wer fehlt denn noch? Balzac konzentriert sich auf das Feuilleton, das heute nicht mehr so wichtig ist. Dem Klassenkampf von oben widmet er wenig Aufmerksamkeit. Den Leitkommentator, der ausruft: »Armut? Ich sehe keine!«, den Reporter, der gefährlichen Fremden auf der Spur ist und Bettlern ihre Groschen neidet, den Fälscher von Statistiken oder den Spaßmacher, der die »Unterschicht« durch den Kakao zieht, stellt Balzac nicht dar. Und nun gibt es zum Glück für diese auch niemanden mehr, der es so gut wie er könnte.
Denn Literatur ist inzwischen ohnehin Journalismus, oft sogar schlechter, ein anspruchsvoller Aufsteiger wie Lucien de Rubempré hätte heute vielleicht noch einen moralischen, aber keinen ästhetischen oder politischen Grund mehr, sich für die brotlose Kunst zu opfern, ihm sollte es genügen, für bessere Blätter zu schreiben.