Migrantische Arbeit in der EU und ihre wirtschaftliche Bedeutung

Ausgrenzen und ausbeuten

In Frankreich und Italien riefen Migranten für den 1. März zum Migrantenstreik auf. Der »Tag ohne uns« sollte zeigen, was die alltägliche rassistische Ausgrenzung von Migranten unsichtbar macht: wie wichtig ihre Arbeitsleistung für die Wirtschaften Europas ist.

»Frankreich wäre nichts ohne uns«, rief eine marokkanische Rednerin rund 2 500 Teilnehmern einer Kundgebung vor dem Pariser Rathaus zu. Am selben Tag demonstrierten in Neapel etwa 24 000 Menschen meist afrikanischer Herkunft unter dem Motto »24 ore senza di noi« (»24 Stunden ohne uns«), in Bologna waren es 10 000, in Mailand rund 2 000, über 50 Betriebe wurden in Brescia bestreikt. Geplant war ein gemeinsamer Tag, an dem die Migrantinnen und Migranten Italiens und Frankreichs ihre Lohnarbeit liegen lassen sollten, um auf das Missverhältnis zwischen dem Beitrag hinzuweisen, den sie zur Wirtschaft der Länder leisten, in denen sie leben – und der Art und Weise, wie diese sie behandeln.
Auf den vor allem in Italien befolgten Streiktag reagierte die italienische Tageszeitung La Repubblica mit verhaltenem Verständnis. Sie schrieb, dass eine »demokratische Gesellschaft nicht auf einer Kraftprobe zwischen Einheimischen und Zuwanderern basieren« könne, und äußerte die Hoffnung, dass die »farbige Minderheit von den Behörden in Zukunft ernst genommen« werden möge. Eine naive Aussage angesichts der Verhältnisse, unter denen Migrantinnen und Migranten in Frankreich, Italien oder anderen Ländern Europas ausgebeutet werden. Kaum Illusionen macht sich dagegen die »Koordination für den Streik der migrantischen Arbeit«. »Die ökonomische Bedeutung der migrantischen Arbeit ist fundamental«, hatte sie in ihrem Aufruf geschrieben. Doch Migrantinnen und Migranten würden entweder »ausgebeutet« oder »ausgewiesen«, und dies sei »überall in Europa ähnlich«.
Anknüpfen wollten die Organisatoren des Migrantenstreiks an die »historische Erfahrung« des »Tags ohne Migranten« in den USA. Am 1. Mai 2006 hatten dort Millionen Migrantinnen und Migranten die Arbeit niedergelegt, um gegen eine Verschärfung der Einwanderungsgesetze zu protestieren. Allein in Los Angeles und Chicago demonstrierten 700 000 Hispanics dagegen, dass die Republikaner Papierlose als Straftäter einstufen wollten. Viele von Einwanderern betriebene Restaurants und Geschäfte blieben an diesem Tag geschlossen. Ob in den USA oder in Europa, die Konfliktlinie ist dieselbe: Die westlichen Gesellschaften lösen den Widerspruch zwischen ihrem Bedarf an billigen, weil weitgehend rechtlosen Arbeitskräften und der Abschottung ihres Sozialstaats auf Kosten der migrantischen Arbeiter, die als Putzfrauen, Pflegekräfte, Bau- oder Feldarbeiter gebraucht werden, eine Perspektive auf soziale Rechte behält man ihnen aber vor.

Dabei hat zumindest die EU-Administration den Bedarf an migrantischen Arbeitskräften offiziell eingestanden. Im Jahr 2000 skizzierte die EU-Kommission erstmals die Grundlagen einer europäischen Migrationspolitik. »Wir müssen entscheiden, ob wir bereit sind zu akzeptieren, dass die Einwanderung nicht aufzuhalten ist«, schrieben die Kommissare. Die »Politiken der Nullzuwanderung, die das Denken in den letzten 30 Jahren dominierten«, würden nicht mehr in den »neuen wirtschaftlichen und demografischen Kontext passen«. Vielmehr sei es »zweckmäßig«, Arbeitsmigranten in die EU zu lassen.
Damit war die EU-Kommission weiter als viele Mitgliedsstaaten. In Deutschland etwa konnte sich die rot-grüne Bundesregierung nicht mehr als die »Computer-Inder«-Initiative abringen, die grandios floppte, weil schlicht keine gut ausgebildeten Inder in Deutschland arbeiten wollten. Und für die CDU war die Sache sowieso klar: »Für Arbeitsmigration nach Europa und Deutschland gibt es keinen Bedarf«, befand ihr Migrationspolitiker Hartmut Koschyk. Für Arbeitsmigranten dürfe es innerhalb des Schengen-Raumes »keinerlei Freizügigkeit geben«.
In Südeuropa sah es anders aus. In Spanien beispielsweise ist der riesige Agrarsektor, vor allem in Andalusien, auf die Arbeitskraft der Papierlosen angewiesen. Lange war das Land eine nur mäßig abgeschottete Südflanke der EU. Schätzungen zufolge leben rund zwei Millionen Papierlose in Spanien. Dank des steten Zustroms der »Ir­regu­­lären« ist zwar spanisches Gemüse billig, doch dem Staat entgingen Steuern und Sozialabgaben, und es drohten ordnungspolitische Schwierigkeiten. Immer wieder gab es dort deshalb sogenannte Legalisierungskampagnen. Zuletzt gewährte die Regierung José Luis Rodríguez Zapateros 2005 einer halben Million Papierlosen eine Aufenthaltserlaubnis: Wer ein Jahr in Spanien gelebt hatte und einen Arbeitsvertrag über mindestens sechs Monate nachweisen konnte, bekam Papiere. Auch in Italien, Griechenland und Portugal gab es solche Amnestien.
Der damalige deutsche Innenminister Otto Schily (SPD) warf Spanien darauf hin vor, »Illegale zusätzlich anzulocken«, die dann in andere EU-Staaten weiterreisen könnten. Der Migrationsdruck auf Europa werde »so dramatisch zunehmen, dass uns Hören und Sehen vergeht«. Die Legalisierung sei, so behauptete Schily, mithin die Ursache dafür, dass immer mehr Afrikaner bei ihrem Versuch, Europa zu erreichen, im Mittelmeer ertränken. Drei Jahre später übernahm die EU Schilys Position. Mit den offiziellen Aufenthalts-Amnestien war damit Schluss. Während der französischen EU-Ratspräsidentschaft verabschiedeten die Regierungschefs 2008 den »Europäischen Pakt für Zuwanderung und Asyl«. Damit »ergreift Europa nun endlich die Initiative«, schrieb Brice Hortefeux, damals französischer Minister für Einwanderung und Integration. »In Bezug auf die Einwanderungspolitik wird nichts mehr so sein wie bisher.« Seitdem müssen von einem Mitgliedsstaat beschlossene Rückführungsmaßnahmen von allen anderen EU-Staaten anerkannt werden. Umgekehrt sind aber Legalisierungsinitiativen einzelner Mitglieder seither untersagt.

Stattdessen wird eine sogenannte globale Mobilitätspartnerschaft mit den »Herkunfts- und Transitländern« angestrebt, um auch diese in die Bekämpfung illegaler Einwanderung zu integrieren. Unter dem Stichwort »zirkuläre Migration« will die EU im Gegenzug Personen aus diesen Ländern die legale Einwanderung ermöglichen, teils sogar durch aktive Anwerbung. Österreich etwa ließ auf dieser Grundlage 2008 rund 2 500 »Schlüsselkräfte« ins Land, zudem 8 000 Saisonarbeiter und 7 500 Erntehelfer. Doch im Gegensatz zur deutschen »Gastarbeiter«-Anwerbung der sechziger Jahre soll diesmal sichergestellt sein, dass die Arbeitsmigranten die EU auch ganz bestimmt wieder verlassen. So sollen Entwicklungshilfe, Freihandelsverträge und Rücknahmeabkommen aneinander gekoppelt werden. Nur die Länder, die ihre »Überflüssigen« aus Europa zurücknehmen und ihre Märkte öffnen, erhalten im Rahmen der »globalen Mobilitätspartnerschaft« verstärkte Entwicklungshilfe. Mit einigen afrikanischen Ländern wurden bereits Abkommen geschlossen, im malischen Bamako eröffnete das erste EU-»Jobcenter«. Intern geht die EU davon aus, dass bis 2050 über 40 Millionen migrantische Arbeitskräfte benötigt werden könnten, um die Alterung ihrer Bevölkerung und den Fachkräftemangel zu kompensieren.
Darauf nahmen auch die Organisatoren des Migrantenstreiks in Italien Bezug. Die EU wolle »nach ihrem Gutdünken Migrantinnen und Mi­granten zwischen den Ländern hin- und herschieben«. Der EU gehe es um »Migration nach ihren Produktionsbedürfnissen«. Auf diese Form von »Rassismus und Prekarität«, so forderten die Initiatoren der »24 Stunden ohne uns«, müsse die »richtige politische Antwort« gefunden werden. Doch faktisch ist eine EU-weit koordinierte Einwanderungspolitik für Arbeitsmigranten noch kaum in Sicht. Zu unterschiedlich sind die na­tionalen Interessen. Zudem ist offen, was geschieht, wenn die Freizügigkeitsbeschränkung für Angehörige der neuen EU-Mitglieder Rumänien und Bulgarien ausläuft. Einstweilen stellt sich deshalb vielmehr die Frage, wie diejenigen ihre Rechte durchsetzen können, die bereits hier sind. Schon lange vor dem Streik begannen an vielen Orten migrantische Arbeiter bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu fordern. Papierlose nahmen dabei eine besondere Rolle ein. Sie sind von Ausbeutung und Lohnbetrug besonders häufig betroffen und haben kaum Möglichkeiten, dagegen vorzugehen. Gewerkschaftlich organisieren können sie sich bislang nur in den wenigsten Fällen.

In Frankreich etwa kam es 2002 zu einem Streik papierloser Reinigungskräfte der Hotelkette Accor, die meist weiblichen Beschäftigten wollten sich die Akkord-Hetze ihres Arbeitgebers nicht länger bieten lassen. Die links-alternative Basisgewerkschaft Sud erklärte sich schließlich mit ihnen solidarisch und zahlte ihnen Streikgeld. Auch in Andalusien streitet seit einigen Jahren die Gewerkschaft SOC-SAT für papierlose Plantagenarbeiterinnen und -arbeiter.
Doch noch sind dies Ausnahmen. In Deutschland betrachteten die Gewerkschaften die meist zu Dumpinglöhnen beschäftigten »Illegalen« vor allem als Gefahr für ihre Tarifstandards. Am drastischsten zeigte sich dies, als die IG Bau 2004 eine gebührenfreie »Schwarzarbeit-Hotline« einrichtete, bei der Anrufer anonym Hinweise auf undokumentierte Bauarbeiter geben konnten. Dass verschiedene Initiativen Druck auf die Gewerkschaften ausübten, damit sich diese endlich auch den in Deutschland am brutalsten ausgebeuteten Arbeitskräften annehmen, anstatt diese bei der Polizei zu denunzieren, zeigt mittlerweile erste Erfolge. Doch davon, sich mit Nachdruck dafür einzusetzen, dass migrantische Arbeitskräfte die selben Lebens- und Arbeitsbedingungen wie die einheimischen Arbeitskräfte bekommen, sind viele DGB-Gewerkschaften noch weit entfernt.