»Precious« und der Diskurs um den »richtigen« Körper

Über Gewicht

Die Diskriminierung von Dicken ist nicht nur die Folge eines absurden Gesundheitswahns, sie ist Teil eines allgemeinen gesellschaftlichen Normalitätsdrucks. Auch ­darauf verweist der Film »Precious«, der am 25. März in die deutschen Kinos kommt. Die Debatte um den korrekten Körper ist eine Debatte um alles.

Am 13. Februar sah sich die amerikanische Flug­linie Southwestair einem Skandal ausgesetzt: Das Flugpersonal hatte den Filmemacher Kevin Smith (»Clerks«, »Chasing Amy«) des Flugzeugs verwiesen. Die Maschine sei zu voll und er zu dick, so die Argumentation. Der bekannte Regisseur schnappte sich sein Smartphone und twitterte selbst­ironisch über den Vorfall: »Dear Southwestair – I know I’m fat, but was Captain Laysath really justified in throwing me off a flight for which I was already seated?« Was Smith offensichtlich mit Humor nehmen konnte, ist Teil eines Diskurses, den man nicht nur in Kneipengesprächen, sondern auch in den politischen und kulturellen Debatten wiederfindet.
So outete sich die Daily-Mail-Autorin Amanda Platell im August 2009 als Fattist, als Fettenhasserin, das Pendant zum Rassisten oder Sexisten. Sie schrieb: »Ich finde korpulente Menschen in fast jeder Hinsicht unansprechend. Sie sind (…) unattraktiv, sie leben ungesunde Leben und nehme zu viel Platz in öffentlichen Verkehrsmitteln ein, und sie sind (vor allem) eine Belastung (…) für das Gesundheitssystem.« Dies ist jedoch keine Einzelmeinung, sondern nimmt in seiner ganzen Dimension sehr viel Raum in der Gesellschaft ein, durchzieht sie immer mehr.
Am einen Ende der Skala stehen Beleidigungen, körperliche Angriffe oder berufliche Diskriminierung, am anderen Ende eine politische Strategie – der sogenannte Gesundheits- und Ernährungsdiskurs –, die Dicksein zur »Volkskrankheit« (Renate Künast) stilisiert.

Seit vor etwa zwei Jahren auch noch das Gewicht magerer Models abgehandelt und Beth Ditto, die Sängerin der Band Gossip, aus der Indiewelt in die Pop-Omnipräsenz geschleudert wurde, wird mit einer noch nie dagewesenen Intensität über den korrekten Körperumfang diskutiert. Auf Pro Sieben wehren sich Heidi Klums »Germany’s Next Top Model«-Kandidatinnen gegen den Vorwurf, dass sie zu wenig essen würden, gleichzeitig hebt das internationale Modemagazin Love Beth Ditto auf ihr allererstes Cover, kurz danach zieht das V Magazine mit einer Oversize Issue nach.
In den Vereinigten Staaten organisieren sich längst übergewichtige Amerikaner in Bürgerrechtsgruppen, um gegen Michelle Obamas »Gesundheitsplan« für eine fittere, schlankere und länger lebende Bevölkerung zu kämpfen. Die Sprecher dieser Fat Rights Groups fordern ein Gesetz, das Übergewichtige vor Diskriminierungen schützt. Die Gegner erwidern, dass man sein Geschlecht, seine Hautfarbe, eine körperliche Beeinträchtigung nicht ändern könne, sein Gewicht aber schon, das Gesetz also dementsprechend überflüssig sei. Dem widerspricht die Schauspielerin Gabourey »Gabby« Sidibe. Mit sechs Jahren habe sie ihre erste Diät gemacht, seitdem alle ohne Erfolg, erklärt sie in Interviews zu ihrem Film »Precious«. Mittlerweile akzeptiere sie sich, lediglich für die anderen sei ihr Gewicht ständig ein Thema.
Im Film spielt sie die übergewichtige Precious, deren Leben im Harlem der achtziger Jahre zwischen den Misshandlungen durch die Mutter Mary und dem Absitzen der Schulstunden pendelt, bei denen niemandem aufzufallen scheint, dass sie weder lesen noch schreiben kann. Man sieht Precious selten lächeln, manchmal, wenn sie in ihre Tagträume flüchtet, und einmal, als sie in einem Diner einen Eimer Chicken Wings stiehlt. Ihr Leben ändert sich, als sie von der Schule verwiesen wird, weil sie zum zweiten Mal schwanger ist – wieder von ihrem Vater. Gegen den Willen der Mutter geht sie daraufhin auf eine alternative Schule. Hier kümmert sich die Lehrerin Ms. Rain (Paula Patton) um sie und ein paar Mädchen, die in ähnlichen Situationen sind.
Das mag nach einer erneuten Auflage des Ghettokitsch-Films »Dangerous Minds« klingen, aber auch wenn es im Film klebrige Momente gibt, stimmt das nicht. »Precious« wurde nach der Romanvorlage »Push« der New Yorker Schriftstellerin Sapphire gedreht, und weder ihr noch dem Regisseur Lee Daniels ging es darum, ein aufmunterndes Wohlfühldrama nach regulären Hollywood-Maßstäben zu drehen.
Daniels berichtet von den Problemen, die er hatte, Mutter und Tochter richtig zu besetzen, weil sich in den Karteien der Schauspielagenturen keine geeigneten Kandidatinnen fanden. Schwarze übergewichtige Schauspielerinnen schien es dort nicht zu geben. Für die Rolle der Mary fand er die Comedienne Mo’Nique, die dafür sogar einen Oscar gewann. In ihrer erfolgreichen Reality-TV-Show »Mo’Niques Fat Chance« nimmt sie den Schönheits- und Schlankheitswahn der »Top Model«-Formate auf die Schippe und bietet außerdem ein alternatives Schönheitsideal an, eines, in dem sie sich selber wiederfindet.
Durch ein offenes Casting fand Daniels für die Rolle der Precious die Laienschauspielerin und Studentin Gabby Sidibe, die genau wie Mo’Nique sehr genau weiß, was sie da tut: »Wir sind fette Mädchen und wir haben früher oft geweint. Wir wurden Fat Ass, Fat Pigs, Fat Bitch, Piggy und Porky genannt. Also waren manche der im Film vergossenen Tränen sehr real.«

Doch Sidibe wehrt sich vehement gegen die scheinbar offensichtliche Interpretation, denn über »Precious« wird in Amerika heftig diskutiert: »Wenn du Precious anschaust und bloß jemanden siehst, der übergewichtig und dunkelhäutig ist, dann hast du es nicht verstanden. So als ob du mich anschaust und nur jemanden siehst, der übergewichtig und dunkelhäutig ist. Dann siehst du mich nicht«, sagte sie auf einer Podiumsdiskussion der New York Times Anfang des Jahres.
Damit hat sie einerseits sicherlich recht. Das Lehrstück aus »Precious« ist universell und nicht an spezifische Diskriminierungen oder Misshandlungen gekoppelt. Der Film schreit einem ins Gesicht, wie wichtig Selbstwertgefühl ist. Und er zeigt einem auch, dass die Welt dann zwar nicht weniger widrig wird, aber es sich mit diesem Schutzpanzer gleich viel besser leben lässt. Auf der anderen Seite ist der Film mit seiner Thematik für eine Repräsentationsdebatte geradezu wie gemacht und auch so angelegt. Sapphire erklärt dazu: »Diese Leute sind nicht unsichtbar. Wir hören jeden Tag von ihnen. Aber sie werden missverstanden, und ich wollte zeigen, was hinter den Statistiken liegt.«

Der Film wird hinsichtlich seiner Gender- und Race-Dimension diskutiert, aber auch in die Oversize- und Fattism-Debatte scheint er sich perfekt einzufügen, denn es ist natürlich ein Politikum, wenn der Film eine Schauspielerin auf die Leinwand bringt, die tatsächlich so aussieht, wie es die Rolle erfordert. Das weiß auch Lee Daniels, der »Monster’s Ball« produzierte, den Film, der Halle Berry als erster Afroamerikanerin zu einem Oscar verhalf, dessen vermeintliche Authentizität aber gerade dadurch erreicht wurde, dass die Schauspielerin »hässlich« gestylt wurde.
Die Kulturindustrie und insbesondere Hollywood sind schließlich keine ideologiefreien Zonen. Immer noch werden Rollen relativ selten mit älteren, übergewichtigen oder nicht-weißen Frauen besetzt. Das Young Hollywood, wie es gerade erst wieder im jährlichen Annie-Leibovitz-Shooting der amerikanischen Vanity Fair präsentiert wurde, ist sehr schlank und fast immer blond. Aus dieser Perspektive ist es begrüßenswert, wenn dieser nicht nur unrealistischen, sondern vor allem langweiligen Norm etwas entgegengesetzt wird.
Schade ist nur, dass die Diskussion meist zwischen den Polen hässlich und hübsch, dick und dünn geführt wird, dass es viel zu oft um »die richtige Weiblichkeit« geht und man mit den Zeigefingern aufeinander zeigt. Die einen schreien: Ihr seid zu dünn, wenn ihr nichts esst, werden alle Kinder magersüchtig. Und die anderen rufen: Ihr seid zu dick, ihr werdet krank, und dann müssen wir für euch zahlen. Natürlich geht es hier um den Kampf um Normalität, auf den der Begriff »Über-Gewicht« verweist, aber dieser Kampf weicht nach und nach einem anderen Prozess: Das Gefühl, nie dünn genug sein zu können, wird überschattet vom Gefühl, insgesamt niemals genug sein zu können. Nicht gesund, nicht dünn, nicht klug, nicht fleißig, nicht sportlich, überhaupt niemals diszipliniert genug. Wir leben in einer Welt, in der Beth Ditto und Heidi Klum nicht gegensätzliche Pole, sondern Teile des gleichen Problems sind und in der ein Bewusstsein, dass Übergewicht zu Krankheiten führt, noch fester in den Köpfen sitzt als die Überzeugung, dass Rauchen automatisch zu Krebs führe.

Dieses Problem spricht auch die britische Journalistin Natasha Walters in »Living Dolls. The Return of Sexism« an. Dort nimmt sie Thesen ihres vorigen Buchs »The New Feminism« teilweise wieder zurück. Hatte sie 1998 noch argumentiert, dass Feministinnen nicht länger die sexuelle Verobjektivierung von Frauen fürchten müssen und stattdessen ihre politische Emphase auf wirtschaftliche und berufliche Gleichheit legen sollten, sieht sie sich nun mit dem umgekehrten Prozess konfrontiert: Was ehemals als Freiheit erkämpft worden sei, sei nun der Zwang, der sich bloß als Wahlfreiheit verkleide, erklärt sie. »In unserer Kultur wird jungen Frauen permanent suggeriert, dass ihr Weg zur Selbstverwirklichung zwangsläufig mit dem perfekten Körper einhergeht. Das meiste, womit junge Frauen sich heute kulturell beschäftigen, dreht sich um den Gedanken des Makeover. Das Gebot ist, sich ständig selber zu verbessern, aber nicht, indem man intellektuell oder emotional wächst, sondern durch eine körperliche Neugestaltung.«
Wenn Precious am Ende des Films mit ihren beiden Kindern an der Hand in die Welt geht, ist sie gestärkt, weil sie lesen und schreiben kann, mehr Selbstbewusstsein und Freunde gefunden hat. Und nicht etwa, weil sie abgenommen hätte.