Über den Fall Amerell

Amt und Ehre

Ein Versuch, die Amerell-Affäre im Deutschen Fußballbund auch als politischen Machtkampf zu deuten.

Es geht um Personen, vordergründig: Der frühere Schiedsrichter und Funktionär Manfred Amerell wird beschuldigt, seinen jüngeren Kollegen Michael Kempter sexuell belästigt zu haben. Die Anschuldigung aufgegriffen und in die Öffentlichkeit getragen hat Theo Zwanziger, Präsident des Deutschen Fußballbundes (DFB). Nun wehrt sich Amerell juristisch sowohl gegen Zwanziger als auch gegen Kempter, sowie gegen weitere Schiedsrichter.
Bei einem ersten, Mitte März organisierten Versuch, Schaden vom DFB und dem von ihm organisierten Fußball in Deutschland abzuwenden, einigte sich der mit 47 Mitgliedern bemerkenswert große Vorstand des DFB darauf, Reformforderungen der Deutschen Fußball-Liga (DFL) hinsichtlich des Schiedsrichterwesens zu akzeptieren. Das mutet wie ein Nebenschauplatz an oder bestenfalls als der clevere Versuch einer Lobbygruppe, die Krise ihres Gegenübers für ihre Zwecke zu nutzen. Es gibt aber gute Gründe für die Vermutung, dass hier eine wichtige Erklärung für die Schwierigkeiten liegt, die der DFB mit der Affäre Amerell hat.
Die DFL ist der Zusammenschluss der Profi­vereine, die Bundesligen werden von ihr organisiert – die DFL ist beinah ein Gegenmodell zum DFB: Setzt der DFB auf Ehrenamt und den Fußball, der irgendwo zwischen Staat und Markt angesiedelt ist, verkörpert die DFL die kapitalistische Alternative. Der DFB sorgt sich um die Volksgesundheit, die DFL um ihre Gewinne.
Der einzige Einfluss, den der DFB auf die DFL hat, ist das Schiedsrichterwesen. Der DFB sei ein »Geheimorden«, schimpft Reinhard Rauball, der Chef der DFL. Ein Versuch, einen Hauptamtlichen zu installieren – den früheren Fifa-Schiedsrichter Hellmut Krug –, scheiterte vor zwei Jahren am Beharrungsvermögen der Ehrenamtler. Krug wollte mehr Transparenz in den Entscheidungen, und dafür wollte er den mächtigen Vorsitzenden des DFB-Schiedsrichterausschusses, Volker Roth, entmachten. Sein Bemühen scheiterte, Krug selbst wurde von seinem Posten entbunden, nun berät er die DFL. Und deren zentrales Anliegen ist es, die Strukturen der Schiedsrichterei kompatibel mit den Profi­ligen zu machen: schnelle und transparente Entscheidungen, auf Leistung basierende Einsätze der Schiedsrichter und keine Günstlingswirtschaft.
In der aktuellen Amerell-Affäre taucht jener Volker Roth wieder auf, den Krug vergeblich schassen wollte. Ihm wurde nämlich von Michael Kempter förmlich mitgeteilt, dass dieser sexuell belästigt würde – doch der Vorsitzende des Schiedsrichterausschusses tat vier Wochen lang gar nichts mit dieser Information. Für die DFL zeigt sich hier, dass ein unprofessioneller und männerbündischer Ehrenamtlerverein nicht fähig ist, auf Krisen wie die Amerell-Affäre zu reagieren.
In seiner Not musste Theo Zwanziger der DFL entgegenkommen. »Es kann niemals mehr sein, dass das Beobachten von Schiedsrichtern, das Ansetzen, das Führen und das Auswählen in einer Hand liegt«, erklärte der DFB-Präsident nach der Sitzung des Vorstandes, wo auch ihm das Vertrauen ausgesprochen worden war.
Die von der DFL nun durchgesetzte Änderung im Schiedsrichterwesen hat sehr viel mit der Affäre Amerell zu tun. Der hat nämlich, sofern die Vorwürfe zutreffen, sich genau die Macht sexuell zunutze gemacht, die ihm im Rahmen des Ehrenamtlersystems zukam: Amerell war für die Beobachtung, Beurteilung und Bewertung von Schiedsrichtern zuständig. Sein Urteil war maßgeblich dafür, ob jemand die – auch finanziell lukrativen – Einsätze in der Bundesliga oder höher bekam.
Niemand behauptet, dass es sexuelle Belästigung in einem Fußball, in dem die kapitalistischen Modernisierer der DFL das Sagen haben, nicht mehr geben würde. Aber die Vermutung ist, dass sie leichter in intransparenten männerbündischen Organisationen als in einer auf Effizienz achtenden geschehen kann.
So gesehen dürften die Konflikte, in die DFB-Präsident Theo Zwanziger im Gefolge der Amerell-Krise verwickelt ist, weniger mit seiner manchmal aufbrausenden, manchmal anpackenden und manchmal jähzornigen Art zu tun haben, sondern mehr mit seinen Schwierigkeiten, einen prinzipiell auf Ehrenamt beruhenden Verband wie den DFB zu führen und zu modernisieren.
Der DFB war – gerade aufgrund seines Selbstverständnisses vom unpolitischen Sport – immer politisch konservativ. Zwanzigers Vorgänger war der CDU-Rechtsaußen Gerhard Mayer-Vorfelder: Die Integration von Migranten in DFB-Auswahlmannschaften erschwerte er, und nachdem die DFB-Frauen 1989 den Europameistertitel gewonnen hatten, ließ Mayer-Vorfelder die Spielerinnen durch das offizielle Geschenk, je ein Kaffeeservice und ein Bügelbrett, wissen, wo sie seines Erachtens mehr gebraucht werden als auf dem Fußballplatz.
Vor MV prägten andere DFB-Präsidenten das vermeintlich unpolitische Image des Verbandes: Peco Bauwens etwa lobte nach dem WM-Sieg 1954 das »Führerprinzip«, das das »Wunder von Bern« erst möglich gemacht habe. Und Hermann Neuberger lud 1978 den NS-Helden Hans-Ulrich Rudel ins WM-Quartier zur Nationalmannschaft ein, damit dieser die Spieler mit seinen Kampfflieger-Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg motiviere.
Solche Figuren loszuwerden, hat lange genug gedauert, und damit das überfällige Projekt endlich gelang, bedurfte es eines Theo Zwanziger. Der ist zwar CDU-Mitglied, wie die meisten seiner Vorgänger, aber er steht doch für eine liberale Modernisierung: Seit er im Amt ist, wird sich der DFB seiner gesellschaftspolitischen Verantwortung bewusst. Zwanziger fördert den Frauenfußball, er ist aktiv in Kampagnen gegen Rassismus und Antisemitismus, und sogar dem im Fußball besonders tief sitzenden Problem der Homophobie hat er sich offensiv gestellt. Dafür erhält er Preise und erntet Respekt. Der Verein »Gegen Vergessen – Für Demokratie« und der Zentralrat der Juden in Deutschland ehrten ihn für sein Engagement. Bevor Zwanziger sein Amt übernahm, war es undenkbar, dass ein deutscher Fußballfunktionär so ausgezeichnet würde.
Dass die Modernisierung des DFB aber nicht von der DFL repräsentiert wird, diesem Verein aller, die möglichst viel Geld aus dem Fußball pressen wollen – und schon gar nicht von einer linken Verbandsopposition, die es selbstverständlich nie gab und nie geben wird –, sondern von einem liberalen CDU-Politiker, hat Gründe. Dass sie scheitern wird, auch.
Als junger rheinland-pfälzischer Landtagsabgeordneter zog Zwanziger ganz wesentlich die Strippen, um den damaligen CDU-Ministerpräsidenten Bernhard Vogel zu stürzen. Der Spiegel berichtete damals, Zwanziger habe die Parteitagsdelegierten gegen Vogel »angestachelt«. Eine Weile sollte Zwanziger Kultusminister werden, dann war er für andere Ämter im Gespräch – er taktierte sich durch die Reihen, und populistisch forderte er eine Trennung von Staat und Partei, der CDU. Später nutzte er sein Amt als Regierungspräsident von Koblenz, um sich im DFB eine Hausmacht aufzubauen. Dies waren, politisch betrachtet, die Lehrjahre des Theo Zwanziger, in denen er gelernt hat, sich auch in schwerfälligen Organisationen an die Spitze zu arbeiten. Was ihm in der CDU, die von Vogels Vorgänger Helmut Kohl dominiert wurde, nicht gelang, probierte er mit Erfolg im DFB.
Im Jahr 2004 forderte er, der früher Fußballer beim VfL Altendiez war, den amtierenden Prä­sidenten Gerhard Mayer-Vorfelder heraus. Zunächst musste Zwanziger in eine Doppelspitze mit Mayer-Vorfelder einwilligen, doch zwei Jahre später regierte er alleine den mit 6,7 Millionen Mitgliedern größten Sportfachverband der Welt. Wie wichtig ihm dieser Sieg war, demonstrierte er bald mit einer kleinen demütigenden Geste in Richtung Mayer-Vorfelder: Er strich seinem Vorgänger das bislang übliche Präsidenten-Freiabonnement des Fachmagazins Kicker.
Seit seinem Amtsantritt hat er etliche Krisen bewältigt: den Hoyzer-Wettskandal, diverse Nationalmannschaftskräche, die viel Geld bedeutende Entscheidung, ob Nike oder Adidas als Ausstatter und Sponsor auftritt, die Auswirkungen der Selbsttötung von Robert Enke und etliches mehr.
All diese Krisen bewältigte Zwanziger qua Amt, also dank seiner präsidialen Machtfülle. Eine Reform der DFB-Strukturen hingegen hat er nie in Angriff genommen. Das liegt vor allem daran, dass man sich eine Modernisierung derzeit immer nur in Richtung Kapitalisierung vorstellen kann und dass für alternative Optionen, die in Richtung Demokratisierung gehen, keine gesellschaftliche Gruppe existiert, die dies fordert. Auch Theo Zwanziger steht nicht für ein solches Projekt.
Das bleibt nicht folgenlos: Derzeit erscheint der DFB, dieser männerbündlerische Ehrenamtlerverband, dessen Anachronismus bei beinah jedem Thema, das man betrachtet, ins Auge springt, als einzige Alternative zur Durchkapitalisierung des Fußballs.