Reformpädagogik und Missbrauchsfälle

In aller Freundschaft

Der Skandal um die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule wirft ein Licht auf die Erziehungspraktiken der Reformpädagogen und ihrer alternativen Enkel.

Sollte in den vergangenen Wochen der Eindruck entstanden sein, dass es fast keinen ehemaligen Privatschüler, Kirchendiener und Chorknaben in Deutschland gibt, der nicht irgendwann sexuell missbraucht worden wäre, liegt dies nicht zuletzt am Missbrauch des Wortes Missbrauch, den die jüngst verstorbene Publizistin Katharina Rutschky schon Anfang der neunziger Jahre als Symptom eines pädagogischen Hygienewahns kritisiert hat. Die Begeisterung, mit der eine sich kritisch dünkende Öffentlichkeit die Möglichkeit nutzt, die katholische Kirche als Sammelbecken verklemmter Triebtäter zu diffamieren, lässt sich mit dem Wunsch nach »rückhaltloser Aufklärung« jedenfalls nur unzureichend erklären. Verbindendes Motiv der Missbrauchsdebatte, in der die konkreten Handlungen, die an den betroffenen Jungen begangen worden sind, eine bemerkenswert geringe Rolle spielen, scheint vielmehr ein Ressentiment gegen staatsferne Erziehungseinrichtungen zu sein. Päpste, Privatlehrer und Sektenführer sind in einem Land, das Erziehung und Glauben nicht als Privatsache, sondern nur als outgesourcte Formen der Staatsbürgertreue duldet, stets verdächtig. Wer sich den staatlichen Eingriff in die Erziehung seiner Kinder verbittet, beweist dieser Logik zufolge nicht seinen Bürgersinn, sondern sein schlechtes Gewissen, und muss etwas zu verbergen haben. Die gebotene Skepsis gegenüber der volkstümlichen Entrüstung über die jüngsten Missbrauchsfälle berechtigt aber nicht zu der Annahme, in nicht-staatlichen Schulen gehe es in Wahrheit aufgeklärter zu als in öffentlichen. Zumindest in Deutschland ist das Gegenteil der Fall.

Ein gutes Beispiel dafür ist die reformpädagogische Odenwaldschule, deren früherer Leiter Gerold Becker seit einigen Wochen im Mittelpunkt der Diskussion über sexuellen Missbrauch in Privatschulen steht. Becker, der bereits 1985 die Leitung der Schule abgegeben hatte, hat seine Tätigkeit als Schulleiter nie als institutionelle Aufgabe, sondern als Herzensanliegen begriffen. Er agierte, wie erst jetzt allmählich deutlich wird, als Teil eines sich linkslibertär verstehenden, homosozial organisierten Bundes männlicher Pädagogen, die sich den reformpädagogischen Zielsetzungen zufolge als »Freunde« ihrer Schüler sahen. Dieses Ideal der Freundschaft, in dessen Zusammenhang auch die süßliche Rede vom »pä­da­gogi­schen Eros« gehört, hat die Reformpädagogik seit ihren Wurzeln in der Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende bestimmt. Es entspringt nicht, wie oft behauptet wird, einer Kritik am blinden Autoritätsglauben, sondern einer Abneigung gegen institutionelle Hierarchien, die die Reformpädagogik im Einklang mit den faschistischen Ausläufern der Lebensphilosophie als »kalt« und »abstrakt« verwirft. An die Stelle funktioneller Hierarchien, deren fortschrittliches Moment gerade darin besteht, persönliche Abhängigkeitsverhältnisse zu lockern, tritt in reformpädagogischen Schulen die direkte Abhängigkeit der als Großfamilie begriffenen Knaben und Mädchen vom Lehrer, der als »Oberhaupt« nicht nur Sachautorität, sondern eine charismatisch gestützte Befehlsgewalt innehat. Nicht aus Einsicht in seine Fachkompetenz sollen sich die Schüler ihm fügen, sondern aufgrund emotionaler Hingabe. Der Gehorsam gegenüber dem als »Erster unter Gleichen« fungierenden Lehrer wird nicht mit dessen sozialer Rolle, sondern mit seinem »Eros« begründet und jeder Kritik entzogen.

Dass Erziehung möglichst wenig mit Vernunft zu tun haben soll, war die Überzeugung fast aller Vordenker der deutschen Reformpädagogik. Nur Außenseiter wie der Kommunist und Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld, ein Freund Walter Benjamins, unternahmen den Versuch, kindliche Phantasie und erwachsene Vernunft als vereinbar zu denken. Der Mehrheit der Reformpädagogen, unter denen sich Antisemiten wie Hermann Lietz und Benjamins früherer Mentor Gustav Wyneken finden, galten vernunftbegründete Erziehung und polytechnischer Unterricht ebenso wie alle Formen institutioneller Vermittlung als »lebensfeindlich« und »mechanistisch«. Daraus, und nicht aus einer differenzierten Staatskritik, erklärt sich ihre Verachtung staatlicher Erziehungsagenturen, die unter Verdacht standen, die Zöglinge ihrer »Herkunft« und »Naivität« zu entfremden. Lietz, Erfinder der in der NS-Zeit populären »Landeserziehungsheime«, war ein Verehrer des französischen Faschisten Paul de Lagarde, hetzte gegen zivilisatorische »Unsitten« wie Alkohol- und Nikotinkonsum und hoffte, die Jugendlichen in Land­internaten an ihre »völkischen« Wurzeln zu erinnern. Wyneken, der vom linken Flügel der Lebensreformbewegung herkam, ging zwar zum Faschismus auf Distanz, betrachtete die Juden aber ebenso wie die Großstädter und das staatliche Schulsystem als Agenten einer »unorganischen« Vernunft. Statt »Gedankenarbeit« empfahl er Wandern und Nacktbaden als Förderung einer vitalen »Jugendkultur«.

Auch Paul Geheeb, Gründer und langjähriger Leiter der Odenwaldschule, der während der NS-Zeit in die Schweiz emigrierte und oft dafür gelobt wird, die Schule vom Geist des Faschismus reingehalten zu haben, wollte die Jugendlichen »zu tapferen Kämpferscharen« erziehen, die sich »nicht feige in die Welt hineinfügen«, sondern »gegen den Strom der Mode und Konvention« stellen sollten, und berief sich zu diesem Zweck ebenso auf den »sozialistischen Führer« August Bebel wie auf die »Reden an die deutsche Nation« des völkischen Antisemiten Johann Gottlieb Fichte. Bis heute hat die Reformpädagogik keinen ernsthaften Versuch unternommen, sich mit ihren völkischen Ursprüngen auseinanderzusetzen. Im Gegenteil berufen sich Erziehungstheoretiker wie Hartmut von Hentig, Vordenker der modernen Reformpädagogik und Lebensgefährte Gerold Beckers, noch immer ungebrochen auf Ideale wie »Gemeinschaft« und »Ganzheitlichkeit«, um gegen die »instrumentelle« Erziehung zu agitieren, als deren Agentur ihnen das öffentliche Schulwesen erscheint. Dass die Reformpä­da­gogik früh für Koedukation gekämpft hat und weniger körperfeindlich als die meisten staatlichen Erziehungseinrichtungen gewesen ist, hat seinen Grund denn auch weniger in einer aufgeklärteren Geschlechtermoral als in ihrer Verachtung zivilisatorischer Techniken, deren Abwertung gleichsam als Nebenprodukt bestimmte »unbürgerliche« Formen des Alltagslebens und der Sexualität pädagogisch emanzipiert hat.
Der Preis dieser »Befreiung« war indessen die Vernichtung jener kindlichen Intimität, die das Bürgertum mit der Erfindung des Kinderzimmers, das nie nur Gefängnis, sondern immer auch Rückzugsraum war, hervorgebracht hat. Die Reformpädagogik dagegen kennt für den Einzelnen keinerlei Rückzugsmöglichkeit: Wo mit der institutionellen Hierarchie auch jede Erinnerung an das fortbestehende Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern getilgt ist und Lehrer und Schüler allesamt »Freunde« sind, werden die Gesten der Herrschaft und die Gesten der Zuneigung ununterscheidbar. Nicht Sadismus und böser Wille, sondern die Gutwilligkeit des reformpädagogischen Erziehungsmodells eröffnet dem unerhellten Trieb, dessen aggressive Impulse der lebensreformerische Nacktheitskult leugnet, ungeahnte Möglichkeiten. Wo sie genutzt werden, kommt die sich gegen »Staat« und »Zivilisation« empörende »Lerngemeinschaft« zu sich selbst.