Über die sozialdemokratische Neuerfindung

Das Ziel ist nichts

Die SPD versucht sich an einer Neuorientirung. Ihre jüngere Vergangenheit, von der sie sich lösen möchte, steht ihr dabei im Wege.

Wenn Mao Zedong und Walter Ulbricht das noch hätten erleben können: Eine verdiente FDJ-Sekretärin richtet eine große Geburtstagssause für den Zögling einer maostalinistischen Sekte aus. Der IG-Metallvorsitzende Berthold Huber, bis 1979 im Kommunistischen Arbeiterbund Deutschlands (KABD), einer Vorläuferorganisation der MLPD, feierte am Mittwoch voriger Woche auf Einladung Angela Merkels seinen 60. Geburtstag im Bundeskanzleramt. Die deutsche Arbeiterbewegung hat es wirklich weit gebracht. Und das Beste: Sie bringt es noch weiter, auch ohne SPD.
Zwar ist Huber seit fast 20 Jahren SPD-Mitglied, trotzdem ist seine Geburtstagsfeier keine schwarz-rote Koalitionsparty. Es ist vor allem Angela Merkel, die sich hier als Kanzlerin aller Deutschen selbst feiert, und es ist ein Arbeiterführer, dessen ultramoderate Tarifpolitik angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise mit gesellschaftlicher Anerkennung auf höchster Ebene belohnt wird. Für diese sozialpartnerschaftlichen Rituale, so die unterschwellige, aber deutliche Botschaft der Party, braucht man die SPD nicht mehr. Aber was heißt »brauchen«, als Sozialdemokrat wäre man schon froh, in diesen Wochen überhaupt wahrgenommen zu werden.

Zu den aktuellen politischen Ereignissen liefert die SPD allenfalls die Hintergrundmusik. Das Hickhack um das Comeback und den Rücktritt Oskar Lafontaines und die Zerwürfnisse innerhalb der Linkspartei; Westerwelles Flegel-Allüren und der schlechte Start von Schwarz-Gelb; das Bemühen der Grünen um eine schwarz-grüne Koalition in Nordrhein-Westfalen; die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, Hartz IV verfassungskonform zu überarbeiten – profitieren können die Sozialdemokraten von all dem nicht. Starke Indizien dafür, dass die SPD nicht mehr gebraucht wird. Ihr Jahrhundertwerk, die ebenso kleinteilige wie erfolgreiche Betreuung der Arbeiter und kleinen Angestellten zum Erhalt von Staat, Kapital, Nation und Demokratie, kann – arbeitsteilig, versteht sich – von der CDU und der Linkspartei fortgesetzt werden.
Die SPD weiß nicht, wohin mit sich. Unter führenden Sozialdemokraten ist es noch lange nicht ausgemacht, ob man in den kommenden Jahren alles auf Rot-Rot-Grün setzen soll oder ob die Ausgrenzung der Linkspartei nicht doch eine lohnenswerte Anstrengung darstellen könnte. Auch sozialpolitisch wird bei den Genossen viel herumgestochert. Erst vor zwei Wochen hatte Hannelore Kraft, die SPD-Spitzenkandidatin für die bevorstehenden Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, versucht, Guido Westerwelle nachzueifern. Genau die Politikerin, die dem Vizekanzler kurz zuvor noch unterstellt hatte, mit seiner Rede von »spätrömischer Dekadenz« und »Leistungsgerechtigkeit« Rechtspopulismus zu betreiben, schlug nun vor, Empfänger von Arbeitslosengeld für gemeinnützige Arbeiten in Altersheimen oder Sportvereinen heranzuziehen. Andererseits präsentiert das SPD-Präsidium mittlerweile ein arbeitsmarktpolitisches Konzept, das zum Teil einen Bruch mit Gerhard Schröders »Agenda 2010« und der Hartz-Gesetzgebung darstellen soll.
Ginge es nach der SPD, soll das Arbeitslosengeld I 24 Monate gezahlt werden, wenn der Bezieher sich in diesem Zeitraum beruflich weiterqualifiziert. Beim Übergang von ALG I zu ALG II soll der bisherige Übergangszuschlag von 160 Euro deutlich länger als bisher ausgezahlt werden. ALG-II-Bezieher bräuchten zukünftig keine Vermögensprüfung mehr über sich ergehen lassen. Außerdem möchte die SPD für einen öffentlich geförderten »sozialen Arbeitsmarkt« sorgen, der die Ein-Euro-Jobs überflüssig machen würde. Um 200 000 neue Arbeitsplätze könnte die Erwerbslosenstatistik entlastet werden. Hartz IV wird also im Kern nicht angetastet, kein Druckmittel der Arbeitsagentur wird zurückgenommen, die Rente mit 67 steht auch nicht zur Disposition. Stattdessen würde der Übergang von ALG I zu ALG II fließender gestaltet, würden die Ein-Euro-Jobs, die bereits hauptsächlich im gemeinnützigen Bereich geleistet werden, umgetauft.

Für eine Neuerfindung sozialdemokratischer Politik reicht eine Abmilderung der Hartz-Gesetze nicht aus – womöglich langt es noch nicht mal dafür, Hannelore Kraft und ihrem Landesverband ein Wahlergebnis deutlich über 30 Prozent zu verschaffen. Was aber wäre eine sozialdemokratische Neuerfindung? »Neuerfunden« hat sich die SPD seit dem Regierungsantritt Gerhard Schröders im Jahr 1998 permanent. Gebracht hat es ihr nichts, und ihrem einstigen Klientel erst recht nicht. Die letzte »Neuerfindung« müsste die Wende zurück sein, die Restauration der seit 1998 aufgegebenen Sozial- und Wirtschaftspolitik. Das Problem dabei ist: Diese Wende wurde schon woanders vollzogen. Es ist die Linkspartei, die heute die sozialdemokratischen Werte der Nachkriegsjahrzehnte vertritt. Darüber kann auch der von einigen Landesverbänden und trotzkistoiden Funktionären zur Schau gestellte Verbalradikalismus nicht hinwegtäuschen. Organisatorisch sind sich beide Parteien – bislang noch – spinnefeind, gesellschaftlich gesehen aber ist die Linkspartei ein Teil der Sozialdemokratie. Die Schmähreden, mit denen die SPD seit fünf Jahren die Linkspartei überzieht, um sie als »realitätsuntüchtig« zu stigmatisieren, kommen einem Unvereinbarkeitsbeschluss sich selbst gegenüber gleich. In der Linkspartei bekämpft die SPD ihre eigene Vergangenheit, oder um es mit Carl Schmitt zu sagen: »Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt.«
Nun kennt die profane politische Realität jedoch ihre eigenen Gesetze, und so ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch in Westdeutschland die ersten rot-roten Koalitionspläne geschmiedet werden. Die SPD hat sich vorsichtig von Hartz IV distanziert, und die Linkspartei dürfte auf rhetorische Kraftmeierei verzichten. Ein paar Gestalten der Vergangenheit haben bereits die Bühne verlassen, so zum Beispiel Franz Müntefering und Peer Steinbrück, oder treten gerade ab, wie etwa Lafontaine. Einer sozialdemokratischen Wiedervereinigung, zumindest auf Koalitionsebene, steht immer weniger im Weg. Trotzdem wird es kaum zu einer sozialdemokratischen Renaissance reichen. Denn einer solchen Wiedervereinigung ging ja die Spaltung voraus. Und diese war nicht nur eine Marotte rachsüchtiger Politiker, wie Lafontaine häufig dargestellt wird, noch war sie das Resultat einer innenpolitischen Laune, die man, wie die Agenda 2010, nach einiger Zeit wieder ablegen könnte. Um die Crux der Sozialdemokratie zu verstehen, muss man einen Schritt zurück in die Vergangenheit machen.

Ideologie wie Strategie der SPD in der Nachkriegszeit, insbesondere seit dem Reformparteitag von Bad Godesberg im Jahr 1959, waren von einem schier überwältigenden Einverständnis mit dem Bestehenden gekennzeichnet: ja zur Westbindung und zur Nato, ja zum Grundgesetz, ja zur Marktwirtschaft. Diese Affirmation verknüpften die Sozialdemokraten mit einem negativen Urteil über die herrschende Realität: Die Konservativen wie die Liberalen kämen den sozialen wie demokratischen Versprechen des Grundgesetzes nicht nach, die schöne Marktwirtschaft werde durch Industriemonopole und die großen Banken ruiniert, das Potential der Nato als Friedensbündnis nicht ausgeschöpft. Bekanntlich gab es in den sechziger und siebziger Jahren an den Rändern der Sozialdemokratie einen sich als radikal verstehenden Diskurs, der steif und fest den sozialistischen Gehalt des Grundgesetzes behauptete. Indem die SPD sich positiv auf die Verfassung bezog, konnte sie die politischen Konkurrenten als weniger demokratisch, weniger sozial, weniger pazifistisch bekämpfen. Oskar Lafontaine bedient sich bis heute dieser Rhetorik. Vermutlich glaubt er auch an sie.
Die Betonung der ungeahnten Potentiale von Staat und Demokratie läuft nur dann nicht leer, wenn binnen kurzer Zeit reale Politik daraus wird. Willy Brandts Parole »Mehr Demokratie wagen« zehn Jahre nach dem Godesberger Parteitag war da nur konsequent. Die Schäden, die die Sozialdemokratie bereits unter Brandt und Helmut Schmidt erlitt, durch Radikalenerlass, Mogadischu und Nachrüstung, tangierten noch nicht ihren Kern. Sie ließen sich Kommunisten, Terroristen und den damaligen osteuropäischen Machthabern in die Schuhe schieben.
Es oblag Gerhard Schröders Mannschaft, diesen Kern zu ruinieren. Ihre Politik, die keinen utopischen, also demokratisch-idealistischen Überschuss mehr besaß, exekutierte nach 16 Jahren Helmut Kohl eiskalt die vermeintlichen Sachzwänge der Globalisierung und etwas später die des »Kriegs gegen den Terror«. Ausgegeben wurde dies auch noch als dringend benötigte »Modernisierung«. Originäre sozialdemokratische Positionen stehen seitdem unter Extremismusverdacht und können – welch bizarres Verhältnis – nur außerhalb der SPD artikuliert werden.

Die Politik der Schröder-Jahre und der Großen Koalition lässt sich nicht so einfach durch einen programmatischen Linksruck oder einen Austausch des Personals annullieren. Sich von Hartz IV abzuwenden, bedeutet für die SPD einen vollständigen Bruch mit dem ebenso autoritären wie totalitären Leitbild des Neoliberalismus. Ein solcher Bruch würde mit dem verfassungspatriotischen Pragmatismus der Sozialdemokraten kollidieren – er wäre damit schlicht unvereinbar. Der Sinn dieses verfassungspatriotischen Pragmatismus bestand darin, allen Kräften von links – Kommunisten, aufmüpfigen Gewerkschaftern, marxistischen Akademikern, Öko-Utopisten, schließlich den eigenen Jusos – einen abstrakten Maximalismus vorzuwerfen. Dieser Vorwurf träfe die Partei im Fall eines umfassenden Bruchs mit der Agenda 2010 selbst. Das würde sie wohl nicht überleben.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass der SPD eine vorübergehende Stabilisierung und das Aufhalten des eigenen Niedergangs gelingt, so dass linke Koalitionen, zumindest auf Länderebene, zustande kommen, vielleicht sogar wiedergewählt werden. Grundsätzlich lässt sich aber schon heute sagen, dass die einst so siegreiche Ideologie des Revisionismus sich erschöpft oder, besser gesagt, erfüllt hat. Diese Ideologie brachte Eduard Bernstein vor 100 Jahren auf den Punkt, als er gesagt haben soll: »Die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts.« Jetzt wissen wir, auch diese Bewegung ist an ihr Ende gekommen.