Über den Film »Das ganze Leben liegt vor dir« von Paolo Virzí

Organisierte Nutzmenschhaltung

Von der Arbeit im Callcenter erzählt die italienische Komödie »Das ganze Leben liegt vor dir« und filtert daraus die Philosophie des neuen Menschen.

In dieser Schärfe und Gleichmäßigkeit haben wir das in Europa noch nicht gesehen.« Ingo Kuhnert vom Europäischen Statistikamt Eurostat macht große Augen. Nach dem Einbruch der Finanzmärkte hat in Europa vor allem eines Konjunktur: die Jugendarbeitslosigkeit. Die steigt rasant. Zurzeit sind rund fünf Millionen Menschen unter 25 Jahren in Europa arbeitslos gemeldet. In Spanien ist jeder Zweite dieser Altersklasse ohne Job. Und das ist nur die offizielle Zahl.
Okay, es war vorher auch schon schlimm. Aber es ist ein Wirtschaftsgesetz, dass sich negative Schübe auf dem Arbeitsmarkt bei den Berufseinsteigern – oder besser: bei allen, die ohne Absicherung und doppelten Boden am Rand zur Prekarität leben – am deutlichsten äußern.
Jugend! Sie ist ohnehin der Teil der Gesellschaft, der per se prekär ist. Und delinquent, sexsüchtig und suizidal.
Ingo Kuhnert von Eurostat hätte bestimmt seine Freude an dem Film »Tutta La Vita Davanti«, Paolo Virzìs wahnsinniger italienischer Film­erzählung über die europäische Schadensökonomie, einer Komödie, die die Verhältnisse südlich der Alpen so schön abbildet. In Deutschland heißt sie »Das ganze Leben liegt vor dir«.
Italien ist beispielhaft darin, wie außer den Fernsehstationen und Affären des Ministerpräsidenten nichts funktioniert und nur die schlechten Lebens- und Arbeitsverhältnisse florieren. Locker in der Champion’s League mithaltend: die hohe Jugendarbeitslosigkeit – im Jahr 2008 lag sie bei 21,3 Prozent.
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat festgestellt, dass die Erwerbseinkommen in Italien zu den niedrigsten unter den industrialisierten Ländern gehören: Auf 19 861 Dollar beläuft sich das durchschnittliche Nettoeinkommen hier, der OECD-Schnitt liegt bei 24 660 Dollar – was freilich auch für das deutsche Prekariat mittlerweile eine erstrebenswerte und selten erreichte Summe darstellt.
Das Prekariat ist eine übergreifende, anerkannte Rechengröße. Der italienische Politologe Alex Foti sagt: »Es ist in der postindustriellen Gesellschaft das, was das Proletariat in der Industriegesellschaft war.«
Zahlen sind schwer zu filmen. »Das ganze Leben liegt vor dir« fasst dennoch eine Reihe von diesen diversen postindustriellen Bruchlinien zusammen: Berufseinstieg, extrem miese Bezahlung, schlechte Jobaussichten.
Im Zentrum des Films steht Marta (Isabella Ragonese), die zu Beginn hocherfreut ins Leben schaut: Sie ist Mitte 20, hat einen großartigen Freund, nette Freunde und einen Superabschluss mit ein paar Lorbeeren (»summa cum laude«) vor ein paar alten Professoren abgelegt. Ihr Spezialgebiet ist Martin Heidegger – und was er mit Hannah Arendt zu schaffen hatte.
Die Ausdrucksweise der meisten Protagonisten ist gewählt, die Optik der Hochschulabsolventen geht ein bisschen in Richtung Tute bianche und G8-Protestler – die Mädchen sind gerne lesbisch und haben Dreadlocks, die Jungs enge Hosen und Pornodarstellersonnenbrillen.
Schon bei der Jobsuche stellt Marta fest, dass Heideggers Hauptwerk »Sein und Zeit« eine philosophische Randnotiz darstellt, die der Autor zumindest in einigen Kapiteln stark bearbeitet hätte, wenn er »Big Brother« gekannt hätte. Dagegen scheinen die Darlegungen Hegels immerwahre Dauerzustände zu beschreiben – etwa im Kapitel »Herrschaft und Knechtschaft« seiner »Phänomenologie des Geistes«. Und so tourt die junge Sizilianerin durch die Geistesmalocher-Etagen von Rom. Beim Verlag arbeiten? Alles voll. Bei der Zeitung, wo der Studienabbrecher-Kumpel als Klatschkolumnist arbeitet? Auch keine Chance.
Ihre Mutter (Mary Cipolla) ist krank. Zu ihr, nach Palermo, zieht es Marta jetzt. Das Kind möge doch in den Schuldienst gehen, das habe sie, die Lehrerin, auch gemacht, muss sie sich von ihrer Mutter anhören. Marta ist nicht überzeugt. »Du hast dein ganzes Leben noch vor dir«, sagt ihre Mutter. Und aus dem Munde der Sterbenskranken klingt das, als sei es eindeutig besser, wenn dieses Leben schon hinter einem läge.
Zurück in Rom, ist das WG-Zimmer Martas schon weitervermietet. Und sie erlebt nun das – nächste Bruchlinie –, was unter dem Stichwort Quarterlife Crisis sein Unwesen treibt: Die Ausbildung ist zu Ende, eine Weiterbeschäftigung nicht in Sicht. Der Partner tritt eine befristete Doktorandenstelle in Kanada an, die eigene Familie ist passé.
Pleite, verlassen, marode – in dieser Situation lernt Marta Lara (Giulia Salerno) kennen. Die hat mit ihrer jungen Mutter Sonia (Micaela Ramazotti) gut zu kämpfen. Denn die ist dort, wo Marta jetzt auch landet: im Call-Center. Sonia könnte man als »bildungsfern« bezeichnen. Sie sitzt die Nachmittags-Shows ab, saugt die Klatschblätter auf, lässt sich wahllos mit Verrückten ein. Sonia zu sein, bedeutet: Man steht auch ohne Universitätsabschluss am unteren Ende der Gesellschaft. Allenfalls leichte Varianten sind möglich: Die working mom hat die Wahl zwischen Callcenter und Prostitution – und sie entscheidet sich für beides.
Marta zieht als Kindermädchen zu den beiden, damit Sonia ihren Beschäftigungen nachgehen kann. Und referiert Lara Platons Höhlengleichnis als Gute-Nacht-Geschichte.
Eines Tages hat das Callcenter eine Schicht frei. Marta steigt in die Leistungsgesellschaft ein: Von einem 400-Euro-Job ist die Rede.
Sie landet auf einem surreal anmutenden Industriegelände, das von modernen Dienstleistern bevölkert wird, irgendwo vor den Toren der Stadt, zwischen Autobahnkreuz und S-Bahn-Anschluss. Eine seltsame Kollektivität herrscht hier, scheinbar so gar nicht passend zur Individualisierung der Arbeit.
Regisseur Virzì entwirft in seinem Film eine bizarre Welt, in der schöne und gleichgeschaltete Menschen ihren Telefonverkaufsgesprächen frönen. Mit Erfolgskontrolle und Gesprächsüberwachung wie im Schüler-Sprachlabor.
Königin bzw. Einschleiferin der spätkapitalistischen Legebatterie ist das ehemalige Model Daniela (Sabrina Ferilli), das seine Armee Telefonverkäuferinnen jeden Morgen per Bollywood-Kampfgymnastik hart an der völligen Seelenlosigkeit vorbei in die Spur bringt. Jugend­liche Energie ist durchaus vorhanden, erstarrt aber in der konzentrierten Nutzmenschhaltung.
Über allem thront der Chef der Firma Multiple, der nur einen Vornamen hat: Claudio (Massimo Ghini), ein distinguierter und durchtrainierter Vollprofi vom Typus Frank Schätzings. Die »Philosophie« des Unternehmens heißt »Systemtelefonie«.
Der Firmenname spielt auf ein System an, das man Multilevel Marketing nennt: eine Art Pyramidenspiel, das der Firma vor allem durch die Mitarbeiter Profit einbringt. Deswegen werden häufig junge Leute eingestellt, die zunächst einmal Verwandte und Freunde als Kunden gewinnen. Wenn eine weitere aggressive Ausdehnung des Kundenstamms scheitert, wird der Mitarbeiter entlassen. Daraus entsteht ein vernichtend lächerliches Bild einer neuen Schicht von Dienstleistern, die der totalen Kontrolle ihrer Arbeit unterworfen sind. Es ist diese Blamage, aus dem der Film seinen Humor bezieht.
Die jungen Frauen verticken irgendwelche Geräte, deren Sinn nicht ganz klar ist. Am ehesten dreht es sich wohl um Wasserfiltermaschinen für den Haushalt.
Marta googelt die Kundennamen, sammelt Informationen über die Wohnviertel, in denen sich die Adressen der potenziellen Kundschaft befinden, und macht bei der Kontaktaufnahme auf Kumpel: »Ja, ich bin um die Ecke zur Schule gegangen.« Ihre meist ältere Kundschaft ist nicht so medienaffin, dass sie den Betrug bemerken würde. Die zumeist betagten Damen zeigen viel Herz für die jungen Telearbeiterinnen – »ach herrje, ich bin froh, dass ich nicht mehr jung sein muss«.
An Ort und Stelle verkaufen dann ausschließlich – ganz das Klischee vom italienischen Liebhaber erfüllend – junge Männer. Es ist der Begabteste unter ihnen, Lucio (Elio Germano), jung genug, um noch bekloppt zu werden, der irgendwann durchdreht.
Die Rituale der Vertreter, die unter Verkaufsdruck stehen, haben etwas von Sklavenbestrafung und Pennäler-Aggression. Irgendwas zwischen Hinrichtung und In-die-Aktentasche-pissen. Wie eben das ganze Arbeitsleben in »Das ganze Leben liegt vor dir« eine operettenhafte Angelegenheit ist. Voll eklig wird es, als Marta zum Dank dafür, dass sie die Topsellerin ist, von Daniela nach Hause eingeladen wird. Und sich herausstellt, dass die Chefin schon völlig irre ist.
Italien besitzt einige Gewerkschaften. Eine heißt Nidil/CGIL, das steht für Nuovo Identita de Lavoro/Confederazione Generale Italiana del Lavoro. Der Dachverband CGIL ist, Ingo Kuhnert von Eurostat wird es freuen, Mitglied im Trade Union Advisory Committee, einem gewerkschaftlichen Beratungskomitee der OECD. Er hat eigens eine Gewerkschaft für Prekäre gegründet, die Nidil vertritt Zeitarbeiter und atypisch Beschäftigte, also Scheinselbständige, Honorarkräfte und andere.
Auch Giorgio Conforti (Valerio Mastandrea) hat einst Philosophie studiert, jetzt arbeitet er für eben jene Gewerkschaft. Mit seiner Figur kriegt das Ganze einen professionellen Anstrich: Ins Gesicht der Prekären und in die Kamera erklärt er ein ums andere Mal, was am Arbeitsplatz erlaubt ist und was nicht. Welche Rechte ein Arbeitnehmer hat und wie man sie durchsetzt. Wie man die Telefonfabriken organisiert und die Leute anspricht.
Es kommt selten vor, dass Arbeit und vor allem Arbeitsorganisation eine Rolle im Kino spielen. In der letzten Zeit gab es zwar mehrere Versuche, die Transformationen in der Arbeitswelt zu popularisieren, einen Gewerkschafts­sekretär aber als Filmhelden auflaufen lassen, das macht sonst vielleicht höchstens der eng­lische Regisseur Ken Loach.
Virzì setzt noch eins drauf: Nicht nur, dass er Giorgio als sehr ernstzunehmende Größe agieren lässt, er stellt ihn auch als italian lover dar. Giorgio hat zu Hause eine süße Frau und desweiteren mindestens zwei Affären.
Je mehr Erzählstränge Virzì verbindet, desto besser wird sein Film. Es ist ein schöner und zynischer Film, der die Diskurse und Pseudodebatten rund um das Thema Arbeit exakt zusammenfasst. Nichts von dem, wovon diese Komödie erzählt, ist in irgendeiner Weise witzig.
Lachen muss man genau deswegen.

»Das ganze Leben liegt vor dir« (I 2008): Regie: Paolo Virzì. Darsteller: Isabella Ragonese, Sabrina Ferilli, Massimi Ghini, Valerio Mastandrea. Start: 18. März