Allein, zu zweit oder mit vielen Menschen wohnen?

Mit anderen alleine fertig werden

In einer WG zu wohnen, ist ganz wunderbar. Vor allem im Falle einer äußerst ungewöhnlichen Ausnahmesituation.

Es ist anders als sonst. Alle Fenster an der Frontseite des Hauses sind dunkel, obwohl es längst Zeit wäre, die Lichter anzuknipsen. Die Durchfahrt zum Hof ist vollgestopft mit Fahrrädern, und auch der Kinderwagen ist da. Aber schon vor der Stahltür zum Treppenhaus, die in der Vergangenheit Feinden den Zugang zum Haus erschwert hat, ist es auffällig still.
Ich schleiche mit gespitzten Ohren die Treppe hoch. Nichts. Die Küchentür knarzt. Dann wieder diese schier unfassbar angenehme Stille. Die Stadt, deren Lärm man gewöhnlich auch durch die Doppelglasfenster hört, scheint auf den Ausnahmezustand Rücksicht zu nehmen. Im WG-Buch finden sich vergnügte Einträge: »Ich/wir bin weg/komme in einer Woche wieder/fahren jetzt los/sind bis Mittwoch im Schwabenländle … Schöne Zeit bis dahin/Macht es gut!/Viel Spaß hier, Küsschen/Liebe Grüße/Ciao/Bis bald usw.« Sollte ich wirklich allein im Haus sein? Ich bin ganz aufgeregt, atme tief durch und forsche weiter. Im Kühlschrank sind noch alle Leckereien, die ich eingekauft habe – das ist ein eindeutiges Zeichen! Die Stille surrt im Ohr, wie nachts auf dem Land, bei Windstille.
Der Aufstieg in den vierten Stock ist herrlich gespenstisch – geschlossene oder offene Zimmertüren, aber kein Mucks zu hören. Mein Zimmer, sonst eine Oase individueller Verwirklichung, kommt mir plötzlich vor wie die Schaltzentrale eines kleinen Imperiums. Jetzt regiere ich, und zwar im ganzen Haus. Alles gehört mir und nicht uns. Ich schmiede Pläne.

Ich werde mich ausbreiten bis in den letzten Winkel. Ich werde meine Wäsche aufhängen, wo es mir passt, und Dinge liegen lassen, ganz strategisch. Ich werde mich mal hier, mal dort aufhalten. Ich werde aus jedem Fenster das Fußvolk auf der Straße grüßen. Ich werde aus Spaß die Treppe hoch- und runterlaufen. Ich werde das Telefon in meinem Zimmer bunkern und alles, was ich sonst noch gebrauchen kann. Ich werde ganz laut Musik hören. Dann noch lauter. Und dazu singen. Weil es endlich mal niemand hören kann. Diese unzähligen Gegenstände im Haus, die zu nichts taugen, mir den Weg versperren oder mein Auge beleidigen, fliegen raus. Alles wird nach meinem System geordnet. Nie wieder Sachen suchen, es sei denn, in meinem eigenen Chaos! Raue Tonteller mit Blümchen, geschmacklose Tassen von Weihnachtsmärkten und spülmaschinenuntaugliche Holzlöffelchen werden eliminiert. Die Hausbar wird prall gefüllt. Ich tue ganz Verrücktes, was die soziale Kontrolle sonst unmöglich macht.
Ich mache Verpöntes. Ich stelle die Wurstwaren an den Platz, der sonst dem Käse vorbehalten ist. Ich drehe in mehreren Räumen die Heizung auf und kippe die Fenster, stecke Holzbrettchen in die Spülmaschine und schneide mit dem neuen, scharfen Messer auf Porzellantellern. Ich dusche, ohne hinterher zu lüften und die Haare aus dem Abfluss zu entfernen, denn es gibt ja noch das Bad im dritten Stock. Und das im zweiten. Und das im ersten.

Ich berufe ein Plenum ein, stelle meine Anwesenheit fest, fasse Beschlüsse und protokolliere sie für die Abwesenden: Mein Fahrrad wird ab sofort nicht mehr zugeparkt, nein, nur mein Fahrrad darf weiterhin in der Durchfahrt stehen. Am Wochenende darf nicht vor 15 Uhr in der Nähe meines Zimmers geklappert, getrappelt, Staub gesaugt oder anderer Lärm gemacht werden. Eltern haften für ihre Kinder. An der Waschmaschine ist es nur mir gestattet, mich vorzudrängeln. Die Zeitungen werden nie mehr auseinandergerupft. Suppen zum Abendessen werden streng limitiert. Bei zukünftigen Plena darf nichts mehr gesagt werden, was schon tausendmal gesagt wurde, ein freundlicher Tonfall ist bei jeglicher Äußerung Pflicht. Ausschweifende Plädoyers, umständliche Erklärungen, Widerworte sind verboten. Bei politischen Entscheidungen erkläre ich auf Nachfrage gern, weshalb ich sie so und nicht anders treffe. Unangenehme, aber notwendige Tätigkeiten, die in einem solchen Haus so anfallen, werde ich künftig delegieren und ihre Verrichtung zügig und ohne Murren verlangen. Mein Zimmer wird vergrößert und bekommt einen Balkon, eine Dachterrasse wird gebaut, die Metallwerkstatt in eine Sauna verwandelt. So viel fürs erste. Ich prüfe das Protokoll, unterzeichne, lehne mich zurück und fühle mich großartig.
Wer immer seine Ruhe in den eigenen vier Wänden hat, ist ein armer Tropf, denn er oder sie weiß nicht, was wirkliche Glücksgefühle sind. Allein in einem solchen Haus zu sein, das ist wie Weihnachten, Ostern, Pfingsten, andere lange Wochenenden, Sommerferien und größtmöglicher Zufall zusammen. Deshalb passiert es auch nie. Aber das macht nichts. In einer großen, umtriebigen, lustigen WG mit entzückenden Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern zu leben, ist nämlich eine ganz wunderbare Sache. Aber das muss ich ja wohl niemandem erklären.