Die Rückkehr des Bürgertums in die Innenstadt

Wohnst du noch oder baust du schon?

Inzwischen geht es bei Baugruppen nicht mehr um einzelne Häuser, ganze Stadtquartiere entstehen durch solche Arten von Baugemeinschaften. Begründet wird dies oft mit hehren ideellen Wohnvorstellungen. Doch meist bleibt dabei das neue grüne Bürgertum unter sich.

Der Andrang ist unerwartet groß. Fast 100 Menschen drängen sich Anfang Februar in den Gemeindesaal der Jesus-Christus-Kirchengemeinde in Kreuzberg. Dort stellt die Initiative Möckernkiez zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage ihr Projekt vor, nämlich den Bau »eines modernen Stadtquartiers am Rand des neu entstehenden Gleisdreieck-Parks in Kreuzberg«. Gebannt hören die meist zwischen 40 und 60 Jahre alten Zuhörerinnen und Zuhörer Ulrich Haneke vom Vorstand der neu gegründeten Genossenschaft zu. Was er zu erzählen hat, lädt zum Tagträumen ein.
Auf einem über 30 Hektar großen Gelände sollen an der Ecke Möckernstraße und Yorckstraße fast 400 Wohnungen mit 25 000 Quadratmetern Wohnfläche für rund 1 000 Menschen entstehen, dazu über 7 000 Quadratmeter für soziales Gewerbe. Allein der Grundstückskauf wird sich auf ungefähr sieben Millionen Euro belaufen, die Gesamtinvestition beträgt knapp 25 Millionen Euro. Wie ein kleines Dorf werden sich die Häuser um einen zentralen Platz gruppieren, alles möglichst autofrei. Nicht nur an klassische Familien, sondern auch an Singles, größere Wohngemeinschaf­ten und Behinderte wird gedacht. Anfang März wurde der Kaufvertrag für das Gelände unterschrieben, für das Frühjahr 2012 können die Genossen in spe ihren Einzug planen.
Doch dann reißt Ulrich Haneke seine Zuhörer aus ihren schönen Träumen, als er sagt: »Irgendwann kommt die unangenehme Frage: Was kostet dies denn?« Rund 2 000 Euro wird der Quadratmeter kosten, und 30 Prozent davon müssen als unverzinste Genossenschaftseinlage eingebracht werden. Also für eine 100 Quadratmeterwohnung 60 000 Euro, die man allerdings beim Auszug zurückerhält. Doch selbst dann wird die Miete in den ökologisch auf neuestem Stand errichteten Wohnungen 8,30 Euro netto kalt pro Quadrat­meter betragen, dazu kommen die Betriebskosten und die Entgelte für Warmwasser und Heizung. Dafür hat man dann ein praktisch unkündbares Wohnrecht. Um allerdings das nötige Eigenkapital aufzutreiben, muss die Genossenschaft mindestens 20 Prozent der Wohnungen richtig verkaufen. Und der Käufer »darf im Rahmen der Genossenschaft seine Wohnung vererben, verkaufen und weitervermieten«, erklärt Haneke. Es sei das »notwendige Verbrechen der ursprünglichen Akkumulation«, hätte Karl Marx wohl dazu gesagt.

Als die Zahlen auf dem Tisch liegen, bekommen manche Zuhörer im Gemeindesaal trübsinnige Gesichter. Aus der Traum. Und andere rechnen schnell im Kopf durch, um sich dann vermutlich zu sagen: »Da kann ich ja gleich selbst kaufen, ohne lästige Genossenschaft.« Denn so herzensgut und gemeinschaftlich die Initiative Möckernkiez gemeint ist, sie entkommt den Gesetzen des Kapitalismus nicht. Rund 30 Prozent der Gesamtkosten sind als Eigenkapital auf den Tisch zu legen, mehr als 70 Prozent finanziert auch die GLS-Bank oder die Umweltbank nicht mit einem Hypothekenkredit. Und ein Neubau als Baugruppe in Berlin kostet nun mal zwischen 1 850 Euro, wenn man hohe Eigenleistungen einbringt, und 2 400 Euro pro Quadratmeter im Durchschnitt, wenn man viele Aufgaben an eine Baubetreuung abgibt.
Wirkliche Kostensenkungen hätten sich ergeben, wenn der Staat eben nicht das ehemalige Bahngelände an den zuerst staatseigenen Immobilienfonds Vivico übergeben hätte, der inzwischen einer österreichischen Finanzgruppe gehört. Auf einem Kongress zu »Wohnen in der Innenstadt – bezahlbar oder Privileg« forderte vor kurzem Barbara Rolfes-Poneß von der Genossenschaft »Fidicin 18«: »Alles, was die Kosten für Genossenschaften niedrig hält, hilft uns, die Mieten niedrig zu halten.« Die kostenlose Überlassung der Baugrundstücke gegen eine Vergabe eines Teils der Wohnungen an Geringverdiener könnte eine der Lösungen für die drohende Ausgrenzung der Mehrheit der Kreuzberger Bevölkerung aus solchen Projekten sein. Ihre Genossenschaft plant ein ähnliches Projekt wie die Initiative Möckernkiez mit bis zu acht Häusern an der Rückseite der Columbiahalle in der Schwiebusser Straße. Auch dort gehörte das Gelände ursprünglich dem Bund.
Weil unter diesen Bedingungen Genossenschaften nur ideell und im Umgang miteinander, aber eben nicht finanziell attraktiver sind, sollen dort mehrere Häuser als ganz normale Baugemeinschaften mit Eigentumswohnungen entstehen. Hier werden dann die gesellschaftlichen Spielchen von Ein- und Ausschluss bis in die einzelnen Wohnungen durchbuchstabiert. Wie in den Bürgerhäusern der Gründerzeit – nur war damals der erste Stock die beste Lage – sortieren sich die Preise nach Stockwerken. Während eine Wohnung im ersten Obergeschoss noch für 2 000 Euro pro Quadratmeter zu haben ist, steigt Preis in 200-Euro-Schritten bis hinauf aufs Dachgeschoss für 3 050 Euro pro Quadratmeter. Das Geld hat man oder man hat es eben nicht. Nur wer genug verdient, um etwas anzusparen, oder ein Erbe hat, darf mitspielen. Die anderen müssen draußen bleiben.

Diese ganze Entwicklung ist Ausdruck der »Rückkehr des Bürgers in die Innenstadt«. Bis vor wenigen Jahren beherrschte noch das Häuschen im Grünen die Träume. Doch inzwischen hat das neue, oft grün wählende Bürgertum erkannt, dass »die Städte die Zentren wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung sind. Über einen Großteil der Chancen einer Gesellschaft im internationalen Wettbewerb wird in den Städten entschieden«, wie die Amann Burdenski Generalplanungs GmbH aus Freiburg auf ihrer Website schreibt. Und eben nicht im brandenburgischen Dorf.
Und so geht es jetzt in Berlin, ähnlich wie seit einem guten Jahrzehnt in südwestdeutschen Städten wie Freiburg mit der Vauban-Siedlung und in Tübingen mit dem Französischen Viertel, nicht mehr um einzelne Häuser, sondern um ganze Stadtquartiere. Den Anfang in Kreuzberg machte die Baugruppe »Am Urban«, die vor gut einem Jahr die 19 historischen Backsteinbauten des alten Urbankrankenhauses übernommen hat. Weitere Baugruppen gibt es an der Sebastianstraße, die ebenfalls mit großem genossenschaftlichen Engagement angetreten sind, das ihnen systematisch von der Bürokratie des Bezirksamts Mitte durch fragwürdige Bauauflagen ausgetrieben wird. Und völlig offen ist, was mit dem landes­eigenen ehemaligen Dämmisol-Gelände an der Schillingbrücke passiert. Hier bietet sich die Chance, Neubauten nicht für die neue Mittelschicht, sondern für die meist kinderreichen und oft von Hartz IV lebenden Familien aus Kreuzberg zu errichten. Ebenso auf dem Tempelhofer Flugfeld, von dem wohl in den nächsten Jahren ein Teil zur Bebauung freigegeben wird.

Doch was sind die subjektiven Motivationen hinter dieser Entwicklung? Bereits in den neunziger Jahren beschrieb der französische Soziologe Pierre Bourdieu detailliert die im Kapitalismus entstehenden Ängste vor Kündigung, Mieterhöhung und das Gefühl des Ausgeliefertseins an einen Hausbesitzer. Mit dem Erwerb eines Eigenheims oder einer Eigentumswohnung versuche man, als Einzelner aus diesem Ausbeutungszyklus auszubrechen. Zwar begeben sich die Menschen mit dem Kauf einer Wohnung meist in eine rund 20 Jahre lange Zinsabhängigkeit von der Bank. Aber – anders als Bourdieu es einschätzte – reicht es für viele dann doch zum subjektiv empfundenen »kleinen Glück«. Trotzdem ist die von Bourdieu beschriebene Entwicklung, wie ganz schnell »das Eigenheim den Eigenheimbesitzer besitzt« und zum »Ort aller Fixierungen und Besetzungen wird«, auch in Berlin zu beobachten. Mit der Beteiligung an einer Baugruppe dynamisieren sich oft mit einer unglaublichen Geschwindigkeit soziale Prozesse und alte, jahrzehntelang gepflegte politische Überzeugungen werden nur noch als Ballast empfunden.
Trotzdem vernebelt der ganze Wirbel um die Baugruppen die eigentlich zentrale Auseinandersetzung in der Stadt. Denn »Berlin ist Mieterstadt – nur etwa 14 Prozent aller Wohnungen sind Eigentumswohnungen. Und wie es aussieht, wird das wohl auch so bleiben«, schreibt der Stadtsoziologe Andrej Holm auf seinem »Gentrification Blog«. Umso überraschender ist es, wie wenig Energie von politischen Initiativen für die Entwicklung eines neuen sozialen Wohnungsbaus aufgebracht wird. Wie dieser aussehen könnte, wenn er nicht all die Fehler der sechziger und siebziger Jahre wiederholen soll, wissen die meisten politischen Akteure aber nicht zu beantworten. Am konkretesten war da noch der auf dem Kongress »Wohnen in der Innenstadt« angebotene Deal der kostenlosen städtischen Grundstücke gegen Belegungsrechte für Geringverdiener.
Und mit so einem Deal im Hintergrund wäre ein Ansatz wie die Initiative Möckernkiez besser als jedes Investorenprojekt. Dann könnten außer der kulturellen Vielfalt und den unterschiedlichen Lebensformen auch die sozialen Fragen in den Mittelpunkt gestellt werden. In der heutigen Berliner Gesellschaft ist die Ausgrenzung aufgrund individueller Lebensweisen weitgehend überwunden. Derzeit verläuft die soziale Trennungslinie wieder ganz klassisch entlang des Einkommens. Und ohne einen Deal wie den genannten ist zu befürchten, dass auch im Möckernkiez die grüne Mittelschicht unter sich bleiben wird.