Die Jungle World zieht um!

Zwischen 1 und 3

Vielleicht hätten sich Jihad, Vedat und Ahmad vor dem Besuch des Poker-Turniers im Grand Hyatt bei der Jungle World Rat holen sollen. Ahmad aus der Gneise­nau­straße hätte auf einen Sprung vorbeikommen können, und wir hätten ihm gesagt, wie man so einen Coup richtig plant. Überfälle und Umzüge sind schließlich keine voluntaristischen, sondern logistische Projekte.

Sonnabend, 27. März. Umzug der Jungle World von der Bergmann- in die Gneisenaustraße. Die Pläne stehen schon seit Wochen. Die Regale sind leer geräumt, alles, was gerade nicht benötigt wird, ist verpackt, das meiste in Müllcontainern gelandet. Die ramponierten Sessel, Schreibtische und Computer sind mit Namensetiketten versehen, die Umzugskartons mit Buchstaben, E, C, H, A, F, G, D, damit sie in die richtigen Räume wandern: F ins Feuilleton, G in die Produktion, D ins Ressort Thema. Für die neuen und die alten Redaktionsräume sind Bevollmächtigte ernannt, die Verantwortung für Küche, Sperrmüll, Elektro­schrott, Werkzeug­ecke und Regale ist an Spezialisten delegiert. Am Abend zuvor wurden die Computer ausgesteckt und der Server abgebaut. Auszug und Einzug müssen während der Produktion der Nummer 13 stattfinden, sozusagen zwischen der 1 und der 3.

Der Tag beginnt mit einer Disko. Sollte man, so einer der freiwilligen Umzugshelfer, nicht besser mit dem Transport der Zinkregale beginnen? Oder mit den Kartons? Nein, sagt der Bergmannstraßen-Kommissar, es gibt einen Plan, und der gehört zum Plan. Das ist doch quasi logisch, oder? Zuerst sind die Schreibtische dran. Spontaneität ist sympathisch, eine kluge Organisation aber effektiv. Sonst hätte man ja gleich Jihad, Vedat und Ahmad um Hilfe beim Umzug bitten können. Die Zahl der Helfer entspricht etwa den Abozahlen der Jungle World, selbst Kollegen im Vater­schafts­urlaub und Kolleginnen, die inzwischen besser bezahlte Jobs bei Taz und Neues Deutschland haben, sind gekommen.

Wo aber ist der Kollege A? Jemand will ihn gesehen oder doch zumindest jemanden gesehen haben, der ihn gesehen hat. Die Figur des Abwesenden beschäftigt die Redaktion: A ist immer da, wo wir nicht sind, bündelt eine Kollegin die Spekulationen. Das ist vielleicht noch kein mathematisches Theorem, aber allemal philosophisch. Vielleicht aber gibt es A gar nicht?
Während die einen Brötchenhälften schmieren und mit Salatblättern schmücken, auch dafür gibt es Verantwortliche, verstauen andere Schreibtische im Lastenaufzug und zerlegen die letzten Regale. Neben der Arbeit im Kollektiv gibt es aber auch Raum für Individualität. Die Layouterin beruhigt ihre Yucca und nimmt die Treppe, um der Palme den Stress eines Lastenaufzugs zu ersparen. Ein anderer Kollege irrt durch die halbleeren Räume in der Bergmannstraße und sucht die Höhenversteller und Fixierungsstifte für die Gestelle des Konferenztisches. Sie sind bei der Demontage verloren gegangen und müssen unbedingt wieder gefunden werden: Schließlich seien die Dinger von Egon Eiermann und nicht von Ingvar Kamprad.
Die neue Redaktion liegt über der Kung Fu Academy Berlin, die nicht nur mit Selbstverteidigung droht und dumpfen Schreien, sondern auch Meditation verspricht. Ruhe also. Ab und zu jedenfalls. Und selbst die Lärmemissionen der Tauben unter dem Dach, die manchen seinen Pazifismus vergessen lassen, sind dann doch erträglich. Es hätte schlimmer kommen können. Wie in der Bergmannstraße zum Beispiel, wo tagaus tagein Schauspielschüler für ihre zukünftigen Auftritte bei der Arbeitsagentur übten.

Es gibt kein Großraumbüro mehr, jedes Ressort hat ein eigenes Zimmer. Privates bleibt nun ein bisschen privater, das Politische aber auch. Freiwillige haben in den vergangenen Tagen Teppichfliesen verlegt, in den Bürofarben Grau und Blau. Und auch sonst gibt es Unterschiede. Geschäftsführung und Vertrieb schauen auf eine fast monochrome Berliner Brandmauer, alle anderen Teilredaktionen genießen die grandiose Perspektive auf die Kreuzberger Passionskirche, einen neoromanisch-byzantinischen Ziegelbau.
Ein mächtiges Blechrohr mit zwei Auslässen ragt in den Konferenzraum. Was ist das? Rohrpost, Heizung, Entlüftung, Schornstein? Wo kommen die Rohre her, und wo gehen sie hin? Die Kollegin aus dem Feuilleton ist irritiert: Das macht mich depressiv! Man ahnt ihre Assoziationskette: Entlüftung – Fabrik – Arbeit, richtige Arbeit – Arbeitslosigkeit – Hartz I bis IV – schließlich SGB XII. Vielleicht sollten wir sie anmalen, blau, rot und gelb, wie die sichtbaren Rohrsysteme des Centre Pompidou?

Am Sonntagmittag richten Layouter und Webmaster den Server ein, das Motherboard der Redaktion. Ihre Sprache ist farbig: Braun auf eins, Grün-weiß auf drei, Rot auf zwei, Blau auf der Vier. Dann stimmt’s. Ich isoliere und du impactest. Alles klar? Egal, hört und sieht ja kein Lektor. Rund 700 Meter Telefon- und Netzwerkkabel sind verlegt worden. 30 Rechner müssen vernetzt werden. Ohne die beiden Handwerker gibt es keinen Zugang zum Internet und keine Kommunikation untereinander. Nach und nach treffen einige Kollegen ein. Schließlich muss am Montag wieder produziert werden. Wo stellen wir den Schreibtisch hin? Möchtest du hier oder da sitzen? Mit dem Rücken zur Wand oder zum Fenster? Den Computer rechts oder links? Die Virtualität von FarmVille ist eben doch einfacher als das Einrichten in der Realität. Es wird geschoben und gestellt. Am Abend haben die vier Arbeitstische in der Produktion ihre richtige Anordnung gefunden, die Yucca steht neben dem Layout-Rechner, Marlboro-Tabak und Jacordia-Filter am Platz des Auslandsredakteurs. Der Chef vom Dienst hat die Kaffeemaschine in Gang gebracht, Eiermanns Höhenversteller haben sich angefunden, die Schreibtische im Inland sind rechtwinklig zu den Wänden angeordnet, und im Thema hängt das schöne Foto von einem Plattenbau, Typ P 2 oder WBS 70. Wir sind wieder zu Hause.
Es hätte aber noch besser kommen können. Ach, Jihad, Vedat und Ahmad, warum habt Ihr uns nicht vorher besucht! Wir hätten uns neue Rechner gekauft und bequeme Sessel, den Einheitslohn erhöht und überhaupt, und Ihr wäret jetzt in Damaskus, auf den Malediven oder in Ankara und nicht in Moabit, wo niemals die Sonne scheint!