Ein Kochbuch für Kollektive

Als die Linke kochen lernte

Die Revolution bekocht ihre Kinder: Wiederbegegnung mit einem Kochbuch der 68er und seinem Autor.

Der Lehrer Linos, so überliefert es das Fragment des griechischen Lustspielautors Alexis, stellte eines Tages seinen Schüler Herakles auf die Probe. Er überließ ihm die Auswahl des Buches, das im Unterricht gelesen werden sollte. Hesiod? Homer? Prosa und Tragödien aller Art? Nein: Der Junge greift ohne Umschweife – zu einem Kochbuch. Wer auf die eigene Studienzeit zurückblickt, von der doch eher Namen wie Ernst Bloch oder Walter Jens in Erinnerung bleiben sollten, zögert natürlich, Kochbücher zu den Bildungserlebnissen zu zählen. Andererseits – das »Prinzip Hoffnung« allein genügte nicht, die auf dem Tübinger Wochenmarkt in barer studentischer Unwissenheit erstandene uralte Legehenne der Bauersfrau in ein »Poulet à la Marengo« zu verwandeln – , den Lockvogel für die schöne Kunsthistorikerin im Nachbarhaus. Noch weniger konnte es ohne systematischen Wissenserwerb gelingen, eine Kreuzberger Wohngemeinschaft mit regelmäßigem Küchendienst zu beköstigen, drei Mitbewohner(innen) sowie gewöhnlich mindestens zwei sich einfindende Schlafburschen oder Kostgängerinnen aus den diversen »Projekten«, »Gruppen« und »Initiativen«.
Der Weg des Spätkapitalismus in den Abgrund mochte vorgezeichnet sein, der zu einem gelungenen Abendessen war es nicht. Die beiden Kochbücher, mit denen der Student sich der Herausforderung stellte, hätten unterschiedlicher nicht sein können. Wolfram Siebeck (»Kochschule für Anspruchsvolle«, 1976) erwartete die Läuterung der deutschen Küche wohl nicht von der Weltrevolution, zu deren gastronomischer Vorahnung ihn ein DKP-Dichter in das Würzburger Bahnhofsrestaurant zwangseinweisen wollte. Aber sehr im Geiste der Zeit war seine Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen radikal und die Rezepte zur Verbesserung keineswegs utopisch. Gerichte wie Coq au Vin oder Cassoulet erwiesen sich als durchaus WG-tauglich, Küchenmythen der Ära Adenauer wie Schwetzinger Spargel oder Filet Wellington interessierten ohnehin niemanden. Zufriedenen Esserinnen und Essern brauchte nicht ernsthaft weisgemacht zu werden, dass das Kalbsbries einem Sonderangebot bei Edeka zu verdanken war. Hier hatte sich ein Vorstoß ins finstere Herz des K(l)assenfeindes, die Lebensmitteletage des KaDeWe, ebenso wenig vermeiden lassen wie bei der Suche nach Crème fraîche, die damals in Berliner Supermärkten (»Wat fürn Fisch?«) noch unbekannt war.
Peter Fischers »Schlaraffenland, nimms in die Hand!«, 1975 einer der ersten Titel des Verlags Klaus Wagenbach, kam im rhetorischen Gewand der Studentenbewegung daher als »Kochbuch für Gesellschaften, Kooperativen, Wohngemeinschaften, Kollektive und andere Menschenhaufen SOWIE isolierte Fresser«. Für den Umgang mit Frauen-Power im Räkelmodus erhielt eine bereits defensive Männerwelt Ratschläge für die scheinheilige Aufstellung des Herdes als neuerliche Falle: »Frauen in der Kollektivküche? Ja!!« Schuld an der Degeneration von »Suppen und Saucen« trug die »kleinfamiliäre Idiotie«. Zusammen mit den Eiern aus der Legebatterie zerbrach der Verblendungszusammenhang des »gerechten Preises«. Der Kapitalismus, erfahren wir im Fleisch-Kapitel, »ist nicht nur prinzi­piell schlecht, er schmeckt auch schlecht«. Der klassenkämpferische Gestus allerdings trog. Fischer schrieb reformistisch, denn Genuss für Genossen war vorerst nur im Seienden zu haben: Gewiss, »der Papiergeier« aus der Tiefkühltruhe »schmeckt grauenhaft fade«, lässt sich aber mit einer raffinierten Füllung durchaus aufwerten.
Wenn sich Feuilletonisten heute auf die Suche nach dem verschwundenen Bürgertum machen, kann man sicher sein, dass sie irgendwann im Geschirrschrank ihrer Großmutter landen. Was von den Tellern (ob nun Meißen, KPM oder sonstwas) gegessen wurde, wäre allerdings aussagekräftiger: Der Mensch von Stande wohnte über, aß aber unter seinen Verhältnissen; abgesehen von Sonn- und Feiertagen blieb die Tafel denkbar einfach. Fischers Buch erzählt von den Möglichkeiten hinter dieser oft genug ideologisch überhöhten Bescheidenheit, Kartoffelvariationen und ähnlichen Freuden des Alltags – von »Nudellust« bis »Schleckmarie«. Entsagung ist eine Frage des Budgets, nicht der Moral. Sein Motto entlehnte das Buch bei Bert Brecht, der zur Agitation »saftige Beschreibungen von den Genüssen« empfahl, »die man hat, wenn man hat«.
Dem Leser begegneten in diesem unscheinbaren Taschenbuch nicht die gestylten Gebrauchswertversprechen der Food-Fotografie. Es war weit entfernt von der Designerküche der »New Economy«, wie sie im Sushi-Kult ihr Hochamt feiert, aber auch von zivilisationsverachtendem Biedersinn, der Currywurst, Döner und Bouletten für die einzig vertretbare Antwort auf den Hunger der Welt hält. Der Blick unter die Oberfläche der Erscheinungen führt den Koch unweigerlich zu den Innereien – und prüft die Leserinnen und Leser, ob sie etwas vom Essen verstehen oder nur so tun. Also schwärmt das Buch von Lammherz in Wacholder, gebackenem Hirn, Kalbsnieren in Sherry – vor allem Kutteln, von »genuesisch« bis zu den mächtigen »Tripes à la mode de Caen« in Apfelwein und Calvados: »Wer etwas von analfixiert dahertheoretisiert, um sich vor einem leiblichen Genuss zu drücken, der wird beim Kollektivfresser kein Gehör finden.«
Sich in fremden Küchen umzuschauen, bildete sozusagen den praktizierten Internationalismus des Buches. Kaufe dort ein, wo es die italienischen und spanischen »Gastarbeiter« tun, überwinde die Scheu vor dem türkischen Fleischerladen, lerne vom vietnamesischen Volk nicht nur, wie man den Sieg im Volkskrieg erringt, sondern auch, wie man einen Karpfen pochiert. Am runden Tisch in »Schlaraffenland« hatte Sektierertum keinen Platz – »der Verzehr von Sauerkraut und Schweinebauch verrät nicht den Faschisten«, und »wer gerne Kwas mag, ist nicht unbedingt Revisionist«. Peking-Ente? »Nach Peking fahren und Peking-Ente essen«, beschied der Autor griesgrämig. So ein selbsternannter »Führer seiner Klasse« nahm den Ratschlag damals ernst und musste sich – so die Fama – am Ende übergeben, nicht wegen der Ente, sondern aus Wut, weil ihn die chinesischen Freunde mangels Bedeutung seines neostalinistischen Parteichens aus dem gemeinsamen Erinnerungsfoto mit Mao wieder hinaus retouchiert hatten.
Als das Buch geschrieben wurde, ahnte noch niemand etwas von den großen Lebensmittel­skandalen der Folgezeit, Hormonen im Kalbfleisch oder Antibiotika im Huhn. Unvorstellbar allerdings waren auch hysterische Überreaktionen einer Öffentlichkeit, die in Gestalt einiger unbedarfter Fernsehjournalisten zehn Jahre später die »Würmer im Fisch«-Krise heraufbeschwor. Nematoden gab es schließlich schon ebenso lange wie Fisch, also seit vielen Millionen Jahren, aber man musste zumindest mal einen in der Hand gehabt haben, um beim gelegentlichen Auftauchen eines Parasiten nicht gleich die Polizei zu rufen. Die Erfolgsgeschichte des dreimal aufgelegten Buchs endete erst, als ein Gespenst in Europa umging, nein, nicht der Communismus, aber auch mit »C«, das Cholesterin. Er habe öfter überlegt, ob er das »Schlaraffenland« wieder nachdrucken solle, aber die dort zelebrierte Küche sei einfach zu fett, erzählte jedenfalls Klaus Wagenbach, nach dem Verbleib des Autors befragt.
Peter Fischer allerdings sieht es anders: »Die Müslis haben alles verdorben.« »Was meine Großtanten gekocht haben, war auch schon ›bio‹, ein sorgsam ausgebauter Burgunderwein war es auch.« Nicht der Gedanke an verbesse­rte Qualität hat, wie man zustimmen muss, den Ökologismus beflügelt, sondern ein parareli­giöser Begriff von Reinheit und Unschuld. Körnerkost, die vom Internisten empfohlene »Gesunde Ernährung« und der Jugend-Vegetarismus: alles nur Varianten einer infantilen Unsterblichkeits- und Askesegrille, die auf das »frisch aus der Sau gehauene Kotelett« – eine vermeint­liche sprachliche Rohheit, in Wahrheit eine posthume Liebeserklärung – vermutlich reagieren würde, als richte sich das Metzgerbeil gleich gegen sie selbst.
Vor ein paar Jahren habe ich den Autor an seinem Wohnsitz Breisach am Rhein aufgesucht, nachdem der Wagenbach Verlag meine Annahme, bei »Peter Fischer« habe es sich um ein Pseudonym gehandelt, nicht bestätigt hatte. Mitnichten erinnerte der freundliche Gelehrte mit weißem Bart und Nickelbrille an schmuddelige Wohngemeinschaftsküchen, erfüllt von Nebelwolken aus »Roth-Händle« und dem Klang von »Bandiera rossa« oder Ernst-Busch-Liedern, welche die Verhältnisse, das heißt die Halden unabgewaschenen Geschirrs, zum Tanzen brachten. Geblieben war allerdings der Hass auf die Lustfeindlichkeit des »christlichen Kleinbürgerlebens«, das ihm später noch in allerlei Verkleidungen begegnete – zum Beispiel dem als Kuriosität in der Bibliothek gehüteten chinesischen Kochbuch einer Münchener ML-Fraktion, aus dem nicht der Wohlgeruch der fernöstlichen Speisen, sondern »Sauberkeitsgestank gewürzt mit Genickschussempfehlungen« strömte.
Bei den katholischen Pfadfindern lernte er die Ernährung größerer Populationen, die Kräuter wurden in den umliegenden Feldern gesammelt. Allen nachträglichen Stilisierungen zum Trotz wurde im »Ländle«, wie sich der gebürtige Badener erinnerte, auch nicht besser gekocht als im Rest Deutschlands. Die prägende Küchenerziehung erfuhr er während eines Studienaufenthalts an der Sorbonne in Paris 1959/60. Dort gab es ein hervorragendes Studentenrestaurant, dessen Couscous am Samstag nicht nur die Studenten, sondern auch die Afrikaner des Viertels anlockte – er hat diesem Klassiker in seinem Kochbuch ein Denkmal gesetzt. Auch die vielen vietnamesischen Rezepte darin hatten weniger mit der Vietnam-Solidarität der 68er zu tun als mit seinen fernöstlichen Kommilitonen von damals.
Eine überraschend marginale Rolle spielte in seinem Kochbuch die Küche Italiens, welche ansonsten die Eingeweide der Linken aufquellen ließ, bis sie es nur noch ins Bett und nicht mehr auf die Barrikade schafften. Wo Hirn und Bauch, Partito Comunista und Pasta in historischem Kompromiss lebten, wo die Herrschaftsfreiheit im besonnten Straßenverkehr bereits realexistierte … so ähnlich sah die folklorisierte Landeskunde ja aus, wenn Deutsche sich als die besseren Italiener gebärdeten und nebenbei den Aberglauben in die Welt setzten, in Sauce versenkte Teigwaren hätten etwas mit Kochkunst zu tun, zu Hause gefertigt angenehm billig und unaufwändig, im Ristorante locker ein paar Scheine wert – was für einen Marxisten zumindest ein erklärungsbedürftiges ökonomisches Paradox darstellt.
Kochen ist das Gegenteil von Anarchie. Das wussten die Leser des Buchs schon nach den ersten Seiten. Kochen ist Arbeit und Organisation, Kühlschrank und Speisekammer wollen sinnvoll bewirtschaftet werden. Vor allem aber: »Kochbücher kann nur benutzen, wer kochen kann«, das heißt, wer das Handwerk beherrscht – alles Tugenden, die dem Geist der Wohngemeinschaft so ganz zuwider liefen. Schon vom Geburtsjahrgang 1938 her passte Fischer nicht ganz in die Kommunen der siebziger Jahre, ein biographischer Bruch hat ihn 1972 für ein paar Jahre dorthin verschlagen: »Davor war ich eher ein bürgerlicher Spießer.« Die Idee für das »Schlaraffenland« kam von Klaus Wagenbach, der ­gerade seinen Verlag gegründet hatte und mit dem Autor ein Buchprojekt »Gedichte des jungen Goethe« besprach – beim Essen. Die Titelseite zeigt denn auch Wagenbachs Familientisch und nicht Fischers Vier-Männer-WG in München.
All dies blieb Episode. Fischer hat ansonsten als Rundfunkautor, Übersetzer und Herausgeber gearbeitet, vor allem zur Literatur der Aufklärung und Revolution in Frankreich. Das Schlagzeug inmitten der stupenden Bibliothek und die Kameras auf dem Schreibtisch verrieten den passionierten Jazz-Musiker und Fotografen. Eine umfangreiche Lyrik- und Belletristikproduktion hat ihre Veröffentlichung noch vor sich.
»Schlaraffenland« bildete im Grunde einen Versuch, den kapitalistisch beschleunigten Untergang der großfamiliären Tafelfreuden – ob nun deutsch, orientalisch oder provençalisch, mit zärtlich umhegtem Schweinsbraten oder Pot-au-feu – auf dem Umweg über die Wohngemeinschaft aufhalten zu wollen. Am Ende ernährten sich dann alle aus der Mikrowelle: die verbliebenen klassischen Vater-Mutter-Kind-Haushalte, die »isolierten Fresser« und die Zufallsgemeinschaften unter einem Dach, die mittlerweile für das ganz Besondere (und im Zweifelsfall »Super-Leckere«) lieber zu einem Druckwerk wie »Vegetarische Studentenküche« greifen – noch mehr an Drohkulisse kann ein Kochbuchtitel kaum aufbauen. Als ich ihn traf, schrieb Peter Fischer wieder an einer kulina­rischen Programmschrift. Nicht etwa an einer Fortsetzung von »Schlaraffenland«, sondern an einer Sammlung großer gastrosophischer Texte von Brillat-Savarin über Grimod de la Reynière bis zu Karl Walterspiel, denen sich die Rezepte kompletter Menus zur Überprüfung zugesellen sollen. »Konservativ« nannte er das Buch – »wie das Leben«.

Peter Fischer: Schlaraffenland, nimms in die Hand. Kochbuch für Gesellschaften, Kooperativen, Wohngemeinschaften, Kollektive und andere Menschenhaufen SOWIE isolierte Fresser. Klaus Wagenbach, Berlin 1988, 192 Seiten (vergriffen)