Jeder nur ein Kreuz! Karfreitags in Jerusalem

Jeder nur ein Kreuz

Die Sonne scheint und das Leid kennt keine Grenzen. Ein Besuch der Karfreitagsprozession in Jerusalem.

Ob es heute tatsächlich eine Kreuzigung zu sehen gibt? Nein, so weit werden sie nicht gehen. Obwohl? Wenn ich es richtig verstanden habe, kommen die Christen dieser Welt zur sogenannten Karfreitagsprozession nur deshalb nach Jerusalem, um den Schmerz, den ihr Idol Jesus von Nazareth erleiden musste, am eigenen Leib zu erfahren.

Voller Erwartungen besteige ich den Sherut, einen Kleinbus nach Jerusalem. Es ist nicht viel los um halb neun an der zentralen Busstation in Tel Aviv. Wann beginnt eigentlich diese Prozession? Bin ich zu spät dran? Stehen diese Christen nicht viel früher auf? Bei meiner Ankunft ist die Neustadt von Jerusalem wie leergefegt, kaum ein Mensch ist in der sonst so belebten Fußgängerzone, der Ben Yehuda Street, zu finden. Es ist bereits 10 Uhr, und ich muss schnellstmöglich in die Altstadt. Bestimmt ist dort schon der Teufel los. Aber nein, der wird ausgerechnet heute nicht da sein, obwohl so eine Kreuzigung für ihn eine wahre Freude sein müsste.
In den engen Gassen der Altstadt versuche ich, mich auf die Via Dolorosa zu begeben, auf den Weg, den Jesus mit seinem Kreuz auf dem Rücken zu seiner Hinrichtung gegangen sein soll. Ich begegne einem ersten Kreuzträger. Das Holz ist sauber verarbeitet, die Balken sind gut miteinander verzapft. Er muss Zimmermann sein (# 5).

Eine ältere Frau spricht mich an, ihr Kreuz ist deutlich kleiner. Sie trägt eine braune Robe mit Kopfbedeckung. Ein Profi, möchte man meinen, doch weit gefehlt. »Is this the Via Dolorosa?« fragt sie mich. Ich gucke sie ungläubig an: »Yes, it is.« Man könnte sich schon besser vorbereiten, denke ich.
Ansonsten ist wenig los auf dem Leidensweg. Am Wetter kann es nicht liegen, hier ist herrlicher Sonnenschein. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich schlendere weiter durch die Gassen der Altstadt, und dann stehen sie plötzlich vor mir. In Reih’ und Glied warten sie diszipliniert darauf, dass es endlich los geht (# 7, # 8). Und Leiden können sie gut (# 1, # 3).
Das dauert mir zu lange. Vielleicht sollte ich direkt zur Grabeskirche gehen und dort warten, wo Jesus vor knapp 2 000 Jahren gekreuzigt worden sein soll. Jetzt brauche ich tatsächlich einen Stadtplan. »15 Schekel, my friend.« Gekauft. Schnell finde ich mit meinem neuen Hilfsmittel zurück auf die Via Dolorosa, und da sind sie, die Massen (# 4).

Am östlichen Tor warten sie darauf, die Grabeskirche betreten zu können, doch die israelische Polizei lässt die Gläubigen immer nur in kleinen Gruppen hinein. Ich drängle mich nach vorne auf den Vorplatz der Kirche, bis ich bestens postiert bin. Einige Kreuzträger sind schon drin (# 2), der Rest erhält nach und nach Einlass (# 6, # 9, # 12). Lange haben sie gewartet, ihr Leid ist kaum noch zu ertragen (# 11). Und dann kommt endlich der Star des Tages (# 10). Er wirkt ein wenig desorientiert. Ob man ihn kreuzigen wird?