»Im Angesicht des Verbrechens«: ein Mafia-Epos aus Berlin

Die Sopranos von Berlin

Dominik Graf erzählt im deutschen Fernsehen ein Mafia-Epos aus der Hauptstadt – und macht alles richtig.

Fernsehen kann das bessere Kino sein. Zahlreiche US-amerikanische Serien haben das in den vergangenen Jahren gezeigt, von den »Sopranos«, über »Big Love« bis hin zu »Mad Men«. Ihre Charaktere glaubte man irgendwann ebenso gut zu kennen wie die eigenen Freunde. Ähnlich wie bei einem Zweitausend-Seiten-Roman lässt sich bei der TV-Serie die Erzählung episch ausbreiten, es wird nicht aus Gründen dramaturgischer Effizienz geschnitten. Insgesamt bedeutet das einen Reichtum an Figuren, Handlung, Motiven, Schauplätzen, Atmosphäre. Allerdings gab es in Deutschland bisher nichts Vergleichbares – hier sind die Serien in der Regel dürftig erzählt, sind grottig schlecht gefilmt und wirken hoffnungslos bieder. Eine Ausnahme war die von der Kritik, nicht aber vom breiten Publikum geschätzte Krimiserie »KDD – Kriminaldauerdienst«. Sozialrealismus in Berlin, hektisch, hart, depressiv. »KDD« war im Grunde mehr Sozialdrama als Polizeifilm.
Dominik Graf geht mit seiner neuen, als Koproduktion von WDR und Arte entstandenen Serie jedoch in eine ganz andere Richtung. »Im Angesicht des Verbrechens« ist großes Kino im Fernsehen, ein Mafia-Epos in zehn Kapiteln, intensiv, üppig und glamourös; temporeich, aber nie gehetzt, intelligent, aber nicht allzu knifflig. Die Produktionsgeschichte klingt zumindest für deutsche Verhältnisse spektakulär: eine insolvente Produktionsfirma, fast zwei Jahre Produktionszeit, 115 Drehtage, 140 Sprechrollen, ein multiethnisches Figurenensemble aus Russen, Ukrainern, Polen, Rumänen, Deutschen, Türken und Vietnamesen.
Ihre Premiere hatte die Fernsehserie im Kino. Während der diesjährigen Berlinale war sie im Internationalen Forum des jungen Films in einer Sondervorführung zu sehen, aufgeteilt auf jeweils fünf Folgen. Es war ein einmaliges kollektives TV-Erlebnis auf der Kinoleinwand, das beim Publikum zu großer Aufgekratztheit führte und eine suchtähnliche Vorfreude auf die kommende Episode auslöste.
»Im Angesicht des Verbrechens« spielt in Berlin und erzählt von zwei rivalisierenden Russenmafiaclans und dem jungen russisch-jüdischen Polizisten Marek Gorsky (Max Riemlet), der familiär in die Verbrechensszene verstrickt ist. Seine Schwester Stella (Marie Bäumer) ist mit Mischa (Misel Maticevic) verheiratet, dem Besitzer des Restaurants »Odessa«, ein Mafioso, der im illegalen Zigarettenhandel aktiv ist. Als Polizist wird Marek von den Russen verachtet und beschimpft, doch richtig kompliziert wird die Konstellation erst, als er mit seinem Kollegen Sven Lottner (Roland Zehrfeld) gegen die eigene Familie ermitteln muss. Dabei kommt er auch dem Mörder seines älteren Bruders Grischa, der vor vielen Jahren von einem kriminellen Rivalen erschossen wurde, auf die Spur. Es ist das Trauma seiner Kindheit, wegen dieser Geschichte hat er sich zum Polizisten ausbilden lassen.
Polizei und Mafia, das sind bei Graf aber nicht zwei Gruppen, sondern eine Vielzahl von Subeinheiten und Untergruppen innerhalb eines komplexen hierarchischen Gefüges. Man arbeitet zusammen und gegeneinander, man macht Geschäfte und durchkreuzt Geschäfte. Da gibt es die draufgängerisch auftretenden Jungpolizisten und ein korruptes Polizistenpaar auf der einen Seite; auf der anderen die Mafiabosse sowie ihre soldatisch organisierten Brigaden. Inmitten dieses Getriebes lebt ein dickbäuchiger deutscher Geschäftsmann mit einem dicken Auto, einem dicken Sohn und einem maßlosen Bedarf an Frauen und Macht, Kaviar, Alkohol und Via­gra. Und es gibt die beiden jungen Ukrainerinnen Jelena (Alina Levshin) und Swetlana (Katja Nesytowa), die mit dem Versprechen auf ein besseres Leben nach Berlin gelockt wurden. Ihr Glücks­taumel auf dem Kudamm hat bald ein Ende, sie müssen als Edel-Callgirls anschaffen gehen. Dass Marek und Jelena sich irgendwann lieben werden, geht bereits aus dem Trailer hervor, doch die Begegnung der beiden wird langsam vorbereitet, aufgebaut, geradezu genussvoll hinausgezögert.
Grafs Drehbuchautor Rolf Basedow, der für den Regisseur auch schon »Hotte im Paradies« und »Eine Stadt wird erpresst« geschrieben hat, zeigt ein außergewöhnliches Gespür für Schauplätze und Figuren, ohne sich dabei in dramaturgische Raffinessen zu versteigen. Auf eher lässige Art zeigt er die Gleichzeitigkeit von Ereignissen, entfernt sich vom Hauptstrang und verweilt auch mal länger an Nebenschauplätzen. Jeder Figur wird gleich viel Aufmerksamkeit und Sorgfalt gewidmet, dem großen Gangster ebenso wie dem kleinen Fisch. Basedow hat sorgfältig im kriminellen Milieu recherchiert, er kennt die Spielregeln, Sprachen, Codes und Tätowierungen. Doch trotz der glaubwürdigen Inszenierung eines präzise gezeichneten Milieus – die Deutschen berlinern, die anderen ­Figuren sprechen meist Russisch oder mit starkem russischen Akzent – hat Graf mit simplen Authentizitätsvorstellungen wenig im Sinn. Er liebt die Stilisierung, die Übertreibung, das Pathos und den Kitsch, die Erfüllung von Klischees und ihre Durchbrechung gleichermaßen. Im Grunde geht es um archetypische Gangster-Mythen, um Abhängigkeiten, machistische Männerrituale und Macht, um Hass, aber auch romantische Liebe und Gefühle, die so groß sind, dass sie sich nur in Superlativen äußern können: In einer Szene regnet es aus einem Helikopter Rosenblätter über die geliebte Frau, und ein luxuriöses Geschenk kommt mit einem Ballon hinabgesegelt. Dass so ein Moment opernhaft-kitschig und gleichzeitig berührend wirkt, ist schon ein ziemliches Kunststück.
»Im Angesicht des Verbrechens« steht nicht zuletzt für die Rückkehr von Genre-Stoffen im deutschen Film. Etwa zur selben Zeit entstanden Benjamin Heisenbergs »Der Räuber« und Thomas Arslans Neo-Noir »Im Schatten«, Filme, die sich auf eine vertraute Form des Erzählens berufen, auf vertraute Figuren, Motive und Plotmuster und dabei trotzdem ihre ganz eigene Geschichte erzählen, in ihrer jeweils eigenen Sprache. Grafs Serie ist noch viel mehr Genre­kino, weshalb sie – ganz im Unterschied zum deutschen Krimi, in dem zunehmend die soziale Thematik die Erzählung bestimmt – vor allem das Kino selbst aufruft. Das europäische Genrekino eines Jean-Pierre Melville oder die Polizeithriller der ausgehenden siebziger und beginnenden achtziger Jahre wie die Filme von Alain Corneau etwa. Aber natürlich wird man auch an zahlreiche Mafiafilme erinnert, an Coppolas »The Godfather«, Grays »We own the night« oder auch Cronenbergs »Eastern Promises«. Doch gerade weil Graf sich in bekannten Mustern und Strukturen bewegt, kann er umso besser zeigen, was abweichend und was spezifisch ist. So ist »Im Angesicht des Verbrechens« vor allem auch ein Porträt des zeitgenössischen Berlin. Protz und Geschäftemacherei bestimmen die Stadt nach der Wende, doch erzählt wird auch von russisch-jüdischen Lebenswelten in Berlin, von religiösen Feiern und kulturellen Menta­litäten. Immer wieder zeigt die Kamera die Stadt in der Totale, von oben, bei Nacht oder am Nachmittag, um dann wieder tief in ihr Dickicht einzutauchen, wo die Figuren einander jagen, töten oder auch lieben.

Ab dem 27. April, immer dienstags, wird die Serie in Doppelfolgen auf Arte ausgestrahlt. Anschließend wird sie auf ARD zu sehen sein.