Kapitalismus und Landwirtschaft

Der Kapitalismus wird bodenständig

Die Konkurrenz um die Nahrungsmittelressourcen der Erde wird härter. Ackerland ist begehrter denn je, sowohl Regierungen als auch Fonds kaufen es auf.

Eine der letzten großen theoretischen Debatten unter marxistischen Wissenschaftlern, einer Spezies, die vom Aussterben bedroht scheint, rankte sich in den siebziger Jahren, angestoßen durch die Weltsystemtheorie vor allem Immanuel Wallersteins und einige Thesen Robert Brenners, um die Ursprünge des Kapitalismus. Es ging um die Frage, ob das Handelskapital für die Expansion dieser historisch neuen Produktionsweise verantwortlich gewesen sei oder aber erst die Umwälzung der Landwirtschaft langfristig diesen Prozess habe in Gang setzen können.
Punktsieger war damals der zurzeit in Los Angeles lehrende Historiker und Ökonom Brenner. Vor allem anhand der englischen Entwicklung des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts wies er nach, dass die Warenform von Arbeit und Boden die Grundvoraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise war und ist. Erst die Trennung der Bauern von ihrem Land – zumeist ein brutaler Prozess von Einhegung, von der Privatisierung öffentlich genutzten Landes und von Vertreibung – sowie ihre Verwandlung in Lohnarbeiter ermöglichte die Bildung größerer Einheiten und die Bearbeitung des Bodens mittels moderner Technik, ebenso wie die Errichtung von Fabriken, Büros und später auch von Internet-Cafés. Der US-amerikanische Marxist Loren Goldner hat dies in der Formel zusammengefasst, Kapitalismus bedeute »in erster Linie die Umwälzung der Landwirtschaft«.
So gesehen wäre der krisengeschüttelte Kapitalismus derzeit wieder in seinem Element. Denn nach den Booms und Bubbles der New Economy und des Immobilienmarktes spielt sich nun die weltweit spektakulärste Investitionstätigkeit im Agrarbereich ab. Nach Schätzungen der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen haben mindestens 30, wahrscheinlich aber 40 bis 50 Millionen Hektar Agrarfläche in den vergangenen fünf Jahren den Besitzer gewechselt. Investmentbanken wie Goldman Sachs und Morgan Stanley, die größte deutsche Fondsgesellschaft DWS, dazu auf den Agrarbereich spezialisierte Unternehmensgruppen und Hedge-Fonds, sie alle bieten Zertifikate auf Äcker rund um den Globus an.
Vor allem aber Staatsfonds treten derzeit als Käufer von Böden insbesondere in Afrika, aber auch in Osteuropa und Zentralasien auf. Führend sind hier chinesische und arabische Fonds, aber auch Südkoreaner, Japaner, Inder und Südafrikaner beteiligen sich an diesem immer schnelleren Wettlauf. China beispielsweise soll sich gerade 100 000 Hektar in Zimbabwe und 2,8 Millionen Hektar Agrarland im Kongo gesichert haben. Hinzu kommen noch größere Flächen im Sudan, mit dem China schon seit einigen Jahren intensive Beziehungen pflegt.
Im »Scramble for Africa« hatten die europä­ischen Kolonialmächte Ende des 19. Jahrhunderts um Territorien und Rohstoffe konkurriert. Beim zweiten »Scramble« wird nicht mehr erobert, sondern gekauft. Die Gründe bringt DWS, ein Tochterunternehmen der Deutschen Bank, auf den Punkt. Die Fondsgesellschaft hat eigens zwei neue Agrarfonds mit den programmatischen Namen Invest Global Agribusiness und Invest Global Infrastructure in ihr Programm aufgenommen. In ihren Magazin DWS active wirbt sie für den Zukunftsmarkt: »Pro Kopf steht immer weniger Ackerfläche für den Anbau von Nahrungsmitteln zur Verfügung. Engpässe und steigende Preise scheinen damit vorprogrammiert.«
Damit wäre eigentlich alles gesagt. 1,5 Milliarden Hektar beträgt die derzeit genutzte Ackerfläche auf der Welt, die 6,8 Milliarden Menschen ernährt. Man muss kein Prophet sein, um zu prognostizieren, dass die Nutzfläche nicht beliebig erweitert werden kann. Im Gegenteil, angesichts von Wassermangel, Erosion, Überdüngung, Verstädterung und Versteppung schwinden vielerorts Ackerflächen und Erträge, wie Wolfgang Hirn in seinem Bestseller »Der Kampf ums Brot« jüngst festgestellt hat.
Zwar ist die Gesamtmenge des weltweit produzierten Getreides in den vergangenen 50 Jahren um 350 Prozent gestiegen. Doch die globale Getreideproduktion pro Kopf, die über Jahrhunderte stetig wuchs, ist seit Mitte der achtziger Jahre gesunken. »Wir erleben derzeit eine epochale Veränderung auf dem globalen Nahrungsmittelmarkt: Die Nachfrage übersteigt erstmals wieder seit langer, langer Zeit das Angebot«, schreibt Hirn.

In der Nahrungsmittelkrise 2007 und den Hungerrevolten des Frühjahres 2008, die fast die gesamte Peripherie des Weltmarktes erfassten, haben sich die Folgen bereits deutlich gezeigt. Die Umstellung auf Biokraftstoffe, die Nutzung von Getreide als Futtermittel für die Fleischproduktion und die zunehmende Zerstörung der Subsistenzwirtschaft bzw. der Übergang zu bewässerungsintensiven Monokulturen erschweren den tagtäglichen Kampf ums Überleben noch zusätzlich. Derzeit hungern 900 Millionen Menschen, die Zahl dürfte weiter steigen.
So kann es kaum überraschen, dass insbesondere die Erfahrungen der Jahre 2007 und 2008 zu einer noch größeren Konkurrenz um die Agrarflächen der Welt geführt haben. »Der Slogan ›in die Landwirtschaft investieren‹«, konstatiert ein Bericht der NGO Grain vom Oktober 2008, »ist bei praktisch allen Behörden und Experten, die mit der Lösung der Nahrungsmittelkrise beauftragt sind, zu einem Glaubensbekenntnis geworden. Die Explosion von Landraub im großen Stil ist in diesem Zusammenhang zu sehen.«
In China macht die Agrarfläche lediglich neun Prozent des Territoriums aus, Japan importiert 60 Prozent seiner Nahrungsmittel, und in den arabischen Staaten ist diese Quote gewöhnlich noch höher. Diese und andere Länder sehen im Zukauf von Ackerfläche die letzte Möglichkeit, eine rela­tive Nahrungssicherheit für ihre Bevölkerung gewährleisten zu können. Für die überwiegend noch von der Landwirtschaft lebende Bevölkerung in den Ländern, wo Boden gekauft wird, dürfte dies drastische Folgen haben. Im Grain-Bericht heißt es: »Diese Transaktionen verstärken eine exportorientierte Landwirtschaft. Sie fördern das Modell der Industrielandwirtschaft, das Armut schuf, Zerstörung der lokalen Systeme, diverse Verschmutzungen, Zerstörung der Umwelt und Verarmung der Biodiversität, Waldrodung und Bauernvertreibung bewirkte. Sie verschlimmern die Situation in allen betroffenen Ländern.« Vor allem aber wird die drastische Verteuerung der Lebensmittel, derzeit bereits zu beobachten, Millionen weiteren Menschen den Zugang zu Nahrung weiter erschweren.
Dass dies die Bodenspekulation im Finanzsektor fördert und zu weiteren Preissteigerungen führen wird, ist nur folgerichtig. Der Durchschnittskaufwert für Ackerland in Polen ist in den vergangenen acht Jahren bereits um fast 450 Prozent gestiegen. In anderen Ländern verhält es sich ähnlich. Zugute kommt den Investoren dabei, dass die Weltbank, ihre internationale Finanzgesellschaft und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) den Weg für diese Investitionen geebnet haben, indem sie mit mehr oder weniger starkem Druck die jeweiligen Regierungen dazu brachten, ihre Bodengesetze zu liberalisieren.
So war die Freigabe des Verkaufs von Agrarland eine Bedingung für die Teilhabe an den Finanzhilfen der Weltbank zur Bekämpfung der Nahrungsmittelkrise in Afrika in Höhe von 1,2 Milliarden Dollar. Hinzu kommt noch die notorische Korruption in vielen Staaten vor allem Afrikas, deren Oligarchien allzu häufig den Landverkauf neben der Entwicklungshilfe als unverzichtbare Bereicherungsquelle ansehen. So verscherbelte die vorletzte Regierung Madagaskars die Hälfte der nutzbaren Fläche zu einem Spottpreis an den südkoreanischen Konzern Daewoo, und in Äthiopien gewährt man ausländischen Investoren großzügige Steuernachlässe. Einer der größten Hedge-Fonds im Agrarbereich, das britisch-südafrikanische Konsortium Emergment, kann so Renditen von 30 Prozent versprechen.
Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos wurde im vorigen Jahr die Entwicklung des Weltagrarmarkts dementsprechend unter der Überschrift »Wird der Boden bald teurer als Öl?« diskutiert. Der Leiter des Workshops, der Bonner Agrarforscher Joachim von Braun, sprach von zunehmendem Landraub und mörderischer Konkurrenz um die immer knapperen Ressourcen. »Staaten, die wenig Wasser- und Nahrungsmittelressourcen haben«, sagte Braun, »wollen sich nicht mehr auf den Welthandel verlassen und kaufen nun in Entwicklungsländern Land, um ihre Versorgung zu sichern.« Diese würden in der Folge gezwungen sein, Nahrungsmittel zu immer höheren Weltmarktpreisen zu importieren.
Dass Jacques Diouf, der Generaldirektor der Welternährungsorganisation der Uno, kürzlich vor dem Heraufziehen eines »neokolonialen Systems« warnte, scheint vor diesem Hintergrund nicht übertrieben zu sein. Welche verheerenden Folgen die kapitalistische Lösung der Agrarfrage in den Kolonien hatte, beschreibt Steve Davis in »Die Geburt der Dritten Welt«. Die Wirkung der nun beginnenden »Umwälzung der Landwirtschaft« könnte vergleichbar katastrophal sein, zumal angesichts der weltweiten Überakkumula­tion auf die Bauern nicht einmal mehr die Verwandlung in Arbeiter wartet, sondern der Ausschluss aus der kapitalistischen Weltgesellschaft.