Neues Material über den Bürgerkrieg in Guatemala aufgetaucht

Das Ende des Schweigens

Ein neu entdecktes Polizeiarchiv ermöglicht es, im guatemaltekischen Bürgerkrieg begangene Verbrechen zu untersuchen. Ein Film dokumentiert nun die Arbeit mit diesem Archiv - zum Unwillen der Täter, die noch immer zum Establishment gehören.

Es war der längste Bürgerkrieg in Zentralamerika. 36 Jahre lang kämpften Guerillagruppen gegen diktatorische Militärregierungen. Obwohl von den Truppen der Juntas ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht wurden, wird der Konflikt als »Krieg niedriger Intensität« bezeichnet.
Die in diesem Konflikt begangenen Gräueltaten konnten zunächst nur aufgrund von Zeugenaussagen vor der UN-Wahrheitskommission nachvollzogen werden. Doch im Jahr 2005 wurde unverhofft das geheime Archiv der 1996 mit Abschluss des Friedensvertrags aufgelösten Nationalpolizei entdeckt. Nun stehen 80 000 Akten zur Verfügung, die den Staatsterror akribisch zeigt. Der Berliner Filmemacher Uli Stelzner dokumentiert die Arbeit der jungen Nachkommen von Guerilla-Angehö­rigen, die das Archiv auswerten, in seinem Film »La Isla. Archive einer Tragödie«. Der Film wird in Deutschland zunächst am 10. und 11. Mai auf dem 25. Internationalen Dokumentarfilmfestival in München zu sehen sein. In Guatemala-Stadt wurde er am vorvergangenen Wochenende vorgestellt, trotz der Versuche, die Aufführung zu verhindern.

»Ich sehe die wichtigste Funktion des Films darin, aufzuzeigen, was dieses Archiv für Guatemala bedeutet. Es gibt immer noch Menschen in diesem Land, die keine Ahnung haben, was während des Kriegs passiert ist, denen nicht bekannt ist, dass es eine systematische Repression von Seiten des Staates gegeben hat, die Tausenden das Leben kostete«, konstatiert José Domingo Montejo, der viele Jahre in der Ermittlungsabteilung des Menschenrechtsprokurats (PDH) gearbeitet hat. Auch er war unter den Zuschauern im Nationalpalast.
In Guatemala ist die Existenz des Archivs nach dessen Entdeckung zwar bekannt geworden, aber die Arbeit des PDH, dem es unterstellt ist, geht sehr langsam voran. Erst ein Zehntel der Akten wurde ausgewertet, viele Dokumente sind beschädigt und müssen rekonstruiert werden. Es wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, das gesamte Material zu erschließen. Stichproben zufolge ist jedoch davon auszugehen, dass rund 15 Prozent der Akten schwere Menschenrechtsverletzungen und politische Morde belegen.
Insgesamt 250 000 Personen wurden zwischen 1960 und 1996 getötet. Oft flohen die Einwohner indigener Gemeinden aus dem Hochland Guatemalas geschlossen nach Mexiko. Rund 45 000 Menschen wurden von Polizisten verschleppt und gelten noch immer als »verschwunden«. Viele wurden nach den Folterungen über dem offenen Meer oder Vulkankratern aus Hubschraubern geworfen. »Darüber gab es immer Gerüchte, aber jetzt gibt es Zahlen und Verzeichnisse von den Tätern selbst«, berichtet José Domingo, der selbst Anfang der neunziger Jahre unter Lebensgefahr oppositionelle Schüler und Studenten organisierte.

»Das Archiv liefert uns die Beweise, dass eindeutig der Staatsapparat und seine Angehörigen selbst Auftraggeber von Verbrechen waren. Die Aktenberge bieten ausreichende Möglichkeiten, Beweismittel für Gerichtsprozesse zusammenzustellen. Eine Reform des geltenden Amnestie­gesetzes sollten die Menschenrechtsorganisationen und auch die Angehörigen, die bisher nicht organisiert sind, nun vorantreiben. Ich halte eine Modifikation dieser Gesetzgebung für eine nötige und auch durchaus realistische Forderung«, erklärt Rechtsanwalt Domingo. Viele Täter gehören noch heute zum politischen Establishment in Guatemala. »Eine ganze Reihe angesehener Politiker hat eine blutige Vergangenheit, die sie disqualifiziert, wichtige Posten in diesem Land innezuhaben. Ihre Vision, Guatemala in eine blühende Zukunft zu führen, wird von ihrer eigenen Vergangenheit dekonstruiert.«
Dabei bezieht sich der junge Anwalt vor allem auf Otto Pérez Molina. In alten Archivaufnahmen aus dem Ausland, die der Film »La Isla« zeigt, steht Molina als junger Offizier zwischen ermordeten Bauern. Bisher hat er jede Beteiligung an den Massakern geleugnet. Der General im Ruhestand war während des Bürgerkriegs lange Jahre Chef des militärischen Geheimdienstes und Generalinspekteur des Heeres. Im Jahr 1996 unterzeichnete er den Friedensvertrag als Repräsentant des Militärs. Er gründete die ultrarechte Patriotische Partei und kandidierte 2007 mit einem Programm der »Zero Tolerance« gegen Kriminalität für die Präsidentschaft, wurde aber vom derzeitigen Präsidenten Alvaro Colom in einer Stichwahl geschlagen. Im kommenden Jahr will sich Pérez Molina erneut zur Wahl stellen.
Zuvor aber werden viele Menschen die Gelegenheit haben, etwas über seine Vergangenheit zu erfahren. In diesem Jahr soll der Film »La Isla« von zahlreichen NGO und an Universitäten gezeigt werden. Bislang herrschte Schweigen hinsichtlich des Bürgerkriegs. »Es kostet große Überwindung, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen«, sagt José Domingo, der viele Familienangehörige und Überlebende rechtlich beraten hat. »Doch so schrecklich sie auch sein mag, es ist der erste Schritt, persönlich und dann auch gesellschaftlich Frieden zu schließen. Viele Menschen konnten nicht wirklich trauern, da sie ihre Angehörigen nie begraben konnten. Die Hoffnung, aber auch eine schreckliche Ungewissheit blieb über Jahrzehnte bestehen. All das Wissen und die Gewissheiten, die das Archiv nun bringt, werden die guatemaltekische Gesellschaft verändern und den Anstoß zu einem neuen Umgang mit der Vergangenheit geben.«

Die Beweise für Verbrechen und die Namen der Täter sind in den Aktenbergen zu finden.Visuell erfassbar und für jeden zugänglich macht das Thema jedoch der Dokumentarfilm von Uli Stelzner. Deshalb wurde versucht, die Uraufführung durch eine Bombendrohung und dann durch die Kappung der Stromversorgung des Gebäudes zu verhindern. Doch die drei Vorstellungen im Nationalpalast konnten trotz der Sabotageversuche stattfinden, über 6 000 Menschen sahen den Film.
»Es war nicht auszuschließen, dass gewisse Kräfte in Guatemala die Vorführung des Films auf die ihnen vertraute Weise zu verhindern suchen«, konstatiert Uli Stelzner. »Am ersten Abend herrschte eine dementsprechend angespannte Stimmung. Es nahmen vor allem Mitglieder der Zivilgesellschaft teil, Menschen, die heute in den Nichtregierungsorganisationen arbeiten und zumeist selbst in der Guerilla waren oder dieser nahestanden. Somit betraf sie der Film direkt, und es herrschten Schweigen und Betroffenheit«, erzählt er. »Anders bei der letzten Vorführung, wo vor allem Menschen aus der Nachkriegsgeneration das Publikum stellten, die ja auch die Protagonisten des Films sind. Junge Leute, die nicht selbst erlebt haben, was passiert ist, aber doch darum wissen und es erahnen, nicht zuletzt, wenn sie mit der Nachkriegsgewalt auf der Straße und in den zerrütteten Familien konfrontiert sind. Unter ihnen wurde viel diskutiert.«