Eine Ausstellung über die Arbeit von Otto Neurath in Wien

»Das moderne Reklameplakat zeigt uns den Weg!«

Er war ein marxistischer Philosoph, der von der Werbeindustrie lernen wollte: Otto Neurath gilt als Vater des Piktogramms. Eine Wiener Ausstellung widmet sich jetzt seinem Werk.

Unter seine Briefe setzte Otto Neurath stets die Zeichnung eines Elefanten. Eine nicht unpassende Selbststilisierung, befand die New York Times, denn der Philosoph, Ökonom, Stadtplanungsaktivist und Museumsdirektor wog immerhin gut 200 Pfund, und klug und weise, Eigenschaften, die dem massigen Tier gerne zugeschrieben werden, war er auch. Vor allem aber interressierte sich der jüdisch-marxistische Philosoph für sprachüberschreitende Ikonozität und gilt heute als Erfinder der universalistischen »Wiener Methode der Bildstatistik«, die später unter dem Namen »Isotype« (»International System of Typographic Picture Education«) bekannt wurde.
Im Wiener Museum für angewandte Kunst wird jetzt das Wirken dieses Vielseitigen gewürdigt. Wie so viele andere Angehörige der jüdischen Intelligenz der Stadt, derer man sich nach der intellektuellen Hochphase in den Zwanzigern ein Jahrzehnt später fast vollständig entledigt hatte, ereilte auch Neurath das Österreich-typische Schicksal der »Unbedankten«, so Kuratorin Karin Pokorny-Nagel. Die Ausstellung konzentriert sich auf Neuraths Auseinandersetzung mit Schrift und Bild sowie mit Leitsystemen und deren Anwendung in Architektur und Stadtentwicklung, ausgehend von der Wiener Siedlerbewegung der zwanziger Jahre, für die sich Neurath begeistert einsetzte. Seine Arbeit hat bis heute Einfluss auf die Architektur, Philosophie, Wirtschaft, Stadtplanung und das Grafikdesign. Die Schau, die zuvor schon im Schindler House in Los Angeles zu sehen war, trägt den vielleicht nicht ganz glücklich gewählten Titel »Gypsy Urbanism«.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges sowie dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie suchten Tausende von Menschen Wohnraum in der unterversorgten Stadt und besetzten daher »nach Zigeunerart« öffentliche Grundstücke im Grüngürtel. Neurath, der zuvor in der Münchner Räterepublik Präsident des Zentralwirtschaftsamtes gewesen war und nach deren Niederschlagung aus der Haft an Österreich ausgeliefert worden war, kooperierte eng mit Architekten wie Franz Schuster und Margarete Schütte-Lihotzky, die 1926 die berühmte, zeitökonomisch organisierte »Frankfurter Küche« designen sollte. 1920 wurde er Generalsekretär des Verbandes für Siedlungs- und Kleingartenwesen und versuchte so im sozialdemokratischen Wien, das in dieser Zeit von massiven Investitionen in den neuen sozialen Wohnbau profitierte, Strukturen für kommunitaristische Wohnformen zu etablieren.
Die Ausstellung präsentiert bisher nicht gezeigte Filmaufnahmen der selbstorganisierten Siedler. Der kurze Film »Die grüne Stadt Rosen­thal bei Wien« (1924) zeigt Hasen und Schweine beim einträchtigen Futtern, herumtollende Hunde und Kinder, viel Grün sowie eine basisdemokratische »Funktionärsversammlung«. Die Schwarz-Weiß-Bilder offenbaren das utopische Potential der damaligen Kleingärtnerbewegung. Auch die Entwürfe für kleine, funktionale Fertigbauhäuser, die per Katalog bestellt werden konnten, zeigen den fortschrittlichen Charakter der Siedlungsbewegung. Die geräumige »Wohnküche Type N. 7«, entworfen von Schütte-Lihotzky für das »Kernhaus Type 7«, hat bis heute Modellcharakter.
Doch nicht nur die Versorgung der gesamten Bevölkerung mit angemessenen Wohnquartieren war Neurath, dem Mitglied des positivistischen Wiener Kreises und Verfechter einer »Einheitswissenschaft«, ein Anliegen, sondern auch der gleichberechtigte Zugang zur Bildung. In einem Aufsatz zum Thema »visuelle Erziehung« schreibt er: »Wann wird das Mittelalter zu Ende sein? Erst dann, wenn alle an einer gemeinsamen Kultur partizipieren können und die Kluft zwischen gebildeten und ungebildeten Menschen verschwunden ist.«
Schon damals erkannte Neurath die wachsende Bedeutung der Wissensproduktion gegenüber der Warenproduktion sowie den Stellenwert des Visuellen. Das von ihm 1925 gegründete Österreichische Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum zeigte auf Schautafeln Statistiken und historische Daten in einer für Laien verständlichen Form. Die mobilen Präsentationsformate waren der Ausgangspunkt für eine neue, gemeinhin verständliche, internationale Bildsprache.
Die Demokratisierung von Wissen wollte Neurath durch die Verbreitung von Bildmaterial fördern. »Der moderne Mensch«, befand er, »ist durch Kino und Illustrationen sehr verwöhnt. Einen großen Teil seiner Bildung empfängt er in angenehmster Weise, zum Teil während seiner Erholungspausen, durch optische Eindrücke. Will man gesellschaftswissenschaftliche Bildung allgemein verbreiten, so muss man sich ähnlicher Mittel der Darstellung bedienen. Das moderne Reklameplakat zeigt uns den Weg! Naturwissenschaftliche Vorgänge lassen sich gewissermaßen unmittelbar abbilden!«
So sollte sich die Bevölkerung durch den Konsum von Bildern durchaus nützliches und politisches Wissen aneignen. Während Museen immer etwas »Totes« anhafte, sie nur in die »Vergangenheit« wiesen und statt auf den »Willen« einzuwirken die »Schaulust« bedienten, so Neurath in der Definition seiner Ziele, solle das moderne Museum »ein Lehrmuseum sein, ein Lehrgang, der mit derben Mitteln arbeitet.« Gemeinsam mit dem Grafiker Gerd Arntz, der dem sozialkritischen Künstlerkollektiv Kölner Progressive angehörte, entwickelte er ein visuelles Kommunikationssystem, das die Darstellungsformen der Statistik revolutionierte.
Statt auf unübersichtliche Tortendiagramme zu setzen oder schwer nachvollziehbare Größenvergleiche zu bemühen, führte Neurath die mengenlogische Darstellung ein: Eine größere Anzahl von darzustellenden Einheiten wird nicht durch ein größeres Symbol, sondern durch eine größere Anzahl von Figuren dargestellt. »Menschengruppen werden wirklich durch Menschengruppen dargestellt und Produktionsmengen wirklich durch die relative Anzahl ihrer Abbilder«, so Neurath in einem Aufsatz von 1930. Wenn nun also in einer Bildstatistik eine Gruppe von 10 000 Streikenden in Deutschland einer Gruppe von 100 000 Streikenden in Frankreich gegenüber gestellt werden sollte, so würde mit der Isotype-Methode für Deutschland ein einzelnes Figürchen stehen, das 10 000 Streikende verkörpert, für Frankreich folglich derer 10.
Auch wenn die sprachenunabhängig verständlichen Isotype-Piktogramme frei von künstlerischer Subjektivität gestaltet sein sollten, so ist ihr Design dennoch nicht gänzlich objektiv, vielmehr verraten sie das politische und soziale Engagement der Gestalter. Die 100 Tafeln aus dem 1930 publizierten Atlas »Gesellschaft und Wirtschaft« verfolgen, so die an der Merz-Akademie lehrende Kulturwissenschaftlerin Kathrin Busch, »in sozialkritischer Absicht den Anspruch, vermittels bildlicher Darstellung statistischer Daten gesellschaftliche Zusammenhänge zu veranschaulichen, um gleichermaßen zur politischen Bildung wie zur Umgestaltung sozialer Missverhältnisse beizutragen. Erklärtes Ziel ist es, mithilfe verständlicher Repräsentationen gesellschaftlicher Tatsachen soziale Veränderungen zu bewirken«. Streiks und Aussperrungen werden durch eine geballte rote Faust dargestellt, die sich auch heute noch gut als Plakette in Arbeitskämpfen machen würde.
Diese »antisubjektive Darstellung gesellschaftlicher Machtverhältnisse« ist es, die das visuelle System für Kunstschaffende wie Alice Creischer und Andreas Siekmann heute noch interessant macht. 2004 stellten Creischer und Siekmann mit Studierenden der Universität Leuphana im Kunstraum Lüneburg eine Aktualisierung des Bildatlasses her. »Die Aktualisierung des Atlasses soll eine Art polemische Aneignung sein – einerseits als eine Re-Inszenierung dieser Form von künstlerischem und politischem Engagement und andererseits als eine bewusste Entgegensetzung zu der scheinbaren Objektivität von wissenschaftlichen Statistiken in der Prognose und Beurteilung gesellschaftlicher Verhältnisse, die oft nur ideologische Beipflichtungen zu den Intentionen ihrer Auftraggeber sind.« So wurden auf der neu gestalteten Bildtafel »Ökonomische Ungleichheit 2001« beispielsweise die Wohlhabenden als relaxende Golfer gezeichnet, die Mittelschicht als brav arbeitende Angestellte und die Habenichtse als Konsumpflichtige mit Einkaufstüten.
Es ist ein wenig schade, dass die Rezeption Neuraths keinen Eingang in die Ausstellung gefunden hat. Um dieser Rezepitionsgeschichte sowie dem Werk Neuraths in all seinen Facetten gerecht zu werden, brauchte es schon eine umfangreichere Ausstellung. Immerhin wurde jetzt ein Anfang gemacht.

Otto Neurath: Gypsy Urbanism. Österreichisches Museum für angewandte Kunst, Wien. Bis 5. September