Der Wahlkampf in Großbritannien

Ein drittes Pferd geht ins Rennen

Seit Jahrzehnten wechseln sich in Großbritannien Labour Party und Konservative an der Regierung ab. Das könnte sich im Mai ändern.

Wenn die Briten am 6. Mai ein neues Unterhaus wählen, könnte es Überraschungen geben. Nach einem eher schleppenden Vorlauf ist in den vergangenen zwei Wochen Bewegung in den Wahlkampf gekommen. Der Grund dafür ist Nick Clegg, der Spitzenkandidat der oppositionellen Liberaldemokraten. Nach überzeugenden Auftritten in zwei Fernsehduellen mit Premierminister Gordon Brown von der Labour Party und David Cameron, dem Vorsitzenden der Konservativen Partei, wird Clegg inzwischen sogar als potentieller Premierminister gehandelt. Wahlanalysten sprechen in den britischen Medien nun von einem »Rennen mit drei Pferden«.
Das ist ungewöhnlich, denn wegen des Mehrheitswahlrechts hatten bislang nur die beiden größten Parteien, Labour und die konservativen Tories, eine Chance, die Regierung zu übernehmen. Die Liberaldemokraten sind die drittgrößte Partei in Großbritannien. Obwohl sie einige Stadt- und Gemeinderäte kontrollieren und bei früheren Parlamentswahlen normalerweise rund 20 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnten, gelten sie als eine Partei ohne Aussicht auf einen Wahlsieg auf nationaler Ebene.
Dies hat sich mit dem ersten Fernsehduell der Spitzenkandidaten geändert. Nick Clegg trat souverän auf und glänzte neben einem gewohnt zerknirscht wirkenden Premierminister Gordon Brown und einem eher langweiligen David Cameron. Ausschlaggebend für den rasanten Aufstieg Cleggs sind verschiedene Gründe. Er profitiert von der Schwäche der Konkurrenz. Gordon Brown ist sehr unpopulär, obwohl ihm durchaus gewisse Stärken zuerkannt werden, vor allem in Fragen der Wirtschaftspolitik. Doch haben viele Briten am Ende der dritten Amtsperiode genug von der Labour-Regierung und wollen eine Veränderung.

Cameron hat einen Wandel versprochen, doch er hat es bisher nicht geschafft, die Briten davon zu überzeugen, dass er der richtige Premierminister wäre, um ihn herbeizuführen. Trotz seiner oft moderaten Aussagen gelingt es ihm offenbar nicht, die »politische Mitte« für sich zu gewinnen. Bestimmte Pläne der Konservativen wie etwa die Steuererleichterungen für Spitzenverdiener sowie für Ehepaare, nicht aber für Menschen, die in anderen Partnerschaften leben, lassen viele Briten bezweifeln, ob er so moderat ist, wie er wahrgenommen werden möchte.
Die britischen Liberaldemokraten sind, anders als die deutsche FDP, in vielen Politikbereichen linksliberal, daher sind sie für abtrünnige Labour-Wähler eher eine Alternative als Cameron. Die Liberaldemokraten lehnten den Irak-Krieg ab und wollen die britischen Nuklearwaffen abschaffen. In Fragen von Bürgerrechten und Umweltschutz sind ihre Positionen am ehesten mit denen der deutschen Grünen vergleichbar. Als Reaktion auf die Krise fordern die Liberalen eine Reform des Finanzsektors, einschließlich der Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken. In vielen Punkten stehen die Liberalen links von Labour.
Sie profitieren aber auch vom Überdruss der Briten angesichts eines politischen Systems, in dem sich seit dem Zweiten Weltkrieg die Regierungen der Konservativen und der Labour Party abwechseln. Das britische Wahlsystem soll vor allem maximale Stabilität geährleisten, dies hat die Entstehung einflussreicher neuer Parteien in den vergangenen 60 Jahren, anders als im Rest Europas, nahezu komplett unterbunden.
New Labour hatte bei Tony Blairs Regierungsübernahme im Jahr 1998 Reformen versprochen, unter anderem eine Demokratisierung des Oberhauses und die Einführung eines repräsentativeren Wahlrechts. Doch davon hat die Partei in zwöf Jahren ihrer Regierungszeit wenig verwirklicht. Wegen des Skandals um dubiose Abrechnungspraktiken im vergangenen Jahr ist das Ansehen der Parlamentarier weiter gesunken. Weit mehr als die Konservativen unter Cameron, die sich vehement gegen substantielle Reformen des politischen Systems sträuben, scheinen in dieser Situation die Liberaldemokraten die Partei der Veränderung und des Neuanfangs zu sein.

Nicht zuletzt ist Clegg selbst sehr populär. Er erschien in den Fernsehdebatten nicht nur viel telegener und gewandter als seine beiden Konkurrenten, er bewies mit seinem Detailwissen auch Sachkenntnis und profitierte überdies von seinem Status als Außenseiter. Medienkommentatoren haben ihn bereits als britischen Obama bezeichnet. Ähnlich wie der amerikanische Präsident in seinem Wahlkampf setzt Clegg nun alles daran, die Briten davon zu überzeugen, dass er tatsächlich gewinnen kann und change möglich ist. Immer mehr Briten scheinen ihm das zu glauben.
Nach der ersten Fernsehdebatte stiegen die Umfragewerte für die Liberaldemokraten um zehn auf rund 30 Prozent, auf dieser Höhe haben sie sich vorerst stabilisiert. Derzeit scheint es ziemlich sicher, dass die Liberalen zumindest Labour in absoluten Stimmenanteilen übertreffen werden. Labour aber muss die starken Liberalen am wenigsten befürchten, denn wegen des Mehrheitswahlrechts bekommt die Partei mit den meisten Stimmen nicht unbedingt die meisten Sitze. So wäre es möglich, dass erfolgreiche Liberale in erster Linie die Sitze konservativer Abgeordneter gewinnen, während die Labour Party einigen Prognosen zufolge als drittstärkste Partei die meisten Wahlkreise gewinnen könnte.
Eine absolute Mehrheit der Sitze für eine Partei, eigentlich der Standard nach britischen Parlamentswahlen, gäbe es dann allerdings nicht. Labour wäre auf die Unterstützung der Liberalen angewiesen, um weiter regieren zu können. Was in Deutschland völlig normal ist, nämlich die Bildung einer Koalitionsregierung, kommt in Großbritannien selten vor. Das letzte Mal gab es eine Koalition in den siebziger Jahren, damals regierte Labour mit den Liberalen. Während sich bei der Labour Party zunächst eine gewisse Vorfreude über die Möglichkeit einer progressive coalition auszubreiten schien, haben sich inzwischen auch Skeptiker zu Wort gemeldet.

Die Briten seien es nicht gewohnt, von Koalitionen regiert zu werden, gab Erziehungsminister Ed Balls zu bedenken. Sicher ist, dass die Liberaldemokraten einige harte Forderungen an Labour stellen würden, vor allem bezüglich einer Reform des Wahlrechts. Doch ein repräsentativeres System könnte Labour bei den folgenden Wahlen viele Sitze kosten.
Während man wahrscheinlich bereits vor den Wahlen über eine Koalition verhandelt, wird die öffentliche Auseinandersetzung von den Parteien und ihren Spitzenkandidaten sowie den Medien schärfer geführt. Nach Cleggs schnellem Aufstieg brachten in der vergangenen Woche gleich vier konservative Tageszeitungen Artikel heraus, die angebliche Skandale des liberalen Kandidaten aufzudecken versprachen.
Brown bezeichnete Cleggs Vorschläge zu Einsparungen im Verteidigungshaushalt und zu einer Amnestie für illegale Flüchtlinge als unrealistisch und politisch unreif. Cameron sagte, dass jede Stimme für die Liberalen es wahrscheinlicher mache, dass die Labour-Regierung im Amt bleibe und nur die Konservativen echten Wandel bringen könnten. Die neuste Idee für den Wandel, die von den Konservativen auf Wahlplakaten propagiert wird, ist die Forderung, Sozialhilfeempfängern die Unterstützung zu entziehen, falls sie nicht arbeiten wollen.