Kinder, die was wollen, kriegen was auf die Bollen

Sigmund Freud kannte nicht nur den Wunsch, sondern auch die Versagung, nicht nur das Lust-, sondern auch das Realitätsprinzip. Das macht ihn nicht zu dem Dunkelmann, als den ihn Gilles Deleuze sieht. In seinen Gesprächen mit Claire Parnet, die kürzlich auf DVD erschienen sind, schimpft der witzige Philosoph auf Freud und offenbart so einen ungehemmten Voluntarismus.
Die Psychoanalytiker, sagt er, sind Priester, die Kastration ist ihre Erbsünde. Sie verengen die Welt auf Papamamakind; beispielhaft der Fall des kleinen Hans. Der hat ein Lastpferd stürzen und verzweifelt strampeln sehen. Kurz später entwickelt der Fünfjährige, der nach Freuds Urteil »von ungewöhnlich gutmütigem und zärtlichem Wesen« ist, eine Furcht vor Pferden. Der Vater wendet sich an den »geehrten Herrn Professor« mit Berichten und der Bitte um Hilfe.
Über die berühmte Schrift Freuds, die daraus entstanden ist, empört sich Deleuze. »Das Pferd als Bild für den Vater! Die ticken doch nicht richtig.« Wenn ein Kind zum ersten Mal das blutige Drama erlebt habe, das sich damals auf den Straßen abspielt, Pferde, die stürzen und ausgepeitscht werden, habe es doch bestimmt an alles Mögliche gedacht, bloß nicht an den Vater. »Man deliriert über die Welt, nicht über seine kleine Familie.«
Der Fall liegt jedoch anders. Nicht Freud, sondern der Vater des kleinen Hans selbst will in der Furcht vor beißenden Pferden die vor der Kastration erkennen. Der Amateur-Analytiker pflegt mit dem Stenoblock an Hansens Bett zu sitzen, seine Träume zu notieren und ihn mit Fragen über seinen »Wiwimacher« zu belästigen. Freud, der das eine »Inquisition« nennt, kommt zu komplexeren Ergebnissen. Für ihn schließt das Bild des Pferdes vieles in sich, auch die »Bewegungslust«, auch die Schwangerschaft der Mutter, gerade seine »Vieldeutigkeit« macht es wirksam. Allerdings – damit hat Deleuze Recht – spielt die Kastrationsdrohung eine Rolle und bleibt die Analyse strikt in der »kleinen Familie«.
Das ist überhaupt das Interessanteste daran. Es handelt sich um eine liberale Familie, die ohne Zwang erziehen will und die es doch an subtilem Zwang nicht fehlen lässt. Die Mutter droht dem vorwitzigen Jungen scherzhaft, ihm sein kleines Ding abschneiden zu lassen, der Vater erwähnt beiläufig, der Schutzmann kümmere sich um unartige Kinder. Mag also Hans angesichts des armen Pferdes deleuzianisch deliriert und sich eine Welt gewünscht haben, in der Pferde nicht ausgepeitscht werden, bleibt doch bestehen: Kinder, die was wollen, kriegen was auf die Bollen. Wer das Haus nicht kennt, findet nicht hinaus. Und Analyse kommt vor Utopie.