Der alternative Klimagipfel in Bolivien

Muttertag in Cochabamba

Der Einladung des bolivianischen Präsidenten Evo Morales zum alternativen Klimagipfel folgten 20 000 Menschen aus 130 Staaten. Das Abschlussdokument enthält radikale Forderungen, aber auch eso­terische Formulierungen. Im kommenden Jahr soll ein globales Referendum über Klimawandel und Kapitalismus abgehalten werden.

»Das kapitalistische System weltweit ändern? Wählen Sie jetzt!« So könnte eine der Fragen beim weltweiten Referendum am 22. April 2011, dem »Tag der Mutter Erde«, aussehen. Die Abhaltung eines Referendums über die zum Umweltschutz nötigen Maßnahmen war eine der zentralen Forderungen der »Weltkonferenz der Völker über den Klimawandel und die Rechte der Mutter Erde«, die vom 20. bis 22. April in Cochabamba in Boli­vien stattfand.
Die Idee zu dieser Konferenz geht auf den Protest des bolivianischen Präsidenten Evo Morales gegen den Klimagipfel in Kopenhagen im vergangenen Dezember zurück. Morales hatte den führenden Industrienationen vorgeworfen, auf Kosten und unter Ausschluss der Entwicklungsländer Entscheidungen zu treffen. Überdies seien die beschlossenen Maßnahmen nicht weitreichend genug und nicht verbindlich. Die bolivianische Regierung unterzeichnete daher auch nicht den Kopenhagen Accord, der unter anderem vorsieht, die globale Erwärmung auf zwei Grad zu begrenzen und einen »Klimafonds« zu schaffen.
Einige wenige Industrieländer sollen nicht länger über das Schicksal der gesamten Menschheit bestimmen. Morales lud stattdessen soziale Bewegungen, Klimaaktivisten, Gewerkschafter und Repräsentanten von NGO, aber auch von Regierungen zum Alternativgipfel ein. Die Menschen sollten selbst entscheiden, wie mit dem Problem des Klimawandels umzugehen sei. Um die Erde zu retten, sei eine Kooperation von Regierungen und Basisbewegungen notwendig.
Über 20 000 Teilnehmer aus 130 Ländern folgten Morales’ Aufruf, und über 70 Staaten schickten ihre Repräsentanten. Die bolivianische Regierung erhoffte sich durch die Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen eine bessere Legitimation ihrer Forderungen, sie bot im Gegenzug ein Forum für einen »wahrhaft demokratischen« Prozess und versprach mehr Einfluss auf die internationale Politik. Die Ergebnisse der Konferenz sollen in den Verhandlungstext eingebracht werden, den Morales beim nächsten offiziellen UN-Klimagipfel im Dezember im mexikanischen Cancún vorgelegen will.

Eindeutig machte Morales in seiner Eröffnungsrede den Kapitalismus für den Klimawandel verantwortlich. In Zeiten, in denen im besten Fall nur gegen bestimmte »kapitalistische Auswüchse« gewettert wird, ist dies aus dem Munde eines Staatspräsidenten bemerkenswert. Auch bei den Teilnehmern des Alternativgipfels, die in 17 verschiedenen Arbeitsgruppen unter anderem über Ernährungssicherheit, Klimaflüchtlinge und Biodiversität diskutierten, schien über diese Analyse weitgehend Einigkeit zu bestehen.
Im Gegensatz zu vielen NGO, die in Kopenhagen vertreten waren, beteiligten sich die meisten Arbeitsgruppen in Cochabamba nicht an der Ausarbeitung von schwammigen Zielen im Klimagipfelprozess, sondern formulierten weiterreichende Forderungen und verwarfen falsche Lösungen. So lehnte die Arbeitsgruppe zu Wäldern den Emissionshandel und die Förderung von Monokulturen im Rahmen von Aufforstungsprojekten vehement ab. »Uns wollen sie in Waldhüter verwandeln, während sie selbst weiter den Planeten zerstören«, brachte der bolivianische Vizepräsident García Linera das problematische Verhältnis zwischen Industrie- und Entwicklungsländern in einer Grundsatzrede auf den Punkt. Er wandte sich auch gegen die Romantisierung von indigenen »Naturvölkern«.
Die Konferenzteilnehmer kamen größtenteils aus Lateinamerika und Afrika und somit aus Gegenden, die bereits die lebensbedrohlichen Konsequenzen des Klimawandels in Form von Überschwemmungen, Dürren und Ernteausfällen zu spüren bekommen, denen es aber, anders als den meisten Industrieländern, an Geld für kompensatorische Maßnahmen fehlt. In der Abschlusserklärung warnten sie, die Zahl der Klimaflüchtlinge könne auf eine Milliarde steigen, derzeit seien es bereits 50 Millionen.
Auf die Ziele und Maßnahmen, die auf den bisherigen Klimagipfeln diskutiert wurden, wollten sich die Konferenzteilnehmer nicht verlassen. So weisen sie in der Abschlusserklärung darauf hin, dass bereits eine Erderwärmung um zwei Grad verheerende Folgen haben würde. Die Verkürzung der Klimadebatte auf ein Ringen um bestimmte Erwärmungsgrade verschleiere zudem den wahren Grund des Problems: das kapitalistische System und die Unterwerfung von Natur und Menschen unter die Kapitalakkumulation. Sie fordern daher einen Systemwandel und die Herstellung von »Harmonie und Gleichgewicht zwischen Natur und Menschen«. Für ein harmonisches Verhältnis zur Natur sei Gleichheit zwischen den Menschen erforderlich.

Statt unendlichen Wachstums wird als Vorbild für den erstrebten Umgang mit Mensch und Natur das indigene Konzept des »guten Lebens« angeführt. Gefordert wird auch die Aufnahme einer universellen »Erklärung des Gemeinwohls der Mutter Erde und der Menschheit« in die UN-Charta. Weitere zentrale Forderungen des Abschlussdokuments sind die Anerkennung der Schuld der Industrieländer am Klimawandel und eine entsprechende Wiedergutmachung. Die Einrichtung eines internationalen Klimagerichtshofs, vor dem Individuen, Unternehmen oder Regierungen wegen »Umweltverbrechen« angeklagt werden können, wird ebenfalls angestrebt. In einem weltweiten Referendum soll dann die Menschheit im kommenden Jahr über Fragen zum Systemwandel und zur Kürzung von Militärbudgets zugunsten des Umweltschutzes sowie über die Schaffung eines Tribunals für Klimagerechtigkeit abstimmen können.
Treffende Analysen des Kapitalismus und sozialistische Ansätze vermischen sich in der Abschluss­erklärung mit esoterisch anmutenden Formulierungen über die »spirituelle Beziehung zu Mutter Erde«. Auch das Konzept des »guten Lebens« kann als Verzichtsideologie interpretiert werden. Abgesehen von diesem gewöhnungsbedürftigen Problemzugang, wurden auf der Konferenz jedoch einige radikale Forderungen verhandelt, und noch auf keiner internationalen Konferenz wurde die »Klimadebatte« so kritisch geführt. Darauf zu hoffen, die Klimakrise könne mit Hilfe geheimnisvoller Marktkräfte gelöst werden, wie es sonst auf den Klimagipfeln propagiert wird, ist zudem nicht minder esoterisch, als von »Mutter Erde« und ihren Geschöpfen zu sprechen.
Dennoch ist es fraglich, wie sinn- und wirkungsvoll die geforderten Maßnahmen sein könnten. Ein weltweites Referendum wird nicht nur schwer durchzufühen sein, es bleibt auch unklar, wie die geforderten Maßnahmen verwirklicht werden könnten. Und wer entscheidet beim Klimatribunal, welche »Umweltverbrechen« noch als vertretbare Kollateralschäden des Produktionsprozesses gelten und welche nicht?
Viele der genannten Forderungen der Abschluss­erklärung gehen auf die Initiative der bolivianischen Regierung zurück. Insgesamt ist es schwierig zu beurteilen, wie sehr sie beim Abschlussdokument das Sagen hatte und welche Ideen und Forderungen tatsächlich »von der Basis« kamen. Obwohl Morales die Wirkungslosigkeit von Konferenzbeschlüssen und die undemokratische Entscheidungsfindung auf UN-Ebene kritisiert, beziehen sich viele der propagierten Lösungen dann doch wieder auf die internationale Diplomatie.

Widersprüche finden sich auch zwischen der bekundeten Sorge um »Mutter Erde« und dem bolivianischen Anteil an der Beschleunigung des Klimawandels sowie zwischen der indigenen Rhetorik und dem Umgang mit Bevölkerungsgruppen, die Großprojekten im Weg stehen. Boliviens primärer Energieverbrauch beruht zu über 80 Prozent auf fossilen Energieträgern, und der Export von Erdgas macht den Großteil der Staatseinnahmen aus. Kritiker der Infrastrukturprojekte der bolivianischen Regierung mussten sich in ­einer eigenen Arbeitsgruppe außerhalb des offiziellen Programms besprechen. Sie forderten ein Ende des »Extraktivismus«, eines Entwicklungsmodells, das auf der Ausbeutung von fossilen Rohstoffen beruht, und den Stopp aller Staudammbauten und sonstiger Großprojekte, die indigene Gruppen bedrohen.
Derzeit gibt es im ärmsten Land Südamerikas jedoch keine Alternative zum Erdgasexport, der immerhin Geld für staatliche Sozialausgaben bringt. Bolivien hat sonst keine konkurrenzfähigen Wirtschaftssektoren und teilt damit das Schicksal vieler ehemaliger Kolonien, die Lieferanten billiger Rohstoffe sind. Tatsächlich kann nur ein Systemwandel diese Abhängigkeit beenden. Bis dahin könnte Morales aber durchaus auch auf die gelobte demokratische Basis hören, schließlich scheint auch in Bolivien die Sonne auf »Mutter Erde«, und der Wind weht über sie.