Die Ermittlungen in der Kunduz-Affäre

Nur töten, nicht ausgraben

Die Bundesanwaltschaft hat Oberst Klein auftragsgemäß in jeder Hinsicht entlastet. Die Fakten sprechen jedoch dafür, dass er bei der Bombardierung nahe Kunduz zivile Opfer bewusst in Kauf nahm.

Einen Mangel an kultureller Sensibilität kann man der Bundesanwaltschaft nicht nachsagen. Die Zahl der Opfer des Luftangriffs auf zwei Tanklastwagen am 4. September 2009 kann sie nicht feststellen, weil angeblich »Exhumierungen und Obduktionen zur Überprüfung von Zeugenaussagen angesichts der gesellschaftlichen und religiösen Gegebenheiten in Afghanistan ausgeschlossen« sind. So sensibel ist die Kriminalpolizei von Kabul nicht, sie führt Obduktionen durch. Der muslimische Rechtsgelehrte Mohammad Naim Saei verkündet ungerührt: »Der Islam gestattet eine Autopsie, wenn sie notwendig ist.« Fast alle seine Kollegen teilen diese Ansicht, denn die Beerdigungsvorschriften können zugunsten höherwertiger Rechtsgüter zurückgestellt werden.
Von höherwertigen Rechtsgütern versteht die Bundesanwaltschaft mehr als vom islamischen Recht. Die Behörde gibt an, sie müsse die »grundlegenden staatsschutzspezifischen kriminalpo­litischen Ansichten der Regierung« berücksichtigen. Die Generalbundesanwältin Monika Harms ist eine »politische Beamtin«, ihre Aufgabe ist es nicht, der Regierung Probleme zu bereiten.

Den Arbeitsauftrag hatte Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg formuliert: »Wir brauchen ein Höchstmaß an Rechtssicherheit für unsere Soldaten.« In der vergangenen Woche hat Harms das Ermittlungsverfahren gegen Oberst Georg Klein offiziell eingestellt. Sie kann nun nicht nur sagen: »Mission accomplished.« Sie hat das Plansoll sogar übererfüllt.
Man hätte sich ja damit begnügen können, Klein von dem Vorwurf freizusprechen, er habe ein Kriegsverbrechen begangen. Diese Bewertung ist juristisch korrekt, denn das internationale Recht schützt Zivilisten nur, wenn sie unter sich sind. Selbst wer als Geisel genommen wird, darf getötet werden, sofern dies nicht »außer Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil steht« (Paragraf 11, Absatz 3 Völkerstrafgesetzbuch). Klein kommt die gängige Rechtsauffassung zugute, der zufolge »Kollateralschäden« akzeptabel sind.
Die Bundesanwaltschaft war jedoch offenbar der Ansicht, sie müsse Klein bescheinigen, er habe alles richtig gemacht. Angeblich habe er »nicht mit der Anwesenheit geschützter Zivilisten rechnen« müssen und war daher »nicht verpflichtet, Warnhinweise vor dem militärischen Angriff zu geben«. Auch habe er sich »trotz des besonderen Drucks« für einen »Einsatz mit der kleinsten zur Verfügung stehenden Bombengröße und -anzahl entschieden«.
Worin der »besondere Druck« bestanden haben soll, ist nicht recht klar. Immer wieder wurde die Bombardierung mit der Behauptung gerechtfertigt, die Taliban hätten die beiden Tanklastwagen, die sie am 3. September entführt hatten, für einen Anschlag benutzen können. Doch steckten die Fahrzeuge in einem Flussbett fest, eine unmittelbare Gefahr bestand also nicht.
Der Nato-Bericht stellte Medienberichten zufolge fest, dass Klein und sein Fliegerleitoffizier mit dem bizarren Kampfnamen Red Baron auf den Abwurf einer größeren Zahl von Bomben drängten, während die Piloten der US-Flugzeuge zu mäßigen versuchten. Dass Klein den Rat der Piloten ablehnte, die versammelten Menschen mit Tiefflügen zu warnen, bestreitet nicht einmal die Bundesanwaltschaft. Auch der Verstoß gegen die Einsatzregeln der Isaf wird eingeräumt. Deren Untersuchung ergab Medienberichten zufolge, dass Klein behauptet hatte, die deutschen Truppen hätten Feindberührung. Das war schlicht eine Lüge. Doch wenn ein deutscher Offizier von der Bundesanwaltschaft begutachtet wird, benötigt er keinen Verteidiger mehr.
Von Ermittlungen kann in diesem Fall schwerlich gesprochen werden. Die Bundesanwaltschaft hat sich allein auf die Angaben des Beschuldigten sowie anderer deutscher Offiziere gestützt und belastendes Material aus Berichten von NGO und der Nato konsequent ignoriert. Das ist selbst für eine Staatsschutzbehörde ziemlich dreist.
Der parlamentarische Untersuchungsausschuss zur Kunduz-Bombardierung mag noch interessante Einblicke in die intrigante Welt der Ministerialbürokratie gewähren, die offenen Fragen wird er jedoch nicht klären. So wird behauptet, ein afghanischer Informant vor Ort habe mehrere Taliban-Führer identifiziert. Er muss der Gruppe sehr nahe gewesen sein, um bei Nacht einen bärtigen Turbanträger vom anderen unterscheiden zu können. Doch seltsamerweise entging ihm die Anwesenheit der zahlreichen Zivilisten.

Machte der Informant einen Spaziergang im Mond­schein und stieß zufällig auf die Taliban? Wahrscheinlicher ist, dass er frühzeitig über die Vorgänge informiert worden war. Die Anwesenheit des Informanten sowie die Tatsache, dass die Task Force 47, eine Eliteeinheit der Bundeswehr zur Bekämpfung der Taliban, an der Operation beteiligt war, deuten darauf hin, dass es sich um eine geplante Aktion handelte. Das würde erklären, warum Klein auf einer sofortigen Bombardierung bestand. Es war zu erwarten, dass die Taliban-Führer sich um die erbeuteten Tanklastwagen versammeln würden. Dass sich auch Zivilisten um die Fahrzeuge scharten, die nach Angaben Ajmal Samadis von der NGO Afghanistan Rights Monitoring von den Taliban zu Hilfsdiensten gezwungen wurden, war dann für Klein vielleicht kein hinreichender Grund, auf einen Luftangriff zu verzichten.
Andere Szenarien sind denkbar, doch im Gegensatz zu den Ausführungen der Bundesregierung und ihrer Anwaltschaft erklärt diese Theorie die bekannten Fakten. Dass »unsere Jungs« keineswegs rücksichtsvoller sind als die »amerikanischen Rambos«, passt allerdings nicht zum Bild, das die deutsche Propaganda vermitteln möchte. Es war jedoch die US-Militärführung, die zu dem Schluss kann, man dürfe nicht alles tun, was das Kriegsrecht erlaubt. US-General Stanley McChrystal verordnete strengere Regeln für Luftangriffe, Klein hat diese Regeln gebrochen.
Bei seinem Besuch in Deutschland in der vorigen Woche übte McChrystal keine öffentliche Kritik. Doch bei Militäroperationen in der Region Kunduz, die an Bedeutung gewinnt, weil hier die Nachschubroute nach Zentralasien gesichert werden soll, verlässt er sich lieber auf die eigenen 5 000 Soldaten. »Was die Gesamtstrategie der USA in Kunduz ist, das erfahren die Deutschen nicht«, berichtet Spiegel online. Nachdem die Koalitionsregierung in den Niederlanden wegen des Streits über den Afghanistan-Krieg zerfallen ist, müssen die USA jedoch auch die Deutschen hofieren.
Während SPD und Grüne nun dem »Stabilisierungseinsatz« nachtrauern, den sie einst beschlossen haben, bemüht Guttenberg pathetische Floskeln. »Tod und Verwundung sind Begleiter unserer Einsätze geworden«, sagte er bei der Trauerfeier für vier getötete Soldaten. Die zivilen Opfer hat er damit wohl nicht gemeint. Man muss es daher als Drohung verstehen, wenn er hinzufügt: »Sie werden es auch in den nächsten Jahren sein – wohl nicht nur in Afghanistan.«