Arbeitskampf und Lohnentwicklung

Standort, Standort über alles

Streiken – wo kämen wir da hin? Statt auf Arbeitskampf setzen die deutschen Gewerkschaften auf die friedliche Betriebs­gemeinschaft. Und die längst von keiner Gewerkschaft mehr vertretenen Prekären der Kreativwirtschaft wählen FDP und hoffen, morgen doch noch zu den Gewinnern zu gehören. Die wirklichen Gewinner freut das, denn die Lohnkosten sind in Deutschland vergleichsweise niedrig. Den europäischen Nachbarn geht die deutsche Konkurrenz deshalb zunehmend auf die Nerven.

Wo sind sie nur geblieben, die streikenden Arbeiter, wütenden Gewerkschafter, aufmüpfigen Belegschaften? Zum Kapitalismus gehören seine Gegner schließlich wie der Teufel zum Weihwasser. Beide verfolgen zwar gegensätzliche Interessen und sind schlecht aufeinander zu sprechen, wissen aber zugleich, dass keine Seite ohne die andere existieren kann. Die Kapitalisten sorgen für die Akkumulation, die Gewerkschaften dafür, dass dabei noch genügend Konsumenten übrig bleiben. Ohne Fegefeuer gibt es keine Erlösung. Was aber geschieht, wenn der Kontrahent verschwindet, das Kapital also fröhlich akkumuliert, aber niemand mehr da ist, der die Grenzen setzt? Klassenkampf war gestern, und wenn es ihn noch gibt, dann erfolgt er nur von oben. Die Entwicklung hat sich schleichend vollzogen, und wenn man einen willkürlichen Anlass nennen will, dann eignet sich dafür vielleicht der letzte große Streik der IG Metall.
Wer sich erinnern mag: Im Sommer 2003 versuchte die Metallgewerkschaft noch einmal, ein großes Rad zu drehen. In Deutschland war gerade die sogenannte Standortdebatte voll im Gang, der Arbeitsmarkt galt als verkrustet, unbeweglich, überreguliert. In fast allen Zeitungen übertrafen sich Kommentatoren mit düsteren Szenarien. Ohne tiefgreifende Reformen werde Deutschland bei der Globalisierung nicht mithalten können und bestenfalls als verlängerte Werkbank Asiens enden. Plötzlich konkurrierten selbst schwäbische Kleinunternehmer mit Großfabrikanten aus Schanghai, die angeblich doppelt so viel leisten konnten und nur einen Bruchteil der Löhne dafür zahlten. Als Reaktionär galt nun, wer an gewohnten Rechten festhielt – Worte wie Urlaubsgeld oder Festanstellung gewannen beinahe einen sozialistischen Unterton.
Wer nicht bereit war, alte Errungenschaften preiszugeben, setzte sich fast dem Vorwurf des Vaterlandsverrats aus – die IG Metall durfte dies bei ihren Streikbemühungen in aller Deutlichkeit erleben. Ihr Versuch, die 35-Stunden-Woche und begrenzte Lohnerhöhungen durchsetzen, endete nach vier Wochen mit einer historischen Niederlage. Zum ersten Mal brach die größte Industriegewerkschaft der Welt einen Streik ohne jedes Ergebnis einfach ab. Vordergründig wegen der unnachgiebigen Haltung der Arbeitgeber. Tatsächlich aber wurde der Kampf um die öffentliche Meinung verloren. Kritiker denunzierten die Arbeitsniederlegung als eine Art Dolchstoß gegen den Standort und die Gewerkschaft quasi als fünfte Kolonne der Chinesen.

Die Kapitulation zeigte zugleich, dass eine Gewerkschaftsführung nicht mutiger sein kann als ihre Mitglieder. Diese waren nicht bereit, eine härtere Konfrontation einzugehen. Lieber eine innerbetriebliche Vereinbarung als ein Tarifvertrag, der vielleicht doch Jobs kosten könnte, lautete deren Credo. Damals tauchte in den Zeitungen mehrfach die eigenwillige Metapher vom »atmenden Unternehmen« auf, als sei eine Fabrik ein gefräßiges Lebewesen, das Menschen aufsaugt und wieder ausspuckt.
Inzwischen sind in Ostdeutschland nur noch ein Drittel aller Unternehmen an einen Tarifvertrag gebunden, im Westen gerade mal die Hälfte. Der Rest arbeitet mit betrieblichen Vereinbarungen oder hält sich eine Belegschaft, die auf Abruf arbeitet – je nachdem, wie das Unternehmen gerade »atmet«. Arbeitskämpfe sind in der neuen Betriebsgemeinschaft nicht vorgesehen. Dafür Stundenlöhne, die kaum zum Leben reichen.
Die Reform des Arbeitsmarktes, von der rot-grünen Bundesregierung noch eingeleitet, übertraf in der Konsequenz vermutlich sogar die Hartz-IV-Gesetze und untergrub das traditionelle Tarifmodell. Die Schaffung von Mini-Jobs und Ich-AGs die enorme Ausweitung von Leiharbeit haben mittlerweile zu einer Drei-Klassen-Arbeitsgesellschaft geführt. In der Hierarchie weit oben halten sich noch die Restbestände der alten Arbeiteraristokratie, festangestellte Facharbeiter und leitende Angestellte sowie unverzichtbare Spezialisten. Anschließend folgt das Heer der Leiharbeiter, Teilzeit- und Honorarkräfte. Ganz unten bewegen sich die Mini-Jobber, Hartz-IV-Aufstocker und sogenannte Selbständige, die sich als moderne Tagelöhner verdingen müssen. Innerhalb weniger Jahre hat sich ein riesiger Niedriglohnsektor entwickelt, in dem die »atypischen Arbeitsverhältnisse« immer mehr zur Regel werden.
Löhne und Gehälter deutscher Unternehmen sind heute oft sehr niedrig, was wesentlich zu ihrem Exporterfolg beträgt. Doch spätestens mit der aktuellen Wirtschaftskrise hat sich herumgesprochen, dass die meisten Konkurrenten gar nicht in Ostasien, sondern in Frankreich, Großbritannien oder Italien sitzen. Wir sind wieder wer – zumindest in Europa. Dort hat die deutsche Betriebsgemeinschaft alles niederkonkurriert und mit ihren günstigen Waren überflutet.
Bei den EU-Staaten löst die Mischung aus preußischer Sparsamkeit und protestantischem Exporteifer wenig Begeisterung aus. »Deutschland nervt uns«, kommentierte kürzlich die französische Tageszeitung Le Monde. »Es ist der Musterschüler, der sich immer meldet und an die Tafel geht, um uns zu erklären, wie man es richtig macht.« Wie die meisten EU-Staaten leidet auch Frankreich unter einem hohen Handelsdefizit, das wesentlich auf die deutsche Exportpolitik zurückzuführen ist.

Zumindest geizt die Regierung in Berlin nicht mit guten Ratschlägen: Andere Länder sollen sich doch am harten Sparkurs ein Beispiel nehmen und ebenfalls den Gürtel enger schnallen. Stellt sich die Frage, wer dann noch deutsche Produkte kaufen soll. Offenbar orientiert sich die Regierung in Berlin an den Vorstellungen eines ökonomischen Patriotismus, wie ihn der konservative französische Politiker Philippe de Villiers seit Jahren propagiert. Dieser passt jedenfalls gut zur deutschen Betriebsgemeinschaft, die bereit ist, für die Handelsbilanzen fast jedes Opfer in Kauf zu nehmen – und wenn die Verluste im Ausland liegen, umso besser.
Denn niemanden verachten die Deutschen mehr als die Verlierer im europäischen Konkurrenzkampf, wie sich derzeit am Beispiel Griechenlands zeigt. »Jetzt flehen die Pleite-Griechen uns an, wollen unser Geld zur Lösung ihrer Finanzprobleme. Aber: Merkel lässt sie zappeln!« kommentiert die Bild-Zeitung zufrieden.
Vielleicht ahnen ihre Leser bereits, dass ihnen bald Ähnliches blühen könnte. Mehr als 90 Prozent der Erwerbstätigen erwarten Umfragen zufolge, dass Armut und sozialer Abstieg zunehmen, die meisten Deutschen gehen nicht davon aus, dass sie ihren Lebensstandard halten können. Auf die Idee, dass die unten einfach zu wenig verdienen, weil die oben zu viel für sich behalten, kommt fast niemand mehr. Wo das Geld geblieben ist, ist kein Geheimnis. Die reichsten zehn Prozent aller volljährigen Personen verfügten im Jahr 2007 über 61,1 Prozent des gesamten Vermögens – während mehr als jeder vierte Erwachsene über kein Vermögen verfügte oder verschuldet war. In den vergangenen Jahren hat die Konzentration des Vermögens weiter zugenommen. Dafür ist der Anteil der Löhne am gesamten Einkommen wieder auf das Niveau von 1960 gesunken. Fast unbeachtet blieb zudem einige Wochen zuvor die Meldung, dass den Finanzbehörden zweistellige Milliardenbeträge entgehen, weil ihnen die Mittel für Steuerfahnder fehlen.
Doch zur Empörung führen nicht diese Missstände, vielmehr richten sich Wut und Verachtung gegen jene, die schon verloren haben. Gegen keine gesellschaftliche Gruppe fänden sich so viele Vorbehalte in der Gesellschaft wie gegen Langzeitarbeitslose, heißt es in einer aktuellen Studie des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer. Zugleich erhalten die wenigen Gewinner eine Anerkennung, die ihnen vermutlich selbst schon peinlich ist. Glaubt man den aktuellen Mediendebatten, dann mühen sich sogenannte Leistungsträger redlich, den allgemeinen Wohlstand zu mehren, nur um anschließend festzustellen, dass er von der sogenannten Unterschicht verjubelt wird.
Vor allem die Mittelschicht, also die Masse an Lohnempfängern mit durchschnittlichem Einkommen, ist offenbar überzeugt davon, dass die Verlierer auf ihre Kosten leben. Nichts fürchtet die Mittelschicht mehr als den sozialen Abstieg, nichts verlangt sie mehr, als endlich selbst zum oberen Teil der Gesellschaft zu gehören. Dennoch stimmt sie mehrheitlich für eine Politik, die auf Dauer ihre eigene Verarmung fördert. Von den Steuersenkungen profitiert vornehmlich die Oberschicht, soweit sie überhaupt noch Steuern zahlt, während die Reallöhne seit Jahren zurückgehen und öffentliche Dienstleistungen reduziert werden.
Diese Durchschnittsverdiener erleben mit »apathischer Wut« (Heitmeyer), wie der gesellschaftliche Reichtum neu verteilt wird und sie selbst dabei leer ausgehen. Das Verhalten der Mittelschicht erinnert an das aus der Kriminalistik bekannte Phänomen, dass sich Geiseln mit ihren Entführern identifizieren – mit dem Unterschied, dass sich in diesem Fall die Opfer noch selbst die Fesseln anlegen und ihren Peinigern nur die besten Motive unterstellen, denn im Grunde würden sie gerne selbst deren Rolle übernehmen.

Die Identifikation mit der Betriebsgemeinschaft funktioniert jedoch auch deshalb so gut, weil in den modernen flexiblen Arbeitsstrukturen immer schwieriger zu bestimmen ist, wer hier eigentlich die Kommandos gibt. Innerhalb weniger Jahre hat sich die alte fordistische Arbeitswelt fundamental verändert. Die alte Anweisung von Henry Ford, dass die Arbeiter »nur das Blech« zu bewegen hätten, verkehrte sich in die Aufforderung, selbst aktiv den Produktionsprozess mitzugestalten. In den neuen Fabriken agieren selbständige Unternehmenseinheiten, die ihre Leistungen vom Arbeiter bis zum Manager ständig optimieren.
Der moderne Kapitalismus ist auch deshalb erfolgreich, weil er zumindest teilweise auf die Bedürfnisse der Beschäftigten eingeht. Während das alte Fabrik-Kommando fast ausschließlich auf Disziplinierung und standardisierten Abläufen basierte, ermöglicht die flexible Produktion nicht nur einen neuen Rationalisierungsschub, sondern individualisiert auch die jeweiligen Betriebsabläufe – und entzieht damit tendenziell auch den Gewerkschaften ihre Existenzberechtigung. Denn diese stellten zwar die grundsätzlichen Kategorien des Kapitalismus – Arbeit, Markt, Geld – nie in Frage, leiteten ihre Legitimation aber dennoch daraus ab, dass zwischen Kapital und Arbeit widersprüchliche Interessen bestehen, die vermittelt werden müssen.

Der moderne Arbeitnehmer kennt jedoch nur noch sich selbst. Gewerkschaften als Repräsentanten kollektiver Interessen werden ebenso zu einem Relikt aus einem vergangenen Jahrhundert wie der Flächentarifvertrag oder bezahlte Überstunden. Dafür gibt es Mitbestimmung pur: »Vermutlich sind die Stechuhren nur verschwunden, weil die modernen Angestellten sie verschluckt haben. Sie stecken in den Bäuchen, ganz tief drinnen, und von dort unten tönt immer wieder die gleiche Frage: Hast du wirklich schon genug getan?« heißt es in einer Reportage in der Zeitschrift Neon über den Alltag der postmodernen Angestellten.
Die Avantgarde dieser neuen Beschäftigungsverhältnisse bilden die Beschäftigten in der sogenannten Kreativwirtschaft, in den neuen Medien, der Software- und Designerbranche. Arbeit ist bei ihnen nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern ein wesentliches Element auf dem Weg zur Selbstverwirklichung. Eigenschaften wie Kreativität, Diskursivität und Spontaneität haben sich zu Schlüsselbegriffen neuer Management-Methoden verwandelt. Dieser »neue Geist des Kapitalismus« konnte Fähigkeiten für den Arbeitsprozess aktivieren, die bislang dem privaten Bereich vorbehalten waren. Die Offenheit gegenüber Neuem, das Gespür für informelle und unkonventionelle Lösungen und vieles andere mehr ist direkt der Ideewelt der früheren Alternativkultur entnommen, die einst angetreten war, die starren Regeln der Fabrikgesellschaft zu überwinden.
Tatsächlich hat sich daraus ein neuer kreativer Sektor entwickelt, in dem sich unkonventioneller Lebenswandel und bürgerliche Karriere durchaus miteinander verbinden lassen. »Es war einmal sehr einfach, zwischen der bürgerlichen Welt des Kapitalismus und der bohemischen Gegenkultur zu unterscheiden«, resümiert der Publizist David Brooks in seinem Buch »Die Bobos – Bourgeoise Bohemians« durchaus wohlwollend. »Der Bourgeois arbeitete für ein großes Unternehmen, trug blaue oder grauen Anzüge und ging in die Kirche. Die Bohemiens waren Künstler und Intellektuelle mit wilder Kleidung und hypertoleranten Werten. Heute aber sind Bürgerliche und Bohemiens völlig ununterscheidbar.«
Der Kapitalismus Marke Eigenbau unterscheidet entsprechend auch nicht mehr zwischen Arbeit und Freizeit, Selbstausbeutung und Selbstverwirklichung, zwischen Freunden, Kollegen und Konkurrenten. Der schöne Schein einer selbstgewählten Erwerbsbiographie kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die materielle Realität oft äußerst bescheiden ist. »Knapp 60 Prozent der Erwerbstätigen in der Kreativwirtschaft leben unter dem einkommenssteuerpflichtigen Grundbetrag von 7 664 Euro«, heißt es in einem aktuellen Bericht des Wirtschaftsrates des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, einer der Hochburgen der neuen Kreativen.
Im Einkommen unterscheidet sich diese sogenannte kreative Klasse zumeist kaum von schlecht bezahlten und gering qualifizierten Arbeitern. Doch auch wenn sie materiell zur Unterschicht gehören, fühlen sich die neuen Selbständigen habituell als Vorreiter der bürgerlicher Gesellschaft, als die eigentlichen Liberalen. Doch so tolerant sie gegenüber anderen Lebensstilen sind, so ignorant verhalten sie sich gegenüber allem, was nicht zu ihrem aktuellen Projekt gehört.

»›Bürgerlich‹ ist zu einer Wunschidentität geworden, und damit zu einer Kategorie, die die oft prekären Lebensverhältnisse der kreativen Klasse mehr beschönigt als beschreibt«, kommentierte Harald Jähner in der Berliner Zeitung nach dem Wahlsieg von Merkel und Westerwelle im vergangenen Jahr. »FDP wählen, hieß deshalb für viele, sich selbst zu schmeicheln: mit seiner Stimme eine Zukunft für möglich zu halten, in welcher man selber herrscht und nicht die Banken, nicht die Konzerne; eine Welt, in der Gewerkschaften nur stören würden und die Globalisierung weit weg ist. Mein Haus, mein Block, mein Kollwitzplatz. Mein Notebook, meine Projekte, meine Künstlersozialkasse.«
Dumm nur, dass die Verhältnisse nicht so sind, wie die kreative Klasse es sich wünscht. Nicht nur die Gewerkschaften haben ihre besten Zeiten bereits hinter sich. Auch ihre selbsternannten Nachfolger, die Unternehmer in eigener Person, kommen immer schlechter über die Runden. Denn kaum ist eine Krise ausgestanden, zeichnet sich schon die nächste ab, die noch folgenreicher zu werden droht. Kaum sind die Bankenpleiten halbwegs abgewendet, ist der Staat mit einem gigantischen Haushaltsdefizit konfrontiert. Und gespart wird vor allem dort, wo voraussichtlich der geringste Widerstand zu erwarten ist: im Sozialbereich und bei den öffentlichen Dienstleistungen.
Vielleicht braucht der Kapitalismus keine Revolutionäre mehr, weil er auch deren Geschäft längst übernommen hat. Fast scheint es so, als verfolgt die Oberschicht insgeheim eine subversive Strategie, um in quasi bolschewistischer Kadermanier die eigenen Grundlagen abzuschaffen. Zumindest in Deutschland können sie sich sicher sein: Es wird sie niemand bei ihrer Arbeit stören.