Euro-Krise und deutscher Nationalismus

Zuchtmeister Deutschland

An Griechenland wird experimentiert, wie viel Diktat und Disziplinierung sich die Peripherie von den Mächten Kerneuropas gefallen läßt – allen voran von Deutschland. Doch die deutschen Bild-Leser, die heute den Griechen alles nehmen wollen, ahnen noch nicht, was noch auf sie zukommen wird, wenn 2011 die sogenannte Schuldenbremse greift.

Deutsche Manager, die in Griechenland Aufträge generieren sollen, klagen neuerdings darüber, dass ihre Kollegen aus anderen europäischen Staaten immer öfter betonen, »sie seien keine Deutschen und ihre Regierung wolle – anders als die deutsche – Griechenland ja helfen« (FAZ). Es geht eben nicht immer gegen den Amerikaner, manchmal ist auch der Deutsche dran, der nun zu spüren bekommt, dass der hässliche Deutsche keine Schimäre ist. Es gibt ihn wirklich. In allen Varianten, vom Kraftprotz bis zum Ekelpaket, von der Kanzlerin bis zum Bild-Leser. Bei einem Wahlkampfauftritt in Bocholt las Angela Merkel gleich allen Griechen die Leviten: »Ihr müsst sparen, Ihr müsst redlich werden, Ihr müsst euch ehrlich machen!« Mach dich ehrlich, Grieche! Wie das klingt aus einem deutschen Mund.
Der deutsche General, der 1943 in Kalavryta 700 Griechen exekutieren ließ, bezeichnete Griechen als »Nichtstuer, Schieber und Korrupteure«, ein »Sauvolk« sei es. Damals raubte man ihnen Geld im Wert von 476 Millionen Reichsmark (fünf Milliarden Euro, ohne Zinsen), um Rommels Feldzug zu finanzieren. Weder davon, noch von Reparationszahlungen für Besatzungsschäden haben die Griechen je einen Cent gesehen. Wenn die Kanzlerin den Griechen bei der nächsten Mogelei »das Stimmrecht entziehen«, der deutsche Außenminister ihnen bei Zuwiderhandlungen »sämtliche EU-Finanzmittel sperren« und der FDP-Abgeordnete Björn Sänger einen deutschen Pontius Pilatus in Athen stationieren will, kann die Welt sich glücklich schätzen, dass der Euro-Zuchtmeister Deutschland militärisch noch etwas schwach auf der Brust ist.

Seit 1945 wurden Staaten mehrere hundert Mal zahlungsunfähig, meistens ganz arme, aber auch Russland (1998) und Argentinien (2001). Die Agentur Moody’s untersuchte 13 Bankrotte zwischen 1998 und 2008. Durch Umschuldungen, bei denen Gläubiger – wie im zivilrechtlichen Vergleich – auf Forderungen zu verzichten haben, gingen im Durchschnitt zwei Drittel der Anleihe-Werte verloren. Argentinien stellte damals die Zinszahlungen ein, verfügte Einschnitte im Land, tauschte die alten Anleihen gegen neue um, die 70 Prozent weniger wert waren, dann bezeichnete Präsident Nestor Kirchner verärgerte Investoren als »Aasgeier«, die hätten wissen müssen, »dass sie in ein Spielcasino gehen«. Südamerikanische Präsidenten erzählen zwar viel Blödsinn, aber gegen den Hochmut der Deutschen wünscht man den Griechen schon etwas mehr Mut.
Staatspleiten kommen also ständig vor, aber zum ersten Mal gibt es eine im deutschen Herrschafts- und Währungsgebiet. Wohl deshalb erregt »Griechenland« die deutschen Gemüter wie ein zweites Stalingrad. Wie konnte Deutschland, das seine Währung hütet wie das Rheingold, dem zwei Währungsreformen schwerer im Magen liegen als zwei Weltkriege, das passieren? D-Mark-Nationalisten wussten immer, das Experiment mit dem Euro werde mal böse enden, wegen des Schlendrians in den Südprovinzen. Auch die Taz sieht fremde Kräfte wirken: Die USA, diese »von Anfang an erbitterten Gegner« des Euro, hätten über Ratingagenturen zur »Treibjagd auf den Euro« geblasen. Belegbar ist aber nur, dass die Deutschen den Euro nicht wollen. Bis heute spricht sich eine Mehrheit für die Rückkehr zur D-Mark aus.

Bild lässt Menschen mit einem Kind auf dem Schoß oder vor einem Feuerwehrauto fragen: »Warum retten wir diesen Griechen-Milliardär?« Wir! Das sind der Fischer Eyke Düwel aus Warnemünde, der nicht »wie die Griechen mit 60 in Rente gehen kann«. Er sagt: »Keinen Cent dürfen die kriegen!« Oder Vesile Güler aus Celle, die »überall Schlaglöcher« sieht. Feuerwehrmann Ronny Schuberth aus Schleiz in Thüringen lässt uns wissen: »Wir riskieren unser Leben«, verschweigt aber, was das mit Griechenland zu tun hat. Das Freibad von Marco Bing aus Schwerte müssen Bürger in ihrer Freizeit instand halten, aber »in Griechenland läuft es andersrum«, meint er. Ein anderer beklagt, dass »für alles im Ausland Geld da ist«. Aus solchen Erwägungen wollen etwa drei Viertel der Deutschen Griechen nichts geben.
Sie alle merken nicht, dass man ihnen mit der Immunisierung gegen die »griechische Krankheit« das Leben austreibt, um sie zu präparieren für die Vergesellschaftung der deutschen Schulden ab 2011. Das steht im Grundgesetz, als »Schuldensperre« gleich neben der Würde des Menschen. Die Linkspartei wird sich entscheiden müssen, ob sie lieber mitmacht oder sich dem Verdacht aussetzt, verfassungsfeindlich zu sein. Ab 2011 werden jedenfalls alle deutschen Sonderhaushalte, in denen die halbe Wirtschaftskrise schmort, ausgekippt. Ein großer Haufen Lug und Betrug, da werden selbst die Griechen staunen. Eyke Düwel und die anderen helfen mit, andere Staaten zu ruinieren, weil sie beim Abtrieb in den Niedriglohnsektor hinterher trotten. Nimmt man die unbezahlte Arbeitszeit, die perfekte Infrastruktur, tausend Dienstleistungen und willige Gemeinderäte dazu, ahnt man, warum Deutschland anderen Staaten die Produktion rauben kann. Griechenland bezog 2007 für acht Milliarden Euro deutsche Waren, lieferte aber nur für zwei Milliarden an Deutschland, es importiert drei Mal so viel (50 Milliarden), wie es exportiert. Dann kam die Krise, die Risikozinsen wurden in die Höhe getrieben, der Hahn war zu.

Aber Spekulanten sind nicht Verursacher der Krise, sondern deren Aasgeier. Griechenland ist idealtypisch für die vom Kapitalismus geschaffenen Disparitäten und Widersprüche, die durch ein gemeinsames Währungsdach verschärft werden. Kapitalstarke Zentren nutzen ärmere Regionen als Märkte für ihre Waren, gefährden durch die Wertabschöpfung aber deren Reproduktionsfähigkeit und bremsen dadurch ihre eigene Expansion. Der Euro nimmt weniger produktiven Zonen die Möglichkeit, ihre Waren durch Abwertungen zu verbilligen, sodass schwache und starke Produktivitäten ungehemmt konkurrieren, und in den Zentren sammelt sich immer mehr Kapital an, bei gleichzeitiger Entleerung der Peripherie. Die Aneignung fremder Mehrwertproduktion spiegelt sich im Exportüberschuss, der auch anzeigt, dass deutsche Steuerzahler vom Beschäftigungs- und Werttransfer profitieren und nicht etwa Zahlmeister der EU sind. Schäuble hat Recht, wenn er sagt, die Verteidigung der Euro-Zone sei »besser für Deutschland«. Dieselbe Dynamik hat übrigens Ostdeutschland nach Übernahme der D-Mark ruiniert, während sie Chinas Aufschwung – neben niedrigen Löhnen und der Arbeitsdisziplin – durch den unterbewerteten Renminbi ankurbelt.
Nachholende Entwicklungen sind auch unter Weltmarkt-Bedingungen möglich, wie Deutschland, Japan, Südkorea, Taiwan, China und Brasilien zeigen, sie gelingen aber nur »auf der Basis einer nationalen Organisation der Wirtschaft, die im Widerspruch zum Weltmarktsystem steht« (Paul Mattick). Alle Fälle stützten sich zur Ankurbelung der Exporte auf eine eigene Währung und auf nationale Schutzschirme gegen die Importe, die die Versorgung des Binnenmarktes aus eigener Produktion behindern. Meistens sorgt noch eine funktionale Diktatur für Disziplin und Streikverbot.

Ein Krieg hätte Griechenland helfen können. Wenn mit dem Iran etwas losgegangen oder der Nahe Osten explodiert wäre, wenn Russlands Marine im Schwarzen Meer hätte bleiben sollen, hätte man Griechenland als Aufmarschgebiet die Schulden erlassen. So begann Südkoreas Aufstieg. Die USA finanzierten im Korea-Krieg 70 Prozent des Verteidigungsetats und 50 Prozent der Staatsausgaben. Im Vietnam-Krieg wurde die Truppen-Stationierung mit der Verpflichtung entgolten, einen festgelegten Warenkatalog jahrelang aus Südkorea zu beziehen. Doch es kam kein Krieg, der Griechenlands Bankrott verhinderte.
Kein Zweifel, die Bundesregierung hat gezaudert. Angela Merkel wollte den Internationalen Währungsfonds (IWF) mit ins Boot holen, wegen dessen Erfahrung und dessen Geld, aber auch, um die Verantwortung mit »New York« zu teilen. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble setzte auf einen Europäischen Währungsfonds. Sie wollte bis nach der NRW-Wahl warten, er möglichst schnell den Spekulanten das Wasser abgraben. Man musste überlegen, ob Hilfspakete die produktiven Zonen in Mitleidenschaft zögen und Finanzjongleure zum Zocken einlüden. Die USA lassen zur Abschreckung hin und wieder Konzerne wie Lehmann baden gehen. Oder doch eine Umschuldung? Nein, zu riskant. Sie würde deutschen Banken schaden, voran wieder der Hypo Real Estate, die am meisten Griechenland-Anleihen hält, sie würde eine Flucht aus dem Euro und eine Kettenreaktion auslösen. Gerade jetzt, wo Anleger den Dollar wieder als sicheren Hafen entdecken.

Wer wäre im Falle eines Dominoeffektes der Nächste? Portugal? Vielleicht Spanien oder Irland? Warum nicht Deutschland, dessen Schulden sich auf 73 Prozent der Wirtschaftsleistung belaufen? Spaniens Schulden belaufen sich nur auf 53 Prozent, Portugal liegt gleichauf mit Deutschland. In Griechenland beträgt die Schuldenquote 115, in Italien 116, in den USA 83 Prozent. Japan ist mit 190 Prozent scheintot. Aber die Kreditwürdigkeit bemisst sich nicht nur daran: Wenn die Wirtschaftsleistung stimmt und die Bevölkerung Opfer hinnimmt, bleibt das Land solvent. »Uns Fischern hat man schon vor Jahren die Zuschüsse gestrichen«, sagt Düwel. Deshalb sollten auch die Griechen nichts kriegen. Wenn man ihm das Schiff wegnimmt, wird er den Portugiesen nichts geben wollen. Solche Männer sorgen dafür, dass Deutschland für zweijährige Staatsanleihen nur 0,8 Prozent und Portugal über fünf Prozent Zinsen berappen muss.
Während Merkel und Schäuble grübelten, verlor Frankreich, das auf 60 Milliarden Griechen-Anleihen sitzt, die Geduld. Der französische Haushaltsminister François Baroin mahnte: »Man darf auch nicht eine einzige Minute daran denken, dass die griechischen Verbindlichkeiten umgeschuldet werden!« Aus deutscher Sicht ist Griechenland ein kleiner Fisch. Deutschlands Banken haben Forderungen an Portugal von 30 Milliarden, an Griechenland von 33, an Italien von 125, an Spanien von 156 und an Irland von 173 Milliarden Euro. Erst wenn Spanien und Irland wackeln, droht der Absturz. Nun hat man sich auf 110 Milliarden für Griechenland geeinigt, davon 30 aus den Kassen des IWF und 80 aus Europa (22 aus Deutschland), um die Börsen zu beruhigen, den Ausstieg aus dem Euro zu stoppen und eine Kettenreaktion zu verhindern.
In Wahrheit gilt die »Griechenland-Hilfe« vor allem der Sanierung der eigenen Banken, denen der verbürgte Kredit zufließen wird. Griechenland selbst hat dabei die Zinsen zu tragen und wird einer »Rosskur« unterzogen, die den Brüningschen Notverordnungen gleichkommt. Beim Iran überlegt der Westen angeblich, wie die Führung zu treffen sei, ohne der Bevölkerung zu schaden. In Griechenland richten alle Maßnahmen sich gegen die Bevölkerung. Die Brüningsche Politik werde »dazu führen, dass man von einer Rezession in die Depression kommt«, prophezeit der Volkswirtschaftsprofessor Joachim Starbatty. Auch deshalb wird Griechenland seine Staatsschuld nicht vollständig bezahlen können. Eine Umschuldung wird vermutlich kommen. Griechenland hat in den kommenden Jahren 30 bis 40 Milliarden Euro pro Jahr zu tilgen, nimmt aber nur 48 Milliarden im Jahr ein. Deutschland und Frankreich wollen bis zum Crash noch einen Europäischen Währungsfonds installieren, der den IWF als Wächter ersetzt und das Insolvenzverfahren unter Eigenregie betreibt.

Warum diktiert Deutschland den Griechen Brüningsche Notverordnungen, die es zu Hause für untauglich hält? Die Antwort lautet: Griechenland hat seine Souveränität eingebüßt und ist zur Plünderung freigegeben. Der »Pariser Club«, die Versammlung der reichen Gläubiger-Staaten, verlangt sogar die Liquidation des Finanzvermögens. Dazu zählen auch Grundstücke und Gebäude. Die FAS fragt: »Ist die Akropolis, sind 3 000 griechische Inseln Verwaltungsmögen?« Oder sind sie Finanzvermögen und damit Teil der Beute? Was wäre in Deutschland los, wenn seine ­Urlaubsregionen unter den Hammer kämen? Frankreich holte sich den Schwarzwald, Russland die Ostseebäder und den Spreewald, die Schweiz das Allgäu, Chinesen säßen in den Kassenhäuschen vor der Kulturhauptstadt »Ruhr«. Während der Fußball-Weltmeisterschaft 1958 genügten Fangesänge »Heja-Heja-Sverige«, und Westdeutsche stürmten los, um Reifen der Autos mit schwedischem Kennzeichen zu schlitzen. Gut, die Zivilisierung kam seitdem voran, hat aber durch die Wiedervereinigung wieder einen Rückschlag erlitten.
Europa ist inzwischen das Risikogebiet des Weltkapitalismus. Während die Staatsdefizite in den 30 führenden Industrieländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) seit 2007 um das siebenfache stiegen, haben sie sich in der Euro-Zone ver­zwölffacht, ein Indiz für den Niedergang der mehrwerterzeugenden Wirtschaft. Wenn es im Kapitalismus nicht mehr um die Verteilung von Überschüssen geht, schrieb Karl Marx, sondern um die Verteilung von Verlusten, suche jede Nation das »Quantum an demselben zu verringern und dem anderen auf den Hals zu schieben«, und die übliche Konkurrenz verwandle sich »in einen Kampf der feindlichen Brüder«.
Zwar hat die nationale Regression heute nicht die Dimension der Epoche nach 1929, aber sie rast. Deutschland formiert sich. Die Krise habe »ein neues deutsches Selbstbewusstsein«, ein »nationales Verantwortungsgefühl zutage gefördert«, frohlockt Die Welt. Die Palette reicht vom Regionalismus der italienischen Lega Nord, die die »Erdfresser« im Süden nicht länger durchfüttern will – die Bild-Kampagne gegen Griechenland ist nichts anderes –, bis zum dramatischen Aufschwung des ungarischen Faschismus.

Vielleicht sind wir Zeugen des beginnenden Zerfalls der EU, die, bedrängt durch produktivere Blöcke und zerfleddert durch innere Nationalismen, zunächst wieder auf das von Gerhard Schröder und Jacques Chirac favorisierte Kern­europa zusteuert, mit der Bündnisachse »Paris-Berlin-Moskau« als Bollwerk gegen transatlantische und asiatische Konkurrenzen. Griechenland ist das Experimentierfeld für die Disziplinierung der schwachen Ränder, die das Kerneuropa nicht belasten sollen. Wie viele Notverordnungen lassen sich die Südeuropäer und die anderen, die folgen werden, bieten? Dass Deutschland sich dabei Feinde macht, wird einkalkuliert. Die FAZ empfiehlt ein dickes Fell: »Dass die deutsche Position von Ländern, für die Griechenland pars pro toto steht, neuerlich als Diktat empfunden werden muss, ist verständlich.« Das Diktat wird in den gebeutelten Staaten nicht nur sinnvolle Aufstände, sondern auch eine Art Abwehr-Nationalismus fördern.
In Deutschland wird die Propaganda noch viel Hass und Ekel einüben auf tanzende, singende, spielende, faulenzende und Wein trinkende Griechen, die ein Synonym für Südeuropäer sind, denn in der Dialektik von »griechischer Krankheit« und »germanischer Gesundheit« geht es um das lebendige Leben oder das zum Material gewordene Leben, das sich als Gewinn- und Verlustrechnung, am Ende als wandelnde Produktivität versteht, gegen die alles Lebendige unberechenbar und deshalb unwert ist. Feuerwehrmann Schuberth sagt: »Wir sind zuständig für 40 Kilometer der A 9. Jetzt wird die für den Abschnitt zuständige Polizeistation geschlossen.« Und das alles wegen der Griechen. Wo soll das noch hinführen?