Über den Band »Christian Kracht. Zu Leben und Werk«

Irony, over

Der Hype um die Dandy-Literatur Christian Krachts ist vorbei, jetzt beschäftigen sich die Germanisten mit seinen Büchern. Jan Süselbeck vermisst in dem von Johannes Birgfeld und Claude D. Conter herausgegebenen Sammelband zu Leben und Werk des Autors einen kritischen Blick auf den Literaten.

Der Literaturwissenschaft fehle es an »Stil«, deshalb könne sie einem Schriftsteller wie Christian Kracht nicht gerecht werden – so urteilte im vergangenen Jahr Mara Delius in der FAZ. Immerhin ist mittlerweile ein germanistischer Sammelband zu Kracht erschienen – allerdings im Verlag Kiepenheuer&Witsch, wo auch seine Romane publiziert werden. »Christian Krachts Stil«, heißt es bereits im Klappentext, »ist in seiner Eleganz, Ökonomie und Klarheit außergewöhnlich.«
Auch die Herausgeber Johannes Birgfeld und Claude D. Conter scheinen eher hagiografische Ziele zu verfolgen, wenn sie bereits in ihrem Vorwort zu der folgenden Eloge auf ihren Lieblingsautor ansetzen: »Krachts Texte erzählen Geschichten aus aller Welt und über die Weltgeschichte, sie sind reiche, vielschichtige Parabeln auf die Vergangenheit und die Zukunft der Menschheit. Auch deswegen gehört er zu den wichtigsten Vertretern der Gegenwartsliteratur. Kracht entfaltet ein Werk, dessen Konzeption einzigartig in der gegenwärtigen Literaturlandschaft ist. Kaum ein Autor ist so weltmännisch, kaum ein Autor arbeitet mit so radikalen Mitteln daran, die Welt zu verstehen und darzustellen.«
Spätestens hier beginnt man zu begreifen, warum Kracht auf seinen Websites den Band bewirbt. Im Großen und Ganzen sind hier nicht etwa kritische Wissenschaftler angetreten, um eine längst überfällige, einlässliche Interpretation von Krachts Werk anzuregen, sondern bloß Claqueure, die fest entschlossen zu sein scheinen, mehr oder weniger alles, was der Meister je schrieb, zu loben.
Lutz Hagestedt, der seinen Aufsatz den »Beiträgern von Tristesse royale« widmet, findet, die Literatur früherer Pop-Literaten wie Rolf Dieter Brinkmann und Hubert Fichte sei längst erledigt, ihre »Ideologie« habe »abgedankt«, ihre Literatur sei mit der Krachts sowieso nicht zu vergleichen. Krachts »Stilregister« erweise ihn »als unabhängigen Kopf, der sich in allen nur denkbaren Formen und Stilen ausprobiert und auf diese Weise sein innovatives Werk stiftet«. Offenbar ist dabei plötzlich auch von dem empirischen Autor die Rede und nicht mehr nur von seinen Texten: »Kracht ist offensichtlich weder (eigentlich) Pop-Autor noch (ausschließlich) Teil der rasch und routiniert erzählenden Nabelschau-Generation der 1990er Jahre.« Denn: »Dieser Schriftsteller hat Stil, und sein leises, dezentes und doch geistreiches Auftrittsverhalten zielt auf die Rücknahme der Rolle des Präzeptors, die sich mancher Intellektuelle gewöhnlich zumisst.«
Das klingt ein bisschen so, als ob sich polternde ideologiekritische Linke tendenziell rechthaberisch gäben und einfach nicht verstehen könnten, wie man sich zu benehmen habe, wenn man sich auf Augenhöhe mit Kracht bewegen wolle. Mit anderen Worten: Ohne Krawatte kommt der Kritiker hier nicht rein. Womit wir wieder bei der Argumentation der FAZ wären. Offenbar haben sich viele Beiträger des Pionier-Bandes tatsächlich überlegt, sie könnten die Deutungshoheit über Krachts Literatur erringen, indem sie dieses Mantra wiederholen und das Glaubensbekenntnis nachbeten, sie hätten »ohne ideologische Scheuklappen« erfasst, was das sei: Krachts »Stil«.
Man kennt das alles zur Genüge aus der dunklen Ecke der Ernst-Jünger-Apologeten, und möglicherweise findet sich auch deshalb (nicht nur) in Hagestedts Beitrag ein vielleicht nur auf den ersten Blick dysfunktionales Zitat aus Jüngers »Arbeiter«: Wer mit der ollen Ideologiekritik kam, der hatte auch bei den Jüngerianern schon seit jeher sein Eintrittsbillet in den Elite-Kreis verspielt – und an mancher Universität in Baden-Württemberg, wo die Zahl der Jünger-Forscher, der Jünger-Tagungen und der Jünger-Stipendien von Heidelberg über Marbach in Richtung Bodensee merklich zunimmt, wahrscheinlich sogar seine Karriere.
Der erhellende Text von Eckhard Schumacher handelt vom »omnipräsenten Verschwinden« Krachts und spürt dem seltsamen Versteckspiel nach, das nicht nur die Literatur, sondern auch die Internet-Auftritte dieses Autors bestimmt. Kracht hat es zweifelsohne vermocht, sich so sehr als schillernde und unnahbare Rätselfigur zu inszenieren, die den Literaturbetrieb an der Nase herumführt, dass selbst Literaturwissenschaftler Autor und Werk nur noch schwer auseinanderhalten können, obwohl sie schon im Pro­seminar gelernt haben, wie unabdingbar solche Unterscheidungen sind. Wie Krachts Romanfiguren am Ende der Texte verschwinden, gibt sich auch Kracht stets unangreifbar, verstellt, maskiert – und wohnte angeblich mal irgendwo in Asien, mal in Afrika, zuletzt in Argentinien. Er wolle dort in die Politik gehen und die Falkland-Inseln zurückerobern, was leider nicht auf friedlichem Wege möglich sein werde, erzählte er bei seinem Auftritt in Denis Schecks TV-Literatursendung »Druckfrisch« mit einem charmanten Lächeln.
Schumacher kommt nicht umhin zu vermuten, dass viele Postings, die über Kracht auf Websites und in Diskussionsforen zu lesen waren, auch vom Autor selbst hätten stammen können. Dieses Phantom lauert einfach überall, und gleichzeitig nirgends. Sein Gesamtkunstwerk aus Leben und Werk wäre wahrscheinlich dann perfekt, wenn sich Kracht umbringen würde und auf seinem Grabstein, neben dem Thomas Manns auf jenem Kilchberger Friedhof bei Zürich, den der Ich-Erzähler am Ende von »Faserland« so verzweifelt sucht, das Motto aus seiner Anthologie »Mesopotamia«, »Irony is over«, eingravieren ließe. Sicher würde es selbst dann wenig später wieder heißen, der Autor sei irgendwo in der Welt gesichtet worden, alles sei wohl nur ein Scherz gewesen. Wer weiß.
Wer jedoch Krachts Statements weniger lustig findet, macht sich im Ansehen der erlauchten Literaturwissenschaftler lächerlich, weil er nicht kapiert habe, dass die Sottisen dieses Autors sowieso nie ernst gemeint gewesen seien. Die persönlichen Aussagen Krachts glichen schließlich oftmals auffällig denen seiner zynischen Romanfiguren, die auch alle immer nur mit irgendwelchen Himmelfahrtskommandos verschwinden wollen und ihre eigene Auslöschung im Krieg oder im chinesischen Arbeitslager durchaus ambivalent beurteilen, wenn nicht sogar offen begrüßen. Wirkliche Provokationen könne es in diesem Verwirrspiel gar nicht mehr geben.
Alle Romane Krachts münden in totalitäre Ideenwelten: Der Protagonist in »1979«, einem Text, der sich der Kulisse der iranischen Revolution im selben Jahr bedient, ist seiner Schicki-Micki-Existenz schließlich mindestens ebenso überdrüssig wie der in »Faserland« und meint, er sei in jenem chinesischen Folterlager, in dem er am Ende landet, ein besserer Mensch geworden. Wobei er nicht zuletzt darüber froh ist, dort »endlich seriously abzunehmen«.
In der zusammen mit Ingo Niermann verfassten Verschwörungstheorien- und Klimakrisen-Satire »Metan«, einem von unverhohlenen rassistischen Vorstellungen nur so strotzenden Manifest, löscht am Ende ein Atombombenabwurf über dem Kilimanjaro wahrscheinlich alles bisherige menschliche Leben aus. »Ein neuerlicher Ausbruch, gepaart mit der nuklearen Verseuchung Ostafrikas, würde eine neue, allen heutigen Menschen überlegene Rasse schaffen. Die genetisch erstarrten und kulturell degenerierten Völker würden hinweggewischt, und eine neue Welt entstünde«, lautet der darwinistische Plan des Apartheidregimes. Israel, heißt es an einer nicht minder zynischen Stelle in »Metan«, habe während des Golf-Kriegs irakische Scud-Raketenangriffe simuliert, um eigene Bombardements auf irakische Reaktor-Attrappen zu rechtfertigen: »Die israelische Bevölkerung konnte leicht getäuscht werden, da sie – vor irakischen Giftgasangriffen gewarnt – die meiste Zeit in ihren Wohnungen und Häusern verharrte und sich nur mit von Angstschweiß beschlagenen Gasmasken nach draußen traute.«
In seinem letzten Roman »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« kehrt der Protagonist am Ende der Geschichte als ein – durch seine im Krieg erworbenen Führungsqualitäten berufener – Messias auf seinen afrikanischen Heimatkontinent zurück, in dem die ausgerechnet vom Schweizer Kolonialstaat »zivilisierten« Einwohner die modernen Städte wie auf Kommando verlassen. Sie finden Erlösung in einem Exodus zurück zur Natur, der an die Politik der Roten Khmer in Kambodscha erinnert, deren Steinzeitkommunismus ab 1975 Hunderttausende zu den sogenannten Killing Fields führte.
All das sollen jetzt selbstverständlich immer bloß intelligente Zitate sein, die irgendwie subversiv gemeint seien, glauben die Forscher. Allerdings werden diese reaktionären Ideen nirgends in den Texten Krachts konterkariert oder von irgendeiner externen Erzählinstanz in Frage gestellt. Glaubt man den Autoren des von Birgfeld und Conter herausgegebenen Bandes, die diese verstörenden Elemente und Motive in Krachts Literatur kaum kritisch beleuchten, sondern meist einfach nur maßlos bewundern, so handelt es sich hierbei um »radikale Erzählexperimente«, die sie wahlweise als »ästhetischen Fundamentalismus« (Oliver Jahraus), »posthistorische Ästhetik« (Claude D. Conter) oder auch »antihumanen Ästhetizismus« (Sebastian Domsch) einstufen. Offenbar soll hier eine neue literarische Avantgarde herbeigeredet werden, deren einziger Held Christian Kracht heißt.
Bei Jahraus ist sogar in bizarren Verklausulierungen davon die Rede, Krachts poetisches Programm ziele auf die »radikale Umsetzung des Schönen«, wobei der Autor den »politischen Fundamentalismus, wie er sich beispielsweise in Extremismus und Totalitarismus ausdrückt, als sein reflexives Spielmaterial« nutze. Conter wiederum meint, die genozidale Rassen-Utopie, die in »Metan« entworfen wird, laufe in Wahrheit auf eine Gedankenfigur hinaus, wie man sie auch schon aus Theodor W. Adornos und Max Horkheimers »Dialektik der Aufklärung« kenne.
Anstelle solch ungerechtfertigter Versuche einer Nobilitierung wäre es an der Zeit, Krachts Literatur endlich einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Denn die stets sehr minimalistische Sprache und die filmisch anmutenden, schnellen Schnitte in der Handlung der kolportagehaften Bücher erzeugen einen Sog, dem sich tatsächlich niemand so leicht entziehen kann. Selbst linke Leser dürften manche Ressentiments aus »Faserland« durchaus goutieren können – einem entgegen seinem Ruf als Bibel angeblich unpolitischer Poppertypen wie Florian Illies tatsächlich enorm konsumkritisch anmutenden Text, in dem pausenlos über die NS-Vergangenheit Deutschlands sinniert und jede ältere deutsche Person vom Erzähler pauschal verdächtigt wird, ein »Nazi« zu sein. Dieser »Hass auf Deutsche« fiel zuletzt auch der israelischen Zeitung Haaretz auf, die im Januar aus Anlass einer hebräischen Übersetzung des Romans ein erstaunlich wohlwollendes Interview-Porträt über Kracht publizierte.
Auch »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« ist zunächst einmal ein Roman, der sich in seiner Zukunftsphantasie des 100jährigen Krieges zwischen einer antirassistischen und kommunistischen Schweizer Sowjetrepublik (SSR) und dem faschistische Deutschland über weite Strecken so liest, als sei er am Reißbrett eines hippen Postcolonial-Studies-Seminars entstanden. Wenn man von den Whiteness Studies einmal die Beobachtung mitgenommen hat, dass in den literarischen Texten der westlichen Welt schwarze Figuren in der Regel immer gleich als solche markiert werden, während man weiße Figuren immer daran erkennt, dass sie gar nicht weiter charakterisiert werden müssen – dann wirkt Krachts Strategie, seinen afrikanischen Protagonisten erst nach und nach durch die abfälligen Bemerkungen der ihm begegnenden rassistischen Figuren überhaupt als Schwarzen erkennbar zu machen, zunächst einmal überraschend.
Doch es verwundert, dass keiner der Autoren des Sammelbands das regressive Ende des Romans kritisiert, in dem die Rückkehr zu den Ursprüngen des »schwarzen Kontinents« die antirassistischen Militärgesetze der SSR endgültig lächerlich erscheinen lässt. Und vor allem scheint niemanden, auch nicht im Feuilleton, ein handfestes Motiv des literarischen Antisemitismus aufgefallen zu sein, das den Roman letztlich ungebrochen durchzieht: Der Gegenspieler des Protagonisten, der jüdische und aus Polen stammende Oberst Brazhinsky, entpuppt sich am Ende als dekadenter Konterrevolutionär, der die Strippen einer sinistren Verschwörung zu ziehen scheint. Während der Protagonist bei seinem Marsch zur Schweizer Alpenfestung des Réduits antisemitische Bemerkungen anderer immer sofort sanktioniert, muss er an seinem Ziel feststellen, dass Brazhinsky tatsächlich »wahnsinnig« und böse ist, als dieser ihn umzubringen versucht.
Damit nicht genug: Brazhinsky scheint ein mehrfacher Mörder zu sein, der, um seine Spuren zu verwischen, eine antisemitische Attacke auf seine Gemischtwarenhandlung in Neu-Bern, bei der ein Fenster des Ladens eingeschlagen wurde und jemand mit Schweineblut auf Polnisch »Jude stirb« an die Türe schmierte, kurzerhand selbst inszenierte. Kracht baut damit die Verschwörungstheorie der Holocaust-Leugner in seinen Roman ein, die Juden hätten sich die Shoah bloß selbst ausgedacht, um daraus Vorteile für sich zu ziehen.
Solche verstörenden Textbefunde sind mit dem Hinweis, Kracht sei ein großer Stilist, Humorist und Satiriker, nicht so einfach wegzu­diskutieren. Sein letzter Roman spitzt zu, was auch in seinen vorherigen Büchern seit »Faserland« schon provozierte – eine geradezu manische Fixierung auf Propaganda-Motive aus der Zeit des Nationalsozialismus, deren herausfordernde Affirmation man kritischer in den Blick nehmen sollte. Die bemühten Witzeleien über das maoistische Arbeitslager, in das sich der deutsche Protagonist aus »1979« am Ende deportiert sieht, sind ja letztlich ebenso leicht als notdürftige Transpositionen einer simplen Täter-Opfer-Umkehr in eine chinesisch-kommunistische Welt erkennbar. Ironie hin oder her: Zynische Imaginationen einer solchen »asiatischen Tat« (Ernst Nolte), durch die ausgerechnet ein deutscher Dandy endlich »zu sich selbst findet«, indem er lernt, sein Überleben durch das heimliche Verspeisen von Maden zu sichern, kann man nach Auschwitz nicht mehr einfach als »amoralischen Ästhetizismus« abhaken. Gerade Germanisten sollten in der Lage sein, diese simple Tatsache zu verstehen.

Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Herausgegeben von Johannes Birgfeld und Claude D. Conter. Kiepen­heuer & Witsch, Köln 2009, 287 S., 19,95 Euro