»Commons«-Debatte in Lateinamerika

Gemeine Güter und gute Gemeinden

Lateinamerika spielt in der linken »Com­mons«-Debatte eine große Rolle. Und das nicht nur, weil sich deutsche Linke dort besonders gut auskennen.

Was wohl die Zapatisten sagen, wenn man ihnen erklärt: »Gemeingüter müssen gestärkt werden, jenseits und in Ergänzung von Markt und Staat«? Hatten die indigenen Rebellen aus dem mexikanischen Südosten ihren Aufstand nicht bewusst an jenem Tag begonnen, an dem das Freihandelsabkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko in Kraft trat? War die Rebellion nicht eine fundamentale Kritik an dem Vertrag, der das zerstörerische Potential marktradikalen Wirtschaftens eindeutig offenbart?
Seit diesem 1. Januar 1994 verteidigen die Zapatisten das von ihnen angeeignete und kollektiv genutzte Land gegen diesen Markt und den mexikanischen Staat. Jeder Versuch, sich mit den »Mächten« zu arrangieren, ist zum Scheitern verurteilt. Das hat einen einfachen Grund: Wenn Indigene auf der Verfügungsgewalt über den von ihnen bewohnten Flecken Erde bestehen und sich gegen die Ausbeutung der dort vorhandenen Rohstoffe wehren, stehen sie gegen Verwertungs­interessen. Und die soll der kapitalistische Staat schließlich garantieren. Zwar gibt es in diesem Verhältnis ständig Aushandlungsprozesse, der grundsätzliche Widerspruch lässt sich jedoch nicht aufheben. Wie also sollen Gemeingüter als »Ergänzung von Markt und Staat« existieren, wie es die den Grünen nahe stehende Heinrich-Böll-Stiftung vorschlägt?

Nicht zufällig spielt Lateinamerika in der »Com­mons«-Debatte eine große Rolle. Viele Bauern und Indigene kämpfen ums Überleben, weil ihnen ihr Recht auf Wasser, Land und Boden verweigert wird. Zwar haben indigene Gemeinden nach dem Abkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation das Recht, über die Nutzung des von ihnen bewohnten Landes mitzuentscheiden. Doch der Vertrag ist oft das Papier nicht wert, auf dem er gedruckt wurde. Der Coca-Cola-Konzern verkauft Wasser aus lateinamerikanischen Quellen, europäische Pharmakonzerne besitzen Patente auf die Verwertung von Pflanzengenen, Bewohner des peruanischen Amazonas kämpfen gegen die Privatisierung ihres Landes, auf dem Konzerne Erdöl fördern wollen.
Gegen diese Verwertung ihrer Lebensgrundlagen setzen Indigene Mexikos, Ecuadors, Boliviens und weiterer Staaten ein anderes Verständnis der Beziehung zwischen Natur und Mensch, das in vielen Aspekten der Idee der »Commons« entspricht. Sie lehnen eine Trennung ihres Bodens in ausbeutbare Ressourcen und Lebensbereiche ab. Sie begreifen sich nach traditionell geprägten Vorstellungen als Teil eines ganzheitlichen Systems, in dem Rohstoffe nicht als Grundlage zur Produktion von Waren gesehen werden, die auf einem anonymen Markt verkauft werden. Daraus leitet sich die Utopie ab, wie Pablo Solón, der UN-Botschafter der indigenen Regierung Boliviens, sie erklärt: »Die Rechte der Menschheit können nur garantiert werden, wenn wir die Rechte der Mutter Erde respektieren.«
Folgerichtig ist der indigene Begriff von »Gemeingütern« wie Land, Wasser oder Luft nicht mit dem kapitalistischen Eigentumsverständnis kompatibel. Religiöse Elemente der vorkapitalistischen Lebensverhältnisse spielen dabei ebenso eine Rolle wie eine rational begründete Kritik am Revolutionsverständnis linker Traditionalisten. »Zu denken, dass ich die Macht übernehme und dann, wenn ich an der Macht bin, alles verändere, ist eine völlige Illusion«, sagt etwa Gustavo Esteva, der im mexikanische Bundesstaat Oaxaca für »neue Gemeinschaftsbereiche« kämpft, die das System partizipativer und repräsentativer Demokratien überwinden sollen.
Längst spielen diese Konzepte auch in anderen sozialen Bewegungen eine Rolle. Auf dem Welt­sozialforum (WSF) fließen indigene Visionen ebenso in die Diskussionen ein wie die Ideen großstädtischer Linksradikaler. Freie Software, Basisradios, die Kämpfe um Boden und Wasser und die Frage gleichberechtigter Assoziation stehen auf der Agenda, die brasilianische Landlosenbewegung MST thematisierte mit ihren Landbesetzungen die kollektive Aneignung. Was bislang als »Kampf gegen Privatisierung« diskutiert wurde, findet seit dem vorigen Jahr als »Commons«-Debatte statt. »Wir müssen kapitalistische Wachstumslogik radikal überwinden und zu einer Umverteilung des Zugangs zu Gemeingütern kommen«, erklärt der venezolanische Soziologe Edgardo Lander auf dem diesjährigen WSF im brasilianischen Porto Alegre. Kritisch zeigten sich Vertreter dieser Positionen nicht nur gegenüber dem reichen Norden. Auch die Linksregierungen geraten ins Visier. »Unter Hugo Chávez ist die Wirtschaft Venezuelas abhänger vom Erdöl als zuvor«, kritisiert Lander. Aber auch im vom indigenen Präsidenten Evo Morales regierten Bolivien muss die Wachstumskritik ökonomischen Kriterien weichen. Die Industrialisierung sei das oberste Ziel, erklärt UN-Botschafter Solón, »damit wir wirtschaftlich unabhängig werden und den Reichtum umverteilen können«.

Dennoch haben mit Bolivien und Ecuador zwei Staaten einen Schritt unternommen, der die indigene Debatte und den Gemeingüterdiskurs zusammenbringt. Sie haben in ihrer Verfassung das »Recht auf gutes Leben« festgeschrieben. »Wir haben die Erfahrungen, die Praxis und das Wissen der indigenen Völker aufgegriffen«, sagte der ecuadorianische Ökonom Alberto Acosta der Jungle World. Daraus habe man einen Vorschlag entwickelt, der in der internationalen Gemeinschaft anschlussfähig sei. »Gut zu leben, heißt schließlich nicht, einen Lebensstil aufrecht zu erhalten, in dem es einigen wenigen gut geht und der Rest sehr schlecht lebt«, meint Acosta, der als Energieminister und Parlamentspräsident maßgeblich an dem Verfassungsentwurf mitgearbeitet hat.
Diesem Konzept folgend hat der Wirtschaftswissenschaftler ein ungewöhnliches Projekt entwickelt: Ecuador verzichtet darauf, im Yasuní-Nationalpark lagerndes Erdöl zu fördern, und erhält von der »internationalen Gemeinschaft« eine Entschädigung. 850 Millionen Barrel des schwarzen Goldes, 20 Prozent des ecuadorianischen Vorkommens, sollen im Boden bleiben. Die Hälfte des Verlustes von 3,5 Milliarden US-Dollar soll von anderen Staaten getragen werden. Der Ökonom spricht von einer »postmateriellen Entwicklungsstrategie«, muss aber zugleich erleben, wie Staatschef Rafael Correa immer mehr zurückweicht, wenn es gilt, das Vorhaben wasserdicht zu machen. Acosta hat sich nicht zuletzt deshalb aus der Regierung verabschiedet. Von der Idee ist er weiterhin überzeugt: »Man schützt die Vielfalt von Pflanzen und Tieren, das Leben einiger dort angesiedelter indigener Völker und erspart der Menschheit die Kosten für die Reduzierung des Kohlendioxids, das durch die Verbrennung des Erdöls entstehen würde.«
Die Yasuní-Initiative steht für einen anderen Umgang mit »Gemeingütern« auf staatlichem Niveau. Zugleich erinnert sie an die Logik des Emissionshandels, bei dem sich Staaten mit Zertifikaten das Recht erkaufen, weiterhin ungestört Kohlendioxid in die Luft zu blasen. Mit einer »Ergänzung von Markt und Staat« hat das wenig zu tun. Die Initiative funktioniert nach marktwirtschaftlichen Kriterien und dank staatlicher Regulierung auf internationaler Ebene.
Der Verzicht auf die Ölförderung wäre für die Amazonas-Bewohner und den Umweltschutz ein Fortschritt. Was aber nutzt es, ecuadorianisches Erdöl, mexikanisches Wasser oder kollektives Wissen unter »Gemeingut« zusammenzufassen, zugleich aber andere Aspekte des Verwertungsprozesses auszublenden? Diese Güter sind existenziell für die Mehrwertproduktion, ebenso wie die Ausbeutung von Arbeitskraft. Sie sind keine Erscheinungen, die sich in Abgrenzung zur Produktionssphäre »naturgegeben« im gesellschaftlichen Raum bewegen. Warum nicht für kollektive Aneignung von Land, digitalem oder öffentlichem Raum kämpfen? Gibt der »Com­mons«-Diskurs nicht zu Unrecht vor, ein richtiges, ein »gutes Leben« im falschen sei möglich?